08. März 2023

Was ist Sozialismus? „Der Todestrieb in der Geschichte“

Ziel ist der „neue“ Mensch – als Gegenstück zum Individuum mit seinem göttlichen Willen

von Markus Krall

Ganze Bibliotheken können gefüllt werden mit Büchern über den Sozialismus, und egal, wie lange man sich mit ihm beschäftigt, entdeckt man immer neue Facetten und Aspekte dieser Ideologie, die im 19., 20. und auch im beginnenden 21. Jahrhundert die Geschicke der Menschheit und vieler Völker auf dramatische Weise beeinflusste. Wenn wir Sozialismus hören, denken wir in erster Linie an die gescheiterte Sowjetunion, deren Staatsplanwirtschaft sich dem (damals noch halbwegs freien) Marktsystem des Westens als vollkommen unterlegen erwies. Dieser Zusammenhang ist richtig, aber er zeigt nur einen winzigen Ausschnitt dessen, was Sozialismus eigentlich ist.

Um das zu verstehen, müssen wir die Merkmale des Sozialismus studieren, die für seine in der Geschichte immer wiederkehrende Realisierung konstitutiv sind. Wer das tut, wird auf den Spuren Igor Schafarewitschs schnell feststellen, dass der Sozialismus sehr viel älter ist als der Begriff Sozialismus, mit dem wir die von ihm geforderte Gesellschaftsform beschreiben. Der Sozialismus definiert sich – entgegen dem Bild, das er von sich selbst vermittelt – außerdem nicht primär durch ein Zielbild der Gesellschaft. Dieses Zielbild bleibt im Ungefähren, Verschwommenen, einer Fata Morgana gleich, die lediglich dem Zweck dient, die paradiesischen Phantasien der Menschen anzuregen und sie so dazu zu motivieren, einer nicht existenten Schimäre nachzulaufen.

Marx beschrieb sein Utopia in blumigen Worten: „In der kommunistischen Gesellschaft, wo jeder nicht einen ausschließlichen Kreis der Tätigkeit hat, sondern sich in jedem beliebigen Zweige ausbilden kann, die Gesellschaft die allgemeine Produktion regelt und mir eben dadurch möglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden.“

Das Faszinierende an dieser Beschreibung ist, dass er die freie Wahl, zu tun, was man möchte, die in der freien Marktwirtschaft ohnehin schon existiert, erst einmal zugunsten einer Zwangs- und Planwirtschaft abschaffen möchte, um dann die Ausübung jeder beliebigen Tätigkeit als Endziel in mythischer Zukunft zu verkünden. Indem er formulierte, dass man sich dies nach Lust und Laune aussuchen könne, nahm er in gewisser Weise den Zustand vorweg, den die Grünen heute in Deutschland beschritten haben – dass man für nichts eine Ausbildung brauche. Das Problem der Produktion von Gütern löst sich auf nie erklärte und geheimnisvolle Weise wie von Zauberhand im Hintergrund. Marx hat also die unsichtbare Hand des Marktes durch die Zauberhand von Hogwash ersetzt. Die Güter fallen vom marxistischen Himmel, ausgeschenkt aus dem Füllhorn des allweisen alten Mannes mit dem Rauschebart hinter den Wolken.

In diesem verschwommenen Bilde werden wir also kaum fündig bei der Suche nach einer Antwort auf die Frage: „Was ist Sozialismus?“ Näher kommen wir der Sache schon eher, wenn wir im Lexikon der Geschichte unter dem Begriff „Sozialismus, real existierender“ nachschlagen. Diese Suche führt uns in eine Gesellschaftsform, die im 20. Jahrhundert fast die halbe Menschheit beherrscht hat und deren Erben noch heute das mit China bevölkerungsreichste Land der Erde regieren, wo allerdings der „real existierende Sozialismus“ durch eine real existierende Technotyrannei abgelöst wurde. Beide haben aber alle wesentlichen Strukturmerkmale gemeinsam, die den Sozialismus definieren, wie wir gleich noch herausfinden werden.

Der real existierende Sozialismus erwies sich als komplette Dystopie mit Diktatur, Verfolgung, Gulag, Abschaffung der Menschenrechte und des Rechtsstaates, Willkür, Korruption, Umweltzerstörung, Kasernierung und Militarismus, orwellscher Sprachzerstörung, einer neuen Feudalklasse mit dem Titel Nomenklatura, Verarmung, Hunger, Mauer, Stacheldraht und Verzweiflung. Seit er kollabierte, erzählt man uns, „das war kein richtiger Sozialismus“, und die grünen Weltuntergangspropheten haben ihn schon so weit verklärt, dass sie uns neuerdings darlegen, warum wir ihn brauchen, um den Planeten bewohnbar zu halten, gerade so, als hätte es Tschernobyl, den Silbersee bei Bitterfeld (ein metallisch schimmerndes Endlager giftiger Chemikalien unter freiem Himmel in der DDR) und den allgegenwärtigen Gestank von ungefiltert verbrannter Braunkohle und Zweitaktmotoren ohne Katalysator nie gegeben.

