26. Mai 2023

Gemeinschaftsbegriff Vom Recht auf Freiwilligkeit

Individualismus gegen Kollektivismus

von Stefan Blankertz

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Bildquelle: OgnjenO / Shutterstock Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft ist eine gute Sache: Auf freiwilliger Basis!

Gemeinschaft ist ein Begriff, bei dem sich Missbehagen mit dem Gefühl des Behagens in engster Verbindung befinden. Dies gilt besonders für Deutschland, wo die Ideologie der Volksgemeinschaft dem Nationalsozialismus eine Basis gab, sich nicht nur des Terrors, sondern auch der Sehnsucht der Menschen nach Geborgenheit bedienen zu können, aufgrund derer er eine breite Mehrheit hinter sich scharen konnte. Anders als beim Begriff der Gemeinschaft wurde der Begriff des Sozialismus später bemerkenswerterweise nicht aus dem Grund stigmatisiert, weil die Nationalsozialisten ihn gebraucht hatten. Auch der Stalinismus tat dem Ansehen des Sozialismus keinen Abbruch. Dass der Stalinismus sich nicht einfach mit dem Hinweis vom Sozialismus trennen lässt, dass Stalin ja Kommunist und nicht Sozialist gewesen sei, kann man schon an seinem Slogan erkennen, den Sozialismus in einem Land, nämlich der UdSSR, entwickeln (statt einer Weltrevolution anstreben) zu wollen.

Umgekehrt hat der Vorbehalt gegen Gemeinschaft, der in der Erfahrung des Nationalsozialismus gründet, einen westdeutschen marxistischen Nachkriegsdenker wie Theodor W. Adorno davon abgehalten, in Kollektivismus und in ein Hoch auf die Konfluenz der Masse zu verfallen. Die Identifizierung mit jeglichen Kollektiven aufzulösen und der repressiven Konformität zu widerstehen, in der die Gleichheit des Rechts sich im Unrecht der Gleichen entfaltet, waren seine wesentlichen Ideen, um einen erneuten Rückfall in die Barbarei zu verhindern. Mit Barbarei verwies Adorno sowohl auf den Faschismus wie auf den Stalinismus.

Während die Erfahrung des Nationalsozialismus im Umgang mit dem Ideal der Gemeinschaft in Deutschland zu einer gewissen Vorsicht führte, gilt dies für andere Sprachen nicht; das englische Community ist völlig wertfrei zu gebrauchen. Aber auch im Deutschen sind Ersatzvokabeln wie Zugehörigkeit, Verbundenheit oder das einfache Wir gang und gäbe. Die Problematik ist damit nicht aus der Welt. Sozialpsychologisch steht einerseits fest, dass viele Menschen eine authentische Sehnsucht nach Gemeinschaft haben und dass es andererseits keinen stärkeren Kitt für Gemeinschaft gibt als Abgrenzung nach außen, Aufbau eines enormen Konfluenzdrucks nach innen sowie Ausschluss von Dissidenten. Nach innen mag das Gemeinschaftsgefühl die Rücksichtnahme und die gegenseitige Hilfe steigern, nach außen aber legitimiert es dazu, an den Fremden und Dissidenten die schlimmsten Verbrechen zu begehen. Das Gemeinschaftsgefühl zerteilt das Gewissen in innen und außen, es senkt die Verantwortung des Einzelnen: Solange er tut, was alle tun und für richtig halten, ist er geschützt vor Gewissensbissen und Rechenschaft. Die Erfahrung des Nationalsozialismus ist sozialpsychologisch gesehen keine Ausnahmesituation, kein Missbrauch der Gemeinschaft oder der Idee der Gemeinschaft, sondern wirft ein schauerliches Bild auf ihr Wesen, wenn sie nicht korrigiert wird durch die beiden individualistischen Haltungen, Verantwortung zu übernehmen und im Fall eines Konflikts zwischen Moral und Gemeinschaft den Widerstand gegen die Gemeinschaft zu wählen.

