06. Oktober 2022 14:00

Krieg und Frieden Wie positionieren wir uns, ohne uns auf eine Seite zu schlagen?

Ukraine oder Russland?

von Sascha Koll

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Warum ist es für manche Libertäre so schwierig, eine wirklich freiheitliche Position im Russland-Ukraine-Krieg zu beziehen? Ich denke, der Grund liegt darin, dass sich der Konflikt, sobald Staaten darin involviert sind, nicht nur horizontal, sondern auch vertikal und diagonal abspielt. David Dürr hat diese verschiedenen Arten von Konflikten und deren Zusammenspiel in seinem diesjährigen Vortrag „War and Peace – and the Law“ auf der Konferenz der „Property and Freedom Society“ erläutert. Stellen wir uns dazu vier Quadranten vor: links oben Herrscher A, links unten Beherrschte A, rechts oben Herrscher B und rechts unten Beherrschte B.

Horizontale Konflikte

Horizontale Konflikte sind Konflikte zwischen Privatpersonen. Person A stiehlt das Fahrzeug von Person B, oder Person C schlägt den Personen D und F in einem Streit ins Gesicht. Die Aktion ist ein Verbrechen, das an einer oder mehreren Personen verübt wird. Die Reaktion wäre, dieses Verbrechen zu unterbinden oder zu kompensieren. In diesem Konflikt sind Personen mit ihrem Privateigentum (im Fall der Schlägerei mit ihrem Selbsteigentum) involviert. Der Verursacher des Konflikts ist relativ einfach zu ermitteln. Der Fahrzeugbesitzer hat einen Kaufnachweis, der Dieb nicht. Die geschlagenen Personen können offenkundig das Eigentum über ihren Körper durch Verlautbarung nachweisen. Wer in diesen zwei Beispielen Aggressor und wer Opfer ist, sollte sich Ihnen als Leser sofort erschließen, auch ohne ein Gesetzbuch aufzuschlagen.

Vertikale Konflikte

Vertikale Konflikte sind Konflikte zwischen Beherrschten und ihren Herrschern. Herrscher bestehlen und bevormunden ihre Beherrschten. Sie drohen Bestrafung an, wenn der Beherrschte sich nicht so verhält wie vom Herrscher vorgesehen. Sie zwingen auch zum Kriegsdienst und treten das Selbsteigentum der Beherrschten mit Füßen, wie in meinem Beitrag letzte Woche festgestellt. Dieser vertikale Konflikt ist also auch nichts anderes als ein Eigentumskonflikt. Eine andere Person möchte etwas anderes mit Ihrem Körper oder erarbeiteten Wohlstand machen als Sie selbst und bedroht Sie, um eine Kooperation zu erzwingen. Herrscher betrachten die Beherrschten und ihren Besitz als Herrschaftsgegenstand und damit als ihr persönliches Eigentum. Das wird bei den diagonalen Konflikten noch einmal wichtig.

Diagonale Konflikte

Wenn Staaten in einen Konflikt verwickelt sind, kommt es nicht nur zu horizontalen Konflikten zwischen den Staatsoberhäuptern, die sich einfach gegenseitig umbringen und niemand anderen involvieren. Es besteht auch nicht mehr bloß ein vertikaler Konflikt zwischen den Beherrschten und dem eigenen Herrscher, sondern auch ein Konflikt zwischen Beherrschten und dem fremden Herrscher. (Selbst-) Eigentum wird praktisch von allen Seiten angegriffen. Der ursprüngliche Herrscher besteuert das Eigentum und die Arbeit seiner Beherrschten, zwingt sie dazu, fremde Grundstücke unter Einsatz ihres Lebens zu verteidigen, und der angreifende rivalisierende Herrscher zerstört ihr Eigentum womöglich mit nur einem Geschoss oder einer abgeworfenen Bombe vollständig. Das ist der diagonale Konflikt zwischen einem fremden Herrscher und den Menschen, die ihm ursprünglich nicht unterworfen waren. Da beide Herrscher Eigentum nicht respektieren, die Menschen auf dem von ihnen beanspruchten Gebiet sogar als ihr Eigentum betrachten, und sogar der Aggressor Land und Leben der angegriffenen Bevölkerung als Eigentum des rivalisierenden Herrschers ansieht, fällt es dem Aggressor leichter, seinen Angriff zu rechtfertigen. Stellen Sie sich nur mal vor, Putin würde ganz ohne Krieg auf das Grundstück eines Ukrainers gehen und die dort lebenden Menschen erschießen. Nur durch Autoritätsglaube und willige Befehlsausführer, die gleichermaßen dem Etatismus anhängen, lässt sich so etwas scheinbar rechtfertigen. Es findet eine Kollektivierung statt. Der ukrainische Bauer ist nicht mehr bloß ein Bauer, der seine Umgebung mit Nahrung versorgt, sondern er gehört dem Feind-Kollektiv an. Weil er das Pech hat, von Selenskyj beherrscht zu werden, und Putin mit Selenskyj in Konflikt geraten ist, entsteht ein Konflikt zwischen einem russischen Soldaten und dem ukrainischen Bauern.

