24. Mai 2023 14:00

„Multipolare Weltordnung“ Segen oder Wahl zwischen „verschiedenen“ Stiefeln?

Vom unipolaren Regen in die Traufe eines globalen Technats?

von Axel B.C. Krauss

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Bildquelle: jm13129 / Shutterstock Schöne bunte Welt: Auf den zweiten Blick jedoch der gleiche kontrollierende Schmu

Aus offensichtlichen historischen Gründen dürfte es unnötig sein, die Revisionsbedürftigkeit des unipolaren Modells anglo-amerikanischer Vorherrschaft noch mal hervorzuheben. Dass es, wie man gemeinhin sagt, „so nicht weitergehen“ konnte, war jedem klar, der das Treiben auf der Bühne der Geopolitik mit halbwegs offenen Augen beobachtete. Ich selbst schrieb vor sechs oder sogar schon sieben Jahren in einem auf ef-online veröffentlichten Beitrag, dass es nur eine Frage der Zeit sein würde, bis andere große „Spieler“ wie Russland oder China angesichts der vor Machtarroganz platzenden Raubzüge und hegemonialen Duftmarkensetzerei des „Imperiums“ Ansprüche auf ihre eigenen Kuchenstücke anmelden würden.

Die entscheidende Frage muss natürlich lauten, was auf das anglo-amerikanische Großreich, sofern es – wie manche behaupten – nun tatsächlich dem Niedergang oder zumindest einem starken Machtverlust geweiht ist, folgen soll. Es ist bereits seit geraumer Zeit die Rede von einer neu entstehenden „multipolaren Weltordnung“, in der sich im Wesentlichen – wie bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von einem James Burnham prognostiziert (in seiner „Managerial Revolution“ von 1941, siehe dazu auch mein letzter Kolumnenbeitrag) – nach einer längeren Reihe von Kriegen letztlich drei große Weltblöcke beziehungsweise -mächte gegenüberstünden.

Diese wären also – um es in Orwells Worten auszudrücken, der sich von Burnham inspirieren ließ – „Ozeanien“ (USA/NAU), „Eurasien“ (EU) sowie „Ostasien“ (Brics-Block). Nun wäre eine Welt, in der eine einzelne Supermacht nicht mehr unilateral alles abräumt, was nicht bei drei auf den Bäumen ist, sicher wünschenswert – doch sollte man dabei nicht die Frage übersehen, was derzeit in den anderen beiden großen Blöcken geschieht, und zwar auf innenpolitischer Ebene.

China ist heute schon eine totalitäre Technokratie, eine Diktatur. So gut wie alle Projekte, die im Rahmen der „Vierten Industriellen Revolution“ und des „Großen Reset“ als Modelle für die Zukunft propagiert wurden und werden, sind dort entweder bereits umgesetzt oder werden in Form von Pilotprojekten testweise eingeführt. Es ist eine Einparteien-Herrschaft mit Xi Jinping an der Spitze, dem es aufgrund der Entscheidung der Nationalversammlung, die zeitliche Amtsbegrenzung aufzuheben, nun möglich wäre, als „Herrscher auf Lebenszeit“ zu agieren.

Die „South China Morning Post“ berichtete (28. April 2023, „Chen Xi: Der Berater des Präsidenten, der Chinas neue Technokratie aufbaute“): „Wenn Präsident Xi Jinping in den vergangenen fünf Jahren auf Inspektionsreisen durch China ging, wurde er stets von Chen Xi, dem Direktor der Zentralen Organisationsabteilung der Kommunistischen Partei, begleitet. Während seiner Zeit in der Abteilung half er Xi, eine Reihe von personellen Veränderungen zu steuern, die das Gleichgewicht an der Spitze zugunsten technokratischerer Kader verschoben und die Macht der Partei über den Staat gestärkt haben. Es ist ein Vermächtnis, das noch jahrelang zu spüren sein könnte. Hinzu kommt, dass die Zahl der Technokraten in der Führungsspitze im Vergleich zu vor fünf Jahren stark zugenommen hat, da Chen als Vollstrecker von Xis Bestreben, die Nation mithilfe von in Wissenschaft und Technologie versierten Kadern zu verjüngen, fungiert hat.“

So gibt es in China bereits viele Vorzeigeprojekte, was die sogenannten „Smart Cities“ betrifft: „Chinas Smart Cities – Peking, Shanghai, Guangzhou, Shenzhen und Hangzhou – sind führend bei der Einführung fortschrittlicher Technologien wie künstliche Intelligenz, Internet der Dinge (IoT), Big Data und Cloud Computing in verschiedenen Bereichen wie Verkehr, öffentliche Sicherheit, Umwelt und Produktion“ (w.media, „KI treibt Chinas Smart Cities mit fortschrittlichen Technologien in allen Branchen an“, 4. Mai 2023).

