09. Februar 2023 10:15

Zeitgeschehen Eine Zeit des Liebens

Wann, wenn nicht jetzt?

von Monika Hausammann (Pausiert)

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Seit ich im vergangenen Herbst zum ersten Mal die titelgebenden Worte von Jens Spahns Buch „Wir werden einander viel verziehen müssen“ las, baute sich in mir eine Spannung auf. Mal stärker, mal schwächer, aber nie so, dass ich sie ganz ignorieren konnte, war ihr ungutes Lichtern und Flackern stets am äußersten Rand alles Denkens und Wähnens präsent. Meine erste Reaktion damals, als ich die Worte las, war jener von Bandenboss Paul Vitti, gespielt von Robert de Niro im Film „Analyze This“ zu vergleichen. Der Mafiapate hatte in seiner Funktion als Autoverkäufer – eine Bewährungs- und Integrationsmaßnahme des Amts – gerade sein Bestes gegeben, um einem Ehepaar einen teuren Wagen zu verkaufen („Sehen Sie sich den Kofferraum an – da haben locker drei Leichen Platz!“), als ihm die beiden beschieden, sie müssten sich die Sache noch überlegen. So wie sein fassungsloses Echo „Überlegen?“ klang, muss auch mein „Verzeihen?“ geklungen haben.

Ich soll verzeihen? Es gut sein lassen und weitermachen, weil das Leben ja nun mal weitergehen müsse und die Sache vorbei sei? Ich soll den größten denkbaren Verrat von Politikern und ihren „Experten“, von Nachbarn und Bekannten und Freunden verzeihen? Verzeihen, dass man mich mit hanebüchenen Gründen zum Mörder und Gefährder gestempelt hat, mich maximal zu ächten, aus der Gesellschaft auszuschließen und wegzusperren bereit war? Mitten in dem anderen Verrat, der sich, in die Mär vom menschengemachten Klimawandel gekleidet und eine kaum vorstellbare Zerstörung der Natur rechtfertigend, als nichts anderes als ein gigantischer Enteignungs- und Umverteilungsmechanismus von unten nach oben erkennen lässt? Und dann, ich hatte noch gar nicht aufgehört, hysterisch zu lachen und mir vorzubeten, mehr als den Verzicht auf Rache könne man von mir nicht verlangen, da ging die Sache in der Ukraine los. Ein weiteres gargantueskes Monument von Lüge und Verrat, von Tod und Zerstörung, das bejubelt wird. Was ist damit? Soll ich irgendwann dann, wenn Europa desindustrialisiert, verarmt, politisch abhängig und ein weiteres Mal in ein Aufmarschgebiet verwandelt ist, wieder verzeihen? All jenen, die bereit sind, für geopolitische Macht alles zu zerstören, und all jenen, die der politischen Erzählung Glauben schenken und mich heute als KGB-Troll und Putin-Lutscher bezeichnen?

Zum ersten Mal seit Kindestagen – ich war ein explosiver kleiner Mensch – trat der Fall ein, dass ich nicht wusste, „wohin“ mit meinem Zorn. Wie soll einer verzeihen und vergeben, wo jede Faser Zorn ist? Mehr noch: wo der Zorn größer wird als er selber. Wo jedes Nachdenken, jede Stille, jeder müßige Moment eine unfassbare Spannung enthält und zu ohnmächtiger Warterei wird? Wenn alles rundum heuchlerischer Frieden zu sein scheint, während im Innern die Bereitschaft zu Häme und Hass vom äußersten Rand, wo sie bisher irrlichterte, in eine gefährliche Mitte hineinwächst? Und wo dem allem bloß noch mehr Hohn und noch mehr Spott in Worten und Taten von Politikern gegenüberstehen? Mir war, als könne ich das keine Sekunde länger ertragen und – täte ich es doch – früher oder später das Weltall meines kleinen Lebens bersten müsste. Das Recht auf Eigentum, Gesetze, Verfassungen, Wirklichkeit und Wahrheit – kann alles weg. Es lebe das Narrativ!

Dann stellte ich fest, dass die Spannung nicht im Zorn begründet lag, sondern in einer Zerrissenheit– in der Zerrissenheit zwischen dem, was Gott, Gewissen und nicht zuletzt die Vernunft als Christ und Mensch von mir fordern – Vergebung –, und dem, was ich tatsächlich dachte und erlebte und wollte. Gott und Gewissen nicht aus dem Gebot und den Forderungen eines moralischen Imperativs heraus, sondern aus der Glaubenswahrheit, dass nichts, was ich selber denke und tue, nicht auch jederzeit und unendlich vergebungsbedürftig ist und mir selber unermüdlich und großartig vergeben wird – nicht zuletzt die Unfähigkeit, zu vergeben. Die Vernunft aber, weil ich weiß, dass ich mir mit all dem Zorn den Verrat und die Schuld anderer selber auflade und damit meinem Gemüt das Urteil eines langsamen Erstickens unter Groll, Hass, Ohnmacht und Bitterkeit spreche.

Wie aber zur Vergebung kommen, die nicht selber das Heuchlerische enthält und zu noch schlimmerem Pharisäertum führt als jenes, das ich anderen anlaste? Wie also, das ist im Grunde die Frage, zur Feindesliebe hindurchfinden? Denn das sind sie doch, die mich ächten wollen, die mich beschimpfen, beleidigen, mir mein Eigentum wegnehmen oder mich aus der Gesellschaft ausschließen wollen – Feinde und keine Freunde.