Aber auch hier werden wir nicht fündig bei einer kohärenten Theorie, die den Sozialismus als historisches, gesellschaftliches, psychologisches und spirituelles Phänomen beschreibt. Was wir suchen, ist gewissermaßen das Gegenstück zur „Theorie von allem“ in der Physik, die Beschreibung, die uns alle Facetten des Phänomens begreiflich macht und die uns auch erklärt, warum trotz des krachenden, blutigen, ja genozidalen und massenmörderischen Scheiterns dieser Idee immer neue Länder und Generationen auf die Verführung und Verheißung des marxschen Paradiesgartens hereinfallen.

Eine solche Erklärung können wir auf den Spuren von Igor Schafarewitsch finden, indem wir den Blick historisch erweitern und auch solche geschichtlichen Episoden analysieren, die zwar nicht dem Namen, aber der Sache nach sozialistische Gesellschaftsexperimente waren. Schafarewitsch hat genau das getan und das Ergebnis dieser Analyse in seinem bahnbrechenden Werk „Der Todestrieb in der Geschichte – Erscheinungsformen des Sozialismus“ niedergeschrieben.

Der erste Schritt zum Verständnis des Sozialismus beruht auf der Einsicht, dass er eigentlich gar kein gesellschaftliches Zielbild hat. Er liefert kein Abbild, sondern ein Photonegativ. Der Sozialismus definiert sich als Antithese, er konstituiert sich aus der Liste der Dinge, die er bekämpft, nicht aus solchen, die er erschafft. Er ist das fundamentale Prinzip der Verneinung, der Ablehnung, der Feindschaft und der Zerstörung. Er richtet sich gegen die Institutionen, die sich in der gesellschaftlichen Evolution der Menschheit als tragende Säulen einer funktionierenden und prosperierenden menschlichen Zivilisation herausgebildet haben.

Sein Hass auf diese Institutionen speist sich aus dem Versagen von Individuen, die die Schuld für ihr Versagen bei anderen suchen, idealerweise bei den „gesellschaftlichen Verhältnissen“, und die dann diesen Hass auf die sie tragenden institutionellen Regelwerke übertragen.

Diese Institutionen sind die Individualität, das Eigentum, die Familie, die Religion und Kunst und Kultur. Indem er all diese Elemente angreift und bekämpft, offenbart sich der Sozialismus als antizivilisatorisch. Wir können in der gesamten Geschichte der Menschheit, angefangen beim Auftreten der ersten Zivilisationen am Ende der Steinzeit über die Antike, das Mittelalter bis hin in die Neuzeit, beobachten, dass es Gesellschaftsexperimente gab, die auf der Feindschaft gegen mehrere oder alle diese fünf Säulen beruhten. Ihre historischen Fackelträger hatten unterschiedliche Namen und Bezeichnungen, und der Sozialismus war im 20. Jahrhundert nur die vorläufig letzte Mimikry, in die dieses Phänomen gemorpht ist.

Die meisten dieser Versuche erhoben zugleich einen religiösen Anspruch auf den alleinigen Besitz der Wahrheit. In vorchristlicher Zeit haben sich totalitäre staatliche Machtansprüche in etlichen Kulturen herausgebildet, von China bis Ägypten. Die Staatsphilosophie der Qin, des ersten Kaiserreichs Chinas, basierte zum Beispiel auf dem Primat des Staates über das Individuum. Alle Güter der Welt waren per definitionem des Kaisers, individuelle Eigentumsrechte konnten nur solche sein, die vom Herrscher nach Gutdünken und Gnade auf Zeit an Günstlinge verliehen wurden. Die das Individuum und seine Rechte achtende Religionsphilosophie des Konfuzianismus wurde verfolgt.

Vom ersten nachchristlichen Jahrhundert bis in die Renaissance waren christlichen Ketzersekten die Fackelträger der sozialistischen Ideen, die bereits der Heilige Irenäus von Lyon in seinem Buch „Wider die gnostischen Irrlehren“ im zweiten Jahrhundert beschrieben hat. Die Gnostiker bekämpften das Privateigentum, die Institution der Ehe und propagierten sozialistische Formen des Wirtschaftens, etliche ihrer vielen historischen Verzweigungen waren Bilderstürmer, bekämpften Malerei und Musik und verfolgten Christen, wenn ihnen die Machtmittel dafür zufielen.

In den Jahren 1534 bis 1535 übernahm eine dieser Ketzersekten die Stadt Münster in Westfalen und führte dort ein Terrorregime ein, das auf Enteignung, der Abschaffung der Ehe und die Erklärung der Frauen zum „Gemeinschaftseigentum“ (der Männer) basierte. Die Zahl der Selbstmorde vergewaltigter Frauen explodierte. Die umliegenden Fürstentümer ließen das erstaunlicherweise mehrere Jahre gewähren, bevor sie dieser frühen Sowjetdiktatur militärisch den Garaus machten und die Rädelsführer der Inquisition überstellten, die dann kurzen Prozess machte.