Dasselbe gilt für die bereits seit längerer Zeit entwickelte CBDC, also eine digitale Zentralbankwährung, wenn auch vorerst in der Experimentierphase: „Bargeld biete zwar mehr Anonymität, es sei aber in großen Mengen schwieriger tragbar und zu verwenden als eine Digitalwährung, so der chinesische CBDC-Projektleiter Mu Changchun. Chinas digitale Zentralbankwährung (CBDC) soll nicht so anonym wie Bargeld sein, wie der Leiter des Instituts für digitale Währungen der chinesischen Zentralbank PBoC erklärte. Die chinesischen Behörden sollten auf die CBDC-Daten über Personen zugreifen können, denen eine Straftat vorgeworfen wird, wie Mu noch erklärte“ (Cointelegraph, „CBDC-Projektleiter erklärt: Warum Chinas digitaler Yuan nicht so anonym sein darf wie Bargeld“, 27. Juli 2022).

Ähnliches gilt für Russland: „Selbst in den Putin-freundlichen Medien“, so der Journalist Riley Waggaman, „wird die Behauptung, der digitale Rubel werde die Verschwendung und den Betrug der Regierung ausmerzen, nicht ernst genommen. Die ‚Schrauben werden angezogen‘ für normale Bürger, während es immer Schlupflöcher für ‚Diener des Volkes‘ geben wird, sagte Zargrad-TV-Moderator Juri Pronko in einer Sendung am 9. März. Zwei Wochen später deutete Pronko an, dass es Wunschdenken sei, zu glauben, der digitale Rubel würde freiwillig bleiben. ‚Alles ist also freiwillig. Wir wissen jedoch aus der Geschichte, dass vieles, was auf freiwilliger Basis begann, innerhalb kürzester Zeit zur Pflicht wurde. Die Geschichte der Covid-Impfungen, an die sich heute niemand mehr erinnert, ist ein anschaulicher Beweis dafür‘, witzelte der Journalist am 25. März“ (Riley Waggaman, „Russland ist immer noch am Great Reset beteiligt“, 11. April 2023).

Dasselbe gilt für die „Ziele für Nachhaltige Entwicklung“, „SDGs“, oder auch „UN-Agenda 2030“ inklusive des geplanten ESG-Score-Systems: „Vor Kurzem haben wir einen Bericht über Russlands anhaltende Romanze mit den Zielen für nachhaltige Entwicklung und der ESG-Agenda veröffentlicht, dabei aber einige merkwürdige Entwicklungen übersehen. ‚[Russische] Banken erklären, dass sie weiterhin die ESG-Strategie verfolgen werden, trotz der Isolierung durch westliche Rating- und Analyseagenturen, die sich mit der Agenda für nachhaltige Entwicklung befassen‘, schrieb ‚Banking Review‘ am 7. Oktober. Von Juli 2021 bis Juli 2022 verdreifachte sich das Portfolio der ESG-Kredite russischer Banken und erreichte 1,2 Billionen Rubel, berichtete das Blatt.“

Es gibt übrigens auch in Russland „Smart City“-Projekte, wie das Portal mdpi berichtete: „Die Entwicklung von Smart Cities ist ein klarer Trend, der weltweit zunimmt. Die Konvergenz verschiedener technologischer, sozialer, politischer, wirtschaftlicher und ökologischer Trends hat dazu geführt, dass diese Konzepte in den Agenden der Regierungen rasch an Bedeutung gewonnen haben. In diesem Beitrag wird die Situation in Russland in Bezug auf intelligente Städte analysiert. Moskau, Sankt Petersburg und Kasan befinden sich in der Entwicklungsphase der ‚Smart City 3.0‘. Große russische Städte entwickeln aktiv Projekte in diesem Bereich und genießen darin weltweit hohes Ansehen“ (mdpi, „Smart Cities in Russia: Current Situation and Insights for Future Development“, 28. September 2021).