In diesem Ringen fiel mir ein Satz aus dem großartigen Buch Stephan Felbers, „Kein König außer dem Kaiser – Warum Kirche und Staat durch Zivilreligion ihr Wesen verfehlen“, ein: Gott hasst die Sünde; nie den Sünder, lautet er. Das war wie ein Befreiungsschlag. Weil es die Tat vom Menschen abbricht – wie wir es auch gespiegelt in unserer Rechtsprechung finden, die ihr Urteil über Taten spricht und nicht über den Menschen an sich. Plötzlich hatte ich es nicht mehr mit einem Untrennbar-ineinander-Verzahnten zu tun, sondern mit einem Auseinander-Gebrochenen und mit zwei klar trennbaren und für sich stehenden Größen: den Menschen auf der einen Seite, ihren Taten auf der anderen.

Wenn ich den Menschen betrachte und sein Tun außen vorlasse – nicht in einem dümmlichen Verleugnen der Wirklichkeit, sondern schlicht, indem ich ihn aus seinen Taten und Worten gleichsam herausschäle, dann bleiben und erstehen mir zugleich die Worte Pilatus aus Johannes 19, 4-6: „Siehe, der Mensch“. Mehr ist dann nicht mehr da – als eben ein Mensch. Ein Mensch wie ich. Aller Zorn fällt dabei in sich zusammen. Diese Worte stellen mir einen Bruder vor Augen. Und damit unsere „Verwandtschaft“: Denn der Verrat, die Lüge, der Machtmissbrauch, die Anmaßung, derer er sich schuldig gemacht hat, liegen als stets lauernde Möglichkeiten auch in mir. Weil ich auch ein Mensch bin – ein Mensch wie er: nach biblischem Verständnis gefallen in einer gefallenen Welt. Und ob einer es nun Schicksal oder wie ich als Christ Führung nennt: Es ist zum allergrößten Teil nicht mein eigenes Verdienst (Geburtsort, Epoche, soziales Umfeld, Talente, Stärken, Schwächen und so weiter), dass ich hier stehe und nicht dort, wo er steht. Dass heute nicht ich es bin, die ihn verrät, betrügt, verleumdet, missbraucht und verurteilt. Dieses Wissen um die eigenen Flecken und Schlacken, um den „Hitler in mir“ (Max Picard) und um die eigene Vergebungsbedürftigkeit, die der Grund dafür ist, dass ich bisher frei und fröhlich in dieser Welt der Schuld und des Todes stehen und wirken konnte und dies auch heute kann, nimmt jedem Hass den Wind aus den Segeln.

Der Urgrund, auf dem dieses Geschehen ruht – ist Liebe. Die Liebe Gottes. „Seht, welch eine Liebe …!“ (1. Johannes 3) Wo einer das glaubt, wo einer den Status des Menschen als unendlich Geliebter versteht und wo einer das Wagnis des Sich-lieben-Lassen persönlich eingeht, der wird als ganzer Mensch in eine Art Bewegung hineingezogen – in eine Bewegung fernab jeglichen Befehlscharakters durch die Tatsache, dass in dem Geber des Gebots der Feindesliebe – Jesus Christus – seine eigene Vergebung faktisch da und Ereignis geworden ist. Und er versteht, dass sich daraus unumgänglich praktische Folgen für ihn gegenüber seinem Feind ergeben.

Die Frage, die sich mir jetzt stellte, ist nicht mehr jene nach dem Wie des Verzeihens, sondern die folgende: Gab es je zu meinen Lebezeiten einen besseren Zeitpunkt, mich in diese Bewegung nicht nur hineinziehen zu lassen, sondern mich in sie hineinzuwerfen? Besser als mitten in dem, was ich als die große Verkehrung und die Herrschaft der Lüge empfinde und erlebe? Wann, frage ich mich, soll ich denn mit dem Lieben anfangen, wenn nicht jetzt, wo die Feinde der Freiheit und damit die Feinde Gottes und des Menschen immer offener, ungehemmter und unverhohlener auftreten? Bisher war in meinem Leben fast alles Gabe – wie einfach ist es da, zu lieben! –, jetzt wird es zur Aufgabe. Zur Aufgabe, die ich nur meistern kann, wenn ich alle geistige und physische Kraft aufzubieten vermag, über die ich verfüge, und nicht gelähmt und erstickt im eisernen Ring von Rachegelüsten und Hass verharre.

Auf der anderen Seite stehen die Taten des Menschen. Sie darf ich beurteilen und verurteilen. Ihnen darf ich mit allem, was mir zur Verfügung steht, gewappnet entgegentreten. Mehr noch: Gott ruft mich nicht zur Weltflucht auf, zu stiller Resignation und innerer Emigration – sondern zur verantwortlichen Tat. Mutig und auch hier fröhlich im Wissen, dass, sollte ich in diesem Tun zum Schuldigen werden – und wann werde ich es nicht?! –, mir vergeben wird. So und nur so lebe ich schon heute in heiliger Sorg- und Furchtlosigkeit ein ewiges Leben und kann von Herzen verzeihen.

Jetzt ist es eine ganz andere Spannung, die sich meiner Tage bemächtigt, nicht länger eine ungut lichternde, keine, die bersten will und mir die Sinne rauben, sondern eine, die nur weniger Worte bedarf: Herr, hilf dazu.


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