Von den Ketzersekten übernahmen dann im 18. Jahrhundert die Jakobiner in Frankreich die sozialistische Fackel. Ihre Schreckensherrschaft machte erstmals in der Neuzeit die völkermörderische Qualität des Phänomens Sozialismus deutlich. Die widerspenstige Vendée in Westfrankreich wurde von ihren Truppen praktisch entvölkert, Männer, Frauen und Kinder zu Zehntausenden im Namen der Revolution ermordet. Die Guillotine und der Terror wurden durch ihren Anführer Robespierre zum Ausdruck der Tugend und zum notwendigen Ausfluss der Demokratie erklärt. Es überrascht also nicht, dass die Sozialisten, Marxisten und Kommunisten die Jakobiner als Vorläufer und Vorbild ansehen.

Die Frage ist zu stellen, warum es ausgerechnet die genannten fünf Elemente der Zivilisation sind, die durch die zivilisatorische Antithese Sozialismus bekämpft werden. Die Wurzel von allem ist in der Individualität des Menschen zu suchen, also im Menschenbild. Das misanthrope Menschenbild des Sozialismus habe ich bereits in meinem letzten Artikel für Freiheitsfunken („Was ist Transhumanismus?“) thematisiert. Es basiert im Kern auf der Verneinung und Ablehnung des freien Willens. Insofern als der freie Wille das göttliche Geschenk ist, das den Menschen überhaupt ausmacht, ist seine Ablehnung die Manifestation des Diabolischen. Eine Reihe von jüdischen und christlichen Quellen formuliert die Hypothese, dass Luzifer von Gott abgefallen sei, weil er dieses Geschenk an den Menschen ablehnte. Sein ganzes Streben beruhe darauf, ihm zu beweisen, dass dies eine schlechte Idee gewesen sei. Dieser Zusammenhang bildet die Verbindung zwischen gesellschaftlicher Physis und Metaphysis, er offenbart die spirituelle Natur des Sozialismus im Sinne einer anti-göttlichen, antispirituellen Bestrebung. Es kann insofern nicht überraschen, dass sich Karl Marx in seinen Briefen zum Teil völlig offen als Satanist bekennt, als ein Mann in Auflehnung gegen Gott.

Das Ziel des Sozialismus ist daher „der neue Mensch“, der Automat, das Zahnrad in einem Uhrwerk, das unbedeutende Partikel in der Masse. Nicht der Mensch rechtfertigt den Sozialismus, sondern die Masse, auf die sich alle berufen, von Marx über Lenin bis Stalin und Mao. Wie Dimitrios Kisoudis in seinem Vorwort zur deutschen Ausgabe des „Todestriebs“ schrieb gilt: „[der Sozialismus] kann überall und jederzeit auftauchen, wenn der Mensch die Verbindung zu Gott gekappt hat und das Nichts anzubeten beginnt.“

Aus der Bekämpfung des Individuums und seines freien Willens ergibt sich alles andere: Das Eigentum muss bekämpft werden, weil ohne Eigentum ein selbstbestimmtes Leben für das Individuum nicht möglich ist, die Familie und die Ehe stehen im Weg, weil sie dem Individuum Liebe, Sinn und eine übergenerationelle Kontinuität geben, die Religion, insbesondere die christliche, wird verfolgt, weil Sie nach dem Willen Gottes den freien Willen, die Eigentumsrechte und die Werte einer freien und gerechten Zivilisation verteidigt und durch die Generationen trägt. Kunst und Kultur sind Ausdruck der Korrespondenz zwischen Geschöpf und Schöpfer, zeigen ihm die Größe der für ihn gemachten Schöpfung und motivieren das Individuum zu bleibenden Leistungen und wahrer Größe.

Das antispirituell motivierte Negativbild des Sozialismus als Antidot zur Zivilisation, als Feind alles Menschlichen und Göttlichen ist also logisch und folgerichtig, und es erklärt die unterschiedlichen Ausprägungsformen des Sozialismus einschließlich des modernen Kulturmarxismus nach Prägung der Frankfurter Schule im Westen und der technokratischen Tyrannei in China, die dabei ist, den Kulturmarxismus zu befruchten und ihn so zu einer stalinistischen Tyrannei der totalen Überwachung, Propaganda und Gängelung auszubauen.

Entscheidend für unser Verständnis des Phänomens ist auch seine Genozidalität. Der Völkermord ist die ultimative Manifestation all dessen, was den Sozialismus in seinem innersten Wesen ausmacht. Er wurzelt in der Misanthropie, der Ablehnung des Menschen, wie er ist, und dem Scheitern des Versuches, ihn umzuerziehen, umzubauen und neu zu konstruieren. Das ist auch die Endstation des Transhumanismus und des neuen Kleides, das der Sozialismus sich jetzt zugelegt hat: des Ökosozialismus. Sein Scheitern in dem Versuch der technologischen Neukonstruktion des Menschen als Cyborg wird seine Proponenten in rasende völkermörderische Wut versetzen. Weit über 100 Millionen Tote der alten Sozialismusformen des 20. Jahrhunderts waren dann nur das Vorspiel.


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