Russland oder Ukraine?

Wer sollte aus libertärer Sicht in Schutz genommen werden? Auf wessen Seite sollte man sich nun schlagen? Sollte man eher der Ukraine die Stange halten, da sie zweifelsohne von Russland überfallen wurde? Oder sollte man die Russen verteidigen, da sie sich durch die Ukraine bedroht gefühlt haben oder die Ukraine die Sezession des östlichen Gebiets nicht erlaubt hat?

Ich denke, dass keine der beiden Seiten zu unterstützen ist. Unterstützte man Putin, der doch nur seine Landsleute in der Ostukraine befreien und die Ukraine entnazifizieren will, machte man sich mit einem Aggressor gemein. Unterstützte man Selenskyj, sollte man sich vor Augen halten, dass es sich bei ihm um einen Herrscher und damit auch um einen Aggressor handelt, der große Teile seiner Beherrschten unterdrückt, beraubt und ihnen vorschreiben will, wie sie zu leben haben.

Wenn wir uns die vier Quadranten noch einmal vor das innere Auge führen möchten, habe ich häufig über das Leid der unteren beiden Quadranten, die Beherrschten, geschrieben. Sie werden in einen Konflikt gezerrt, den sie nicht verursacht haben und zahlen für die Konflikte machtbesessener Arschlöcher. In den meisten Debatten wird immer nur die Frage gestellt, welches Arschloch im Recht sei. Ich sage: keines der beiden. Beide haben maßgeblich zur Eskalation der Situation beigetragen. Beide unterdrücken „ihre“ Bevölkerung. Ich maße mir nicht an, zu entscheiden, welcher Herrscher als Gewinner aus dem Konflikt hervortreten sollte, wenn die Beherrschten allesamt die Verlierer sind. Ich nehme mir aber heraus, zu betonen, dass es solch einen Konflikt ohne Herrscher, die ihre Bevölkerung in einem Schwanzvergleich brutalsten Ausmaßes vor dem Altar des heiligen Etatismus opfern, gar nicht gäbe. Die vertikalen und diagonalen Konflikte sind vermeidbar. Und es sollte unser Ziel sein, den Menschen zu erklären, dass ihr Autoritätsglaube das Problem ist.

Was ist daraus zu lernen?

Dass Staaten die größten Feinde von Eigentum und Wohlstand sind, ist nichts Neues. Auch die Tatsache, dass Eigentum und Wohlstand den Herrschern praktisch vollständig gleichgültig sind, wenn Staaten, genauer gesagt ihre Oberhäupter, miteinander in Konflikt geraten, sollte die Geschichte häufig genug unter Beweis gestellt haben. Den Menschen muss bewusst werden, dass sich die natürlich vorkommenden und auch nicht vollständig vermeidbaren horizontalen Konflikte wesentlich einfacher auflösen lassen als vertikale und diagonale Konflikte. Ironischerweise werden durch Gesetzgebung und Staatsglaube undurchschaubare und schwer zu lösende vertikale und diagonale Konflikte erzeugt, um horizontale Konflikte zu vermeiden. Die Angst vor möglichen Konflikten zwischen Individuen wird also gegen todsichere Konflikte zwischen Herrschern und Beherrschten eingetauscht. Das nenne ich sarkastisch einen richtig guten Deal. Wenn Menschen Konflikte vermeiden wollen, sollten sie aufhören, die Verursacher zu bezahlen, zu huldigen wie Götter und ihre Fratzen auf Magazin-Cover zu drucken. Wir sollten uns dazu durchringen, diese Leute zu verachten für das, was sie tun. Kollektiv, wie sie es mit uns machen. Zwischenmenschliche horizontale Konflikte sind unvermeidbar. Doch wir brauchen nicht zusätzlich noch Berufskriminelle, die vertikale und diagonale Konflikte schüren. Ich will nicht mehr hören, dass wir uns doch für den netteren Sklaventreiber einsetzen sollten, sondern müssen die Sklaverei selbst ablehnen und verachten. Ich positioniere mich für jeden Russen und jeden Ukrainer, der das Pech hat, von einem der beiden Arschlöcher beherrscht zu werden, und einfach nur in Ruhe gelassen werden will.


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