20. März 2023

Evolutionspsychologie Schock: Gibt es nur eine menschliche Kultur?

Verschieden und doch gleich

von Philipp A. Mende (Pausiert)

Nachdem Sie, liebe Leser, in den bisherigen Kolumnen verschiedene Einblicke und womöglich sogar neue Denkanstöße erhalten haben, inwiefern die Evolutionspsychologie menschliches Verhalten durch die Interaktion zwischen entwickelten beziehungsweise sich entwickelt habenden psychologischen Mechanismen und der Umwelt erklärt, fragen Sie sich vielleicht (zurecht): „Okay, ist ja alles schön und gut, unser entwickelter Geist beeinflusst unser Verhalten, und das sagen also diese Evolutionspsychologen. Aber was ist mit der Kultur? Sicherlich beeinflusst und formt die Kultur das menschliche Verhalten durch kulturelle Sozialisation, sogar in einem größeren Ausmaß als unsere angeborenen Tendenzen. Oder nicht?“

Antwort: Ja und nein. Kultur und Sozialisation spielen eine Rolle – bis zu einem gewissen Grad. Aber der schwerwiegende Irrtum vieler, wenn nicht der meisten Leute und Soziologen, vor allem derjenigen, die unter dem Einfluss des „sozialwissenschaftlichen Standardmodells“ stehen (siehe frühere Kolumnen), besteht darin, zu glauben, dass das menschliche Verhalten unendlich formbar sei, beziehungsweise durch „kulturelle Praktiken“ und Sozialisation grenzenlos geformt und gestaltet werden könne. Allerdings kann diese Ansicht heute aus guten Gründen als falsch bezeichnet werden.

Das menschliche Verhalten ist zwar formbar, aber nicht unendlich formbar durch die Kultur, und zwar deshalb, da die Kultur nicht unendlich variabel ist. Tatsächlich haben Evolutionspsychologen gezeigt, dass trotz aller oberflächlichen und kleinen Unterschiede alle menschlichen Kulturen mehr oder weniger gleich sind. Ja, ich weiß, das mag für viele erst einmal wie ein Schock klingen (mir ging es nicht anders), erst recht, nachdem wir als freiheitsfunkende Anti-Etatisten die Vielseitigkeit individueller Bedürfnisse und Fähigkeiten stets betonen, wodurch ein staatliches Einheitszwangskorsett völlig unnatürlich ist. Und doch: Es gibt nur eine menschliche Kultur. Vielleicht werden Sie den Versuch einer Erklärung als krachend gescheitert empfinden, aber sei’s drum.

Menschen, und zwar Sozialwissenschaftler und Laien gleichermaßen, sprechen oft von Kultur im Plural, weil sie glauben, dass es viele verschiedene Kulturen auf der Welt gibt. Auf einer Ebene ist das selbstverständlich richtig: Die amerikanische Kultur unterscheidet sich von der chinesischen, beide unterscheiden sich von der ägyptischen und so weiter. Doch all die kulturellen Unterschiede sind nur oberflächlich. Tief im Inneren, auf der grundlegendsten Ebene, sind alle menschlichen Kulturen im Wesentlichen gleich. Um eine berühmte Metapher des Kulturanthropologen Marvin Harris zu verwenden: Oberflächlich betrachtet verzehren die Menschen in einigen Gesellschaften Rindfleisch als Nahrungsmittel und verehren Schweine als heilige religiöse Objekte, während die Menschen in anderen Gesellschaften Schweinefleisch als Nahrungsmittel verzehren und Kühe als heilige religiöse Objekte verehren. Es gibt also eine kulturelle Vielfalt auf dieser konkreten Ebene. Allerdings sind sowohl Rind- als auch Schweinefleisch tierische Proteine (wie auch Hunde, Wale und Affen), und sowohl Schweine als auch Kühe sind belebte Objekte (wie auch Buddha, Allah und Jesus). Und in jeder menschlichen Gesellschaft verzehren Menschen tierische Proteine und verehren belebte Objekte. Auf dieser abstrakten Ebene gibt es keine Ausnahmen, und alle menschlichen Kulturen sind gleich. Es gibt keine unendliche Variabilität in der menschlichen Kultur, in dem Sinne, dass es keine Kulturen gibt, in denen die Menschen keine tierischen Proteine konsumieren oder keine belebten Objekte verehren.

