02. Dezember 2021 13:00

Shitstorm trifft Gelsenkirchener Diskursanstoß wird zum Bumerang

„Ungeimpfte unerwünscht!“

von Sascha Koll

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Die sozialen Medien überschlugen sich vergangene Woche wieder. Der Grund ist ein Foto, das die Fensterfront eines kleinen Möbelhandels in Gelsenkirchen abbildet. Die Schaufenster wurden mit der Aufschrift „Ungeimpfte unerwünscht!“ dekoriert. Ein Ausdruck, der an „Juden unerwünscht“ aus Zeiten des Nationalsozialismus erinnert und für Konsequenzen sorgen sollte. Die Reaktion war ein Shitstorm im Internet, der bis in sein reales Leben zog.

In einem Interview, das der 65-jährige Händler Wilhelm Schleweis dem Youtube-Kanal „Digitaler Chronist“ gab, räumte er ein, dass diese Provokation tatsächlich bewusst gewählt wurde. Er wollte nach eigenen Angaben nicht spalten, sondern provozieren, um ins Gespräch über die aktuelle Situation zu kommen. Schleweis führte an: „Ich wollte was ganz, ganz anderes erreichen und habe einen Riesenfehler gemacht.“ Es gehe ihm um „leben und leben lassen“. Er sei aber auch dafür, dass gewisse Regeln eingehalten werden, wozu die Maske gehöre und mehr nicht.

Doch wie kam es nun dazu, dass er sich einen solchen Schriftzug ins Fenster schreiben ließ? Am Tag zuvor soll er ein Gespräch mit einer befreundeten Krankenpflegerin geführt haben, die auf einer Intensivstation arbeitet. Sie berichtete ihm: „Beide waren infiziert, die Geimpften als auch die Ungeimpften. Wo sind die Wahrheiten, wo gehts hin?“ Schleweis scheint mir an der propagandaartigen Medienberichterstattung zur „Pandemie der Ungeimpften“ zu zweifeln. Am nächsten Morgen beglückte er einen Kindergarten zu Werbezwecken mit einem Weihnachtsbaum. Die Kinder freuten sich und besangen den Baum. In dem Moment stellte er sich die Frage „Was ist eure Zukunft, was hinterlassen wir euch?“ und ist mit einer gemeinsamen Freundin auf den Gedanken gekommen, dass dieses Thema besprochen werden sollte. Sie entschieden sich dazu, mit der Provokation einen Gesprächsanstoß zu geben.

Die Reaktion folgte praktisch unverzüglich. Jemand, dem der Slogan auffiel, fotografierte das Schaufenster und verteilte das Bild über soziale Netzwerke, in denen es schnell die Runde machte. Empörte Kommentare und negative Bewertungen auf Google Maps kamen fast im Minutentakt. Schleweis gab selbst zu Wort, dass er sich mit dem Internet gar nicht auskenne und nur sein Geschäft auf Google Maps bewerbe. Er wusste gar nicht mit dieser Situation umzugehen. Er entfernte den Schriftzug wenige Stunden nach Anbringung wieder von seiner Fensterfront, doch das sprichwörtliche Kind war bereits in den Brunnen gefallen. Unbekannte aufgebrachte Personen hatten bereits einen Nazi-Vergleich und einen Judenstern auf das Fenster geschmiert. Später wurde ihm sogar die Schaufensterscheibe eingeschmissen. Die Wut auf den missverstandenen Schleweis muss groß gewesen sein. Die Polizei wurde eingeschaltet und der Staatsschutz ermittelt, laut WDR auch gegen Schleweis selbst wegen Volksverhetzung.

Inzwischen bereue er seine Aktion, verstehe auch den Shitstorm und ist der Meinung, dass er ihn verdient habe, und er könne die Wut gut nachvollziehen. Es ließ ein Bild veröffentlichen, das ihn mit einem Schild in der Hand vor seinem Geschäft zeigt. „Ich schäme mich“ steht darauf. Er ist um Wiedergutmachung bemüht und gesteht ein: „Ich habe eigentlich das erreicht, was ich wollte, aber eben im Internet, nicht bei mir im Stadtteil.“

Ich persönlich kaufe ihm seine Geschichte, dass er damit nicht die Diskriminierung Ungeimpfter, sondern eine Diskussion anstoßen wollte, ab. Er veröffentlichte noch im Oktober 2017 ein Bild auf seiner Website, das ein Tor mit der Aufschrift „Freiheit aushalten“ statt dem üblichen „Einfahrt freihalten“ zeigt. Möglicherweise handelt es sich bei Wilhelm Schleweis tatsächlich um einen Freiheitskämpfer.

Am Ende lehrt diese Kurzschlusshandlung wieder einmal, dass ein gut gemeinter, wenn auch kontroverser und ein bisschen naiver Gedanke, über Provokation zum Diskurs anstoßen zu können, leicht zum Bumerang werden kann. So sehr die „Gegenseite“ auch mit NS-Vergleichen wie „Endstation Buchenwald“ um sich wirft, sollte man sich selbst fragen, ab wann ein solcher Vergleich angebracht ist und ob er nicht völlig falsch verstanden werden kann.


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