In puncto biometrischer Überwachung steht China bereits ganz vorne: „Wohl kaum ein anderes Land treibt die Nutzung von Big Data für eine flächendeckende Überwachung und Kontrolle derart voran wie die Volksrepublik China. Bewertungssysteme, die das Sozialverhalten der Bürger beurteilen, Bezahlen per Gesichtsscan, komplette Überwachung des Verkehrs und der Verkehrsteilnehmer – was sich anhört, als wäre es aus dem Roman ‚1984‘ von George Orwell, ist in China bereits Realität geworden“ (Business Insider, „Völlige Kontrolle: In Chinas Klassenzimmern wird der dystopische Albtraum jedes Kindes wahr“, 9. Oktober 2019).

Und die „Gesellschaft für Informatik“ wusste am 29. November 2019 zu berichten („Thema im Fokus: EEG-Bänder geben Einblick in die Köpfe chinesischer Schüler“): „Im Januar 2019 war bekannt geworden, dass in chinesischen Schulen künftig EEG-Stirnbänder eingesetzt werden sollen. Mit den Stirnbändern soll überwacht werden, ob die Zehn- bis 17-Jährigen dem Unterricht aufmerksam folgen. Nun hat das ‚Wall Street Journal‘ in einem Video erste Eindrücke veröffentlicht. Das aufgezeichnete EEG wird in Echtzeit ausgewertet. Die Konzentration der Schülerinnen und Schüler wird farblich kodiert. Leuchtet das Band rot, ist ein Schüler tief konzentriert, leuchtet es blau, ist er abgelenkt. Die Datenauswertung wird dabei nicht nur auf der Stirn dargestellt, sondern auch dem Lehrer am Laptop sowie den Eltern in Echtzeit auf ihrem Smartphone angezeigt. Es bleibt allerdings fraglich, ob eine rein leistungsorientierte Förderung in Verbindung mit dem Erfolgsdruck, der durch die Bänder und den direkten Leistungsvergleich erzeugt wird, aus pädagogischer Sicht sinnvoll ist. Können sich Kinder unter diesen Bedingungen zu selbstbestimmten, kreativen Individuen entfalten?“

Im Zuge der Recherchen für mein neues Buch „Das globale Technat“ sind solche Informationen in Hülle und Fülle angefallen – was Sie gerade gelesen haben, war nur eine kleine Kostprobe. Fest steht: Sowohl Russland als auch China sind aktiv an der Entwicklung von Technologien beteiligt und treiben diese mit großem Tempo voran, die von manchen fälschlicherweise einer rein „westlichen“ Agenda zugeschrieben werden. Angesichts dieser Entwicklung frage ich mich, inwiefern diese beiden Länder nun eine angeblich so viel „freiere“ oder „bessere“ Weltordnung aufbauen sollen als „Alternative“ zum anglo-amerikanischen Modell. Nach allen mir bislang vorliegenden Informationen sieht es eher so aus, als würden die drei Blöcke auf innenpolitischer Ebene schrittweise einander angeglichen. Ob das für ihre Bürger nur zum Vorteil sein wird, ist ebenso fraglich.

Um diesen Eindruck zu bekommen, braucht es übrigens noch nicht mal „Verschwörungsdenken“; die Frage, ob auf höchster politischer Ebene kooperiert wird, braucht man zunächst mal gar nicht zu stellen (auch wenn es auf UN-vertragsrechtlicher Ebene ein gewisses Maß an Kooperation tatsächlich bereits gibt – trotz aller öffentlich zur Schau gestellten Spannungen). Aus einem ganz einfachen Grund: Die Möglichkeiten der Kontrolle und Überwachung ihrer Bevölkerungen, die solche Technologien bieten, dürften für Regierungen förmlich unwiderstehlich sein – egal, in welchem Breitengrad, ob nun West oder Ost. Aus herrschaftsmethodologischer Sicht sind sie schlicht ein „Leckerbissen“.

Das Schlagwort der „Multipolarität“ klingt in einer Welt, die in den letzten Jahrzehnten von einem Hegemonen dominiert war, der sich aufführte wie ein Brontosaurier im Porzellanladen, natürlich toll. Wer sollte etwas dagegen haben? Wer würde ernsthaft weiterhin eine Unipolarität vorziehen, die auf einem „Exzeptionalismus“-Denken und nicht zuletzt einem rücksichtslosen Bellizismus gründete?

Stellt sich nur die Frage, ob eine echte Alternative entsteht oder man sich dann nur noch den Stiefel aussuchen kann, unter dem man leben und arbeiten will.

Bis nächste Woche.


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