17. Februar 2023 07:00

Geschichte der Freiheit Der Freiheit eine neue Gasse!

Lehren aus den Niederlagen des klassischen Anarchismus

von Stefan Blankertz

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Vor 100 Jahren begann die Serie der Niederlage des Gedankens, dass Menschen ihr Leben ohne Staatsgewalt selber meistern können. In dem Gebiet der heutigen Ostukraine besiegte Leo Trotzki mit der Roten Armee die anarchistischen Bauernrebellen um ihren charismatischen Anführer Nestor Machno.

Dass die bolschewistischen (kommunistischen) Marxisten siegen würden, war genauso wenig selbstverständlich, wie die Aussage zutrifft, dass der Anarchismus in Europa eine Bewegung am Rande darstellte. Vor 1917, vor dem Putsch der Marxisten um Lenin, der noch heute Oktoberrevolution heißt, gab es einen nennenswerten Einfluss des Marxismus nur in Deutschland; und hier ging der Einfluss auf die reformistische Sozialdemokratie, nicht auf eine revolutionäre Bewegung zurück. Erst nach 1917 behaupteten die Marxisten, den Hauptstrom des revolutionären Weltgeistes zu vertreten und wurden auch von den konservativen Bewahrern des Bestehenden als einzig ernst zu nehmende Gegner anerkannt.

In der Kolumne der letzten Woche habe ich skizziert, dass die deutschen Anarchisten Gustav Landauer und Martin Buber sich von dem autoritären und brutalen Gebaren der Kommunisten angeekelt aus dem Revolutionsversuch nach dem Zusammenbruch des Deutschen Kaiserreichs 1919 zurückzogen. In Deutschland freilich hatte es tatsächlich keine starke anarchistische Bewegung gegeben. Ganz anders sah es in den romanischen Ländern aus.

1923 wurde in Italien Mussolini die Macht übergeben. Mussolini hatte mit dem Faschismus das rhetorische und organisatorische Kunststück fertiggebracht, die konservativen bürgerlichen Kräfte des Bewahrens mit dem revolutionären Wunsch nach völligem Umsturz der bestehenden Verhältnisse zu verknüpfen. Die revolutionäre Gefahr in Italien ging niemals von den Marxisten aus, die hier fast keine Rolle spielten, auch nach 1917 nicht. Der bekannteste italienische Anarchist war Errico Malatesta, zu dem Zeitpunkt schon 70 Jahre alt. In Reaktion auf die Erfahrung der Russischen Revolution sagte er, wenn es, um zu siegen, notwendig sei, Erschießungskommandos über das Land zu schicken, würde er die Niederlage vorziehen. Und so kam es auch. Die Faschisten waren nicht zimperlicher in ihren Methoden der Unterdrückung als die Bolschewisten.

Als letzte Station der Serie von Niederlagen des klassischen europäischen Anarchismus reihte sich Spanien ein. Spanien war sicherlich das europäische Land, in dem die Anarchisten den größten Einfluss ausübten. Nach dem Putsch von General Franco im Jahr 1936 spielten die Anarchisten eine tragende Rolle im Widerstand. In den beiden Regionen, in denen sie am stärksten waren – Andalusien und Katalonien –, entstanden die großflächigen Versuche, ein Leben und Wirtschaften ohne Staat zu organisieren; für die staatsverliebte Neuzeit war das die große Ausnahme. Anarchisten und sozialdemokratische Republikaner arrangierten sich im Abwehrkampf gegen Franco leidlich. Die anfangs völlig unbedeutenden Kommunisten jedoch waren die einzigen Kräfte auf der Seite gegen Franco, die Waffenlieferungen erhielten, nämlich von Stalin. Sie erlangten dadurch eine immer größere militärische Bedeutung. Auf Geheiß von Stalin beschäftigten sie sich vor allem damit, Anarchisten und Trotzkisten zu schwächen. Denn Stalin war es allemal lieber, dass in Spanien die Faschisten siegen als Anarchisten oder sein spezieller Albtraum, die Trotzkisten. Die westlichen Demokratien verhielten sich neutral. Es gab freilich sogenannte „Internationale Brigaden“ mit Freiwilligen, die je nach der politischen Orientierung der Freiwilligen auf der Seite der Republik, der Anarchisten, der Trotzkisten oder der Stalinisten kämpften.

Auf der Seite Francos dagegen griffen Italien und Deutschland massiv ein, nachdem sich anfänglich abzeichnete, dass Francos Truppen unterliegen könnten. Göring erprobte den Luftkrieg mit der sogenannten Legion Condor. Die Vernichtung der kleinen, strategisch bedeutungslosen baskischen Stadt Guernica am 26. April 1937 ist durch das gleichnamige Bild Picassos bis heute in Erinnerung. Militärisch entscheidender wird das Eingreifen Italiens gewesen sein. Italien schickte nicht nur Waffen in viel größerem Ausmaß als Stalin auf der anderen Seite, sondern auch große Kontingente an Bodentruppen, sodass heutige Militärhistoriker teils von einer Invasion Italiens in Spanien sprechen.

Mit der Niederlage des republikanischen und anarchistischen Widerstands gegen Franco 1939 endete der klassische europäische Anarchismus: Er ging unter in dem Gemetzel der Staatsgewalt, welche Farbe und Form sie auch immer annahm. Der folgende Zweite Weltkrieg erledigte den Rest. Was danach fortbestand oder neu entstand, hatte mit dem klassischen Anarchismus kaum mehr als den Namen gemeinsam. Auf einmal sollte der Anarchismus nur noch eine besonders radikale und militante Variante des Kommunismus sein. Das war es nicht, wofür die klassischen Anarchisten ursprünglich standen.

Aber der Funken der Freiheitsidee, dass die Menschen in der Lage sind, ihr Leben ohne Staatsgewalt zu meistern, lebt fort. Niederlagen sind dazu da, aus ihnen zu lernen. Meine Lehre, die ich ziehe: Die Vorstellung, mit (Staats-) Kommunisten und (Staats-) Sozialisten gemeinsame Sache machen zu können, hat sich spätestens während der frühen 1920er Jahre in der Ukraine als Illusion herausgestellt. Der Antikapitalismus der klassischen Anarchisten machte sie für diese (un-) praktische Vorstellung einer Koalition mit linken Etatisten anfällig. Und theoretisch beraubte der Antikapitalismus den Anarchismus um das wichtigste Argument für die Freiheit – und zwar dass die Freiheit auch ökonomisch gesehen das beste Organisationsprinzip der Gesellschaft sei.


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