13. Juli 2023 14:00

Reaktion auf Liberty Rising Macht Libertarismus unglücklich?

Nein, alles in bester Ordnung

von Sascha Koll

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Bildquelle: Robert Adrian Hillman / Shutterstock Depressiv und unglücklich: Von Max Remke gezeichnetes Bild des Libertären, das mit der Realität nichts zu tun hat

„Macht Libertarismus unglücklich?“ Diese Frage stellte Max Remke von „Liberty Rising“ auf seinem Youtube-Kanal „Der andere Rebell“. Die Antwort fällt innerhalb der ersten Minuten: Seiner Auffassung nach tendiert der Libertarismus dazu, Menschen unglücklich zu machen. Libertäre seien toxisch und sähen wenig Perspektiven, etwas Positives oder Tolles zu erreichen. Gerade Anarcho-Kapitalisten würden immer depressiver und „doomeriger“ werden und wechselten zuweilen ins Lager der Neuen Rechten (Alt-Right), da alles so hoffnungslos erscheine.

Woran macht Remke diese Annahmen fest? Angeblich liege es an dem ideologischen Gedankenkern des Libertarismus – der Utopie. Welche Utopie Libertäre zeichnen, beschreibt er nicht. Ist nicht herumkommandiert und ausgenommen zu werden, wirklich so utopisch? In der Welt eines überzeugten Minimalstaatlers, der ein bisschen Zwang und Gewalt gegen friedliche Menschen akzeptabel findet, wohl schon. Der Libertarismus verspricht nicht mal etwas, was die meisten Anhänger politischer Utopien, wie des Sozialismus, unentwegt tun. Anhänger des Libertarismus verkaufen keine heile Welt ohne zwischenmenschliche Konflikte oder Probleme, sondern skizzieren, wie diese ohne ein Gewaltmonopol gelöst werden können und auch nachweislich, bevor der Staat alles Soziale an sich gerissen hat, gelöst wurden.

Die Antwort der Libertären auf alles seien „Knarren“. Dies macht er daran fest, dass gerade US-amerikanische Libertäre gerne mal ihre Waffen präsentieren, und an Memes, die Abbildungen von Waffen zeigen. Das wird wohl daran liegen, dass es sich dabei, erstens, wie bereits erwähnt, um US-Darstellungen handelt und dass, zweitens, eine bewaffnete Bevölkerung nicht so leicht von Herrschern übervorteilt werden kann wie eine völlig unbewaffnete Bevölkerung. Ich möchte auch nicht abstreiten, dass Bewaffnung für einige Libertäre einen hohen Stellenwert hat, aber gerade in der deutschen Gemeinschaft geht es doch viel mehr um Wirtschaft und das Geldsystem als um Waffen. Diese libertäre Subkultur eins zu eins auf alle Libertären zu übertragen, ist, als würde man jeden Sozialisten für einen LGBTQIA+-Anhänger halten. Die sozialistische AfD beweist irgendwie das Gegenteil, oder?

Laut Remke sei die libertäre Bewegung keine Anti-Gewalt-Bewegung – ich denke, dass dies auch die wenigsten Libertären behaupten würden –, und er führt das Nichtaggressionsprinzip (NAP) an, das Gewalt ablehnen soll. Wenn man dieses falsch versteht – wie vermutlich 99 Prozent, die zum ersten Mal davon hören –, stimmt diese Aussage. Doch das Nichtaggressionsprinzip lehnt Gewalt überhaupt nicht ab. Befürworter dieses Prinzips sind keine Pazifisten, sondern lehnen lediglich initiierende Gewalt ab. Gewalt zur Abwehr von Aggression ist nach dem NAP absolut in Ordnung. Deshalb freuen sich Libertäre auch darüber, wenn sich, angesichts des Versagens des Staates in der sich selbst zugeschriebenen Aufgabe, Sicherheit zu schaffen, Menschen selbst verteidigen. Die aktuell wohl berühmtesten Fälle dürften die Verteidigung gegen „Black Lives Matter“-Vandalen, der Fall von Kyle Rittenhouse und die Rooftop Koreans sein. Wenn man Max Remke so zuhört, könnte man meinen, dass sich diese Leute wohl lieber auf den Staat hätten verlassen sollen, als ihre Verteidigung selbst in die Hand zu nehmen.