Im politischen Rahmen und im geschichtlichen Kontext wird gern von kollektiver Verantwortung gesprochen. Dass dies ein falscher Gebrauch des Begriffs ist, kann schnell gezeigt werden. Kollektivstrafen und Sippenhaft stellen Unrecht dar. Jemand kann nur dann zur Rechenschaft gezogen werden, wenn er an einem Verbrechen nachweislich Anteil hat oder ihm zumindest zustimmte. Selbst wenn in einer Gruppe – mögen wir sie Kollektiv oder Gemeinschaft nennen oder nicht – alle Einzelnen dem Verbrechen zustimmten oder gar aktiv an ihm beteiligt waren, muss dies jedem nachgewiesen werden. Ein markanter Fall sind Exekutionen, bei denen eine Gruppe von Soldaten auf den Hinzurichtenden schießt, damit kein Einzelner sein Gewissen mit dessen Tötung zu belasten braucht, da nicht klar ist, wessen Kugel ihn tödlich getroffen hat. Dies allein ist Beweis genug, dass solche Exekutionen Unrecht sind und sich nur durchführen lassen, indem eine unverantwortliche Gruppensituation hergestellt wird, die das individuelle Gewissen ausschaltet.

Wenn der Geist der Konfluenz eine Gruppe, sei sie klein oder so groß wie ein ganzes Volk, dazu treibt, Verbrechen zu begehen oder zu dulden, bedeutet die Übernahme von Verantwortung, aus der Konfluenz auszubrechen und Widerstand auszuüben: Widerstand zumindest dadurch, sich der Beteiligung am Verbrechen zu verweigern. Im besten Fall bringt dieses Vorbild die Mitmenschen dazu, sich ebenfalls zu verweigern. Vielleicht gelingt es auf diese Weise, das Verbrechen zu verhindern. Widerstand bedeutet immer, die geltenden Normen der Gruppe zu brechen, seien dies informelle Regeln oder niedergeschriebene Gesetze. Ein Recht auf Widerstand im Sinne von Gruppennormen oder staatsrechtlichen Regelungen kann es grundsätzlich nicht geben: Regeln oder Gesetze, die ihre eigene Nichtgeltung einschließen, gelten nicht. Verfassungsformulierungen, die ein Widerstandsrecht einräumen, sind leeres Gerede. Dies zeigt sich immer, sobald sich jemand auf solch ein Widerstandsrecht beruft, wenn er ein Gesetz missachtet. Dann heißt es umgehend, genau das sei mit Widerstandsrecht nicht gemeint und abgedeckt.

Der Widerstand kann freilich eine neue Gemeinschaft begründen, und auch dies in positiver wie negativer Hinsicht. Erfolgreich kann Widerstand nur sein, wenn es ihm gelingt, dass nicht nur ein Einzelner gegen das Verbrechen aufbegehrt, sondern es so viele tun, dass sie in der Lage sind, diejenigen daran zu hindern, das Verbrechen zu begehen, die es auszuführen gedenken. Das ist ein edles und risikoreiches Unterfangen, denn schließlich ist die Gruppe, die das Verbrechen im Sinn hat, in der Lage und meist auch bereit, ihr Tun mit Gewalt fortzusetzen. Sie richtet sich gegen diejenigen, die Widerstand leisten; sie will den Widerstand brechen. Nun muss aus denjenigen, die Widerstand leisten, ihrerseits eine verschworene Gemeinschaft werden, sie muss sich nach außen abschotten und nach innen disziplinieren; sie muss bereit sein, im Notfall Verbrechen zu begehen, etwa Verräter zu exekutieren, um nicht aufzufliegen und um ihr Ziel zu erreichen.

Wir haben es hier mit einem Teufelskreis zu tun. Die Behauptung, all dies sei doch mit der demokratischen Organisation der Gesellschaft erledigt, ist, obwohl herrschende Meinung (Meinung der Herrschenden), ohne Fundament. Gerade die Erfahrung des Nationalsozialismus macht deutlich, dass demokratischen Mehrheiten alle Formen von Verbrechen zugetraut werden können. Die Lösung aus dem Teufelskreis kann nicht durch eine Ausweitung, sondern nur durch eine Einschränkung von Demokratie im Sinne der Mehrheitsherrschaft gelingen. Das Prinzip einer Gemeinschaft, die nicht in Unrecht umkippt, muss das der Freiwilligkeit sein. Dabei ist für das Prinzip der Freiwilligkeit nicht der freiwillige Eintritt entscheidend, sondern die Möglichkeit des Austritts; denn schließlich gibt es Gemeinschaften wie zum Beispiel die Familie, in die man hineingeboren wird. Eine Gemeinschaft, aus der man austreten kann, mag gut oder schlecht sein, sie vermag aber nicht, Verbrechen zu begehen, es sei denn, sie dehnt ihr Handeln auf Personen aus, die ihr nicht zustimmen – und dann wäre sie nicht mehr freiwillig.


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