Um ein anderes Beispiel zu nennen: Es ist wahr, dass Sprachen, die in verschiedenen Kulturen gesprochen werden, völlig unterschiedlich erscheinen. Das weiß jeder, der schon einmal versucht hat, eine Fremdsprache zu lernen. Deutsch ist völlig anders als Mandarin, und keine von beiden ist mit Arabisch vergleichbar. Trotz dieser „oberflächlichen“ Unterschiede haben jedoch alle natürlichen menschlichen Sprachen das gemeinsam, was der Linguist Noam Chomsky die „Tiefenstruktur“ der Grammatik nennt. In diesem Sinne sind Deutsch und Mandarin im Wesentlichen dasselbe, so wie Rindfleisch und Schweinefleisch im Wesentlichen dasselbe sind. Sie brauchen einen Beweis? Jedes normal entwickelte Kind kann jede natürliche menschliche Sprache sprechen. Unabhängig davon, welche Sprache ihre genetischen Eltern gesprochen haben, sind alle normal entwickelten Kinder in der Lage, zu Muttersprachlern des Deutschen, Mandarin, Arabischen oder einer anderen natürlichen menschlichen Sprache heranzuwachsen. Wenn eine Gruppe von Kindern zusammen aufwächst, ohne dass Erwachsene ihnen eine Sprache beibringen, werden sie sogar ihre eigene natürliche menschliche Sprache mit vollständiger Grammatik erfinden. Das bedeutet jedoch nicht, dass die menschliche Fähigkeit zur Sprache unendlich formbar ist.

Menschliche Kinder können nicht mit nicht-natürlichen Sprachen wie beispielsweise Fortran oder symbolischer Logik aufwachsen, obwohl diese an sich viel „logischer“ und leichter zu lernen sind als jede natürliche Sprache: Es gibt beispielsweise keine unregelmäßigen Verben, keine Fälle, keine Ausnahmen von Regeln et cetera. Ja, ein normal entwickeltes menschliches Kind kann jede beliebige Sprache sprechen, solange die Sprache ein Produkt der menschlichen Evolution (!) ist und nicht eine neue Erfindung von Informatikern oder Logikern. Pierre van den Berghe (1933–2019) brachte es – wie so oft – auf den Punkt, als er sagte: „Kultur ist die einzig menschliche Art der Anpassung, aber auch die Kultur hat sich biologisch entwickelt.“ Trotz aller oberflächlichen Unterschiede gibt es nur eine menschliche Kultur, denn die Kultur ist wie unser Körper ein adaptives Produkt der menschlichen Evolution. Die menschliche Kultur ist ein Produkt unserer Gene, so wie es unsere Hände und unsere Bauchspeicheldrüse sind.

Biologisch gesehen sind wir Menschen sehr schwach und zerbrechlich: Wir haben keine Reißzähne, um Raubtiere zu bekämpfen und Beute zu fangen, und kein Fell, das uns vor extremer Kälte schützt. Die Kultur ist der Verteidigungsmechanismus, mit dem die Evolution uns ausgestattet hat, um uns zu schützen, so dass wir unser Wissen über die Herstellung von Waffen (zur Bekämpfung von Raubtieren und zum Beutefang) oder von Kleidung und Unterkünften (zum Schutz vor extremer Kälte) vererben und weitergeben können. Wir brauchen weder Reißzähne noch Fell, denn wir haben eine Kultur. Und so wie – trotz einiger kleiner, individueller Unterschiede – alle Tiger mehr oder weniger die gleichen Reißzähne und alle Eisbären mehr oder weniger das gleiche Fell haben, haben auch alle menschlichen Gesellschaften mehr oder weniger die gleiche Kultur. Die Reißzähne sind ein universelles Merkmal aller Tiger. Das Fell ist ein universelles Merkmal aller Eisbären. Und die Kultur ist ein universelles Merkmal aller menschlichen Gesellschaften. Kultur ist, wenn man so will, eine kulturelle Universalie.

Und falls dem so ist, erklärte dies zusätzlich, warum man die r/K-Selektionstheorie weltweit (in „allen Kulturen“) anwenden kann, um die sich immer wiederholenden Zwistigkeiten bezüglich derselben Thematiken besser zu verstehen. Wenn wir davon ausgehen, dass auch Politik letztlich nichts anderes ist als das Resultat eines biologischen Prozesses beziehungsweise evolutionär gewachsener Entwicklungskapazitäten, wäre es nur logisch, dass Kultur ein Phänomen darstellt, das im Innersten im wahrsten Sinne des Wortes einmalig ist.

Menschliches Verhalten nach dem sozialwissenschaftlichen Standardmodell (Freiheitsfunken)

Menschliches Verhalten aus der evolutionspsychologischen Perspektive (Freiheitsfunken)

Philipp A. Mende: Widerstand. Warum zwischen linker und rechter Politik eine Schlacht der Gene wütet.


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