Obwohl sich Remke mit Libertären umgibt, scheint er auch die Botschaft der Gadsden-Flagge (Klapperschlange auf gelbem Grund mit der Aufschrift „Dont Tread on Me“) und des Stacheltiers nicht verstanden zu haben. Die Schlange sei aggressiv und drohe mit Gewalt, und am Stacheltier könne man sich verletzen. Was nicht erwähnt wird: Die Klapperschlange hat eine Warnvorrichtung, sie rasselt, wenn ihr Gefahr droht. Sie gibt damit zu verstehen: „Wenn du mir etwas antust, werde ich mich zur Wehr setzen.“ Die Schlange droht nicht mit Aggression, sondern hat evolutionär ein Mittel entwickelt, einen potenziellen Angreifer davor zu warnen, dass sie sich verteidigen wird. Das ist eine völlig andere Botschaft, als Remke in seinem Video behauptet. Auch das Stacheltier läuft nicht umher und bedroht ständig andere Tiere, sondern auch hier dienen die Stacheln der Abwehr von Angriffen und nicht der Aggression gegen Unbeteiligte.

Kommen wir von absichtlich oder unabsichtlich falsch verstandenen Symbolen zu dem, was Remke sonst über Libertäre denkt: Für Libertäre gebe es nur Fluch oder Gegenangriff (von Agorismus nie gehört?), die Utopie sei die Hütte im Wald, um ja nichts mit anderen Menschen zu tun haben zu müssen, und angeblich sei in unseren Augen sowieso alles sinnlos. Außerdem sei doch alles gar nicht so schlimm. „Das Einzige, was dir der Staat verunmöglicht ist, glaube ich, das Flugabwehrgeschütz auf dem Pick-up-Truck“, so Remke. Wenn das so ist, worüber beschweren wir uns eigentlich? Corona-Maßnahmen und absurde Heizgesetze sind wohl nur eine Einbildung von verschwurbelten Verschwörungstheoretikern, auf die er im Video auch eingeht, wozu ich mich hier an dieser Stelle aber nicht äußern werde.

Die Hütte im Wald, ganz allein und weit entfernt von der Zivilisation wird sicher für den ein oder anderen ein Wunsch sein, für einige sicher auch die letzte Zuflucht vor der immer verrückter werdenden Welt, aber sie als Ziel für Libertäre zu betrachten, halte ich für sehr weit hergeholt. Hätte er Gated Communitys oder Privatstädte genannt, hätte ich ihm eher zustimmen können. Die meisten Libertären, die ich kennenlernen durfte, sind meiner Ansicht nach nicht weniger gesellig als der Bevölkerungsdurchschnitt, aber das erfährt man wohl nur, wenn man auch deren Treffen beiwohnt. Bei diesen läuft übrigens niemand miesepetrig herum und bedauert seine Existenz, wie Remke es gerne darstellt.

Allgemein kann ich die Beobachtung, dass Libertäre irgendwie immer mies gelaunt oder depressiv seien und nur auf den Untergang warteten, absolut nicht nachvollziehen. Im Gegenteil berichten mir viele, dass sie im Etatisten-Dasein eher die Neigung zur Negativität hatten und heute deutlich positiver in die Zukunft blicken und ihr Leben selbst in die Hand nehmen, statt auf politische Veränderungen zu hoffen und enttäuscht zu werden. Als Beispiel möchte ich gerne einen Kommentar von „tesla_the_cat“ unter der aktuellen Ausgabe von „Jung Brutal Marktradikal“ zitieren: „Libertarismus macht definitiv nicht unglücklich. Ganz im Gegenteil! Ich war früher sehr links und sehr depressiv. Erst als ich von diesem Irrweg abgekommen bin, habe ich auch wieder Freude am Leben empfunden. Ich habe endlich Verantwortung für mein Leben übernommen und aufgehört, immer den anderen die Schuld an meinen Problemen zu geben. Auch stehe ich finanziell nun sehr viel besser da. Meine Arbeitsmoral hat ungeahnte Höhen erreicht und der berufliche Erfolg hat sich innerhalb kürzester Zeit eingestellt. Also ein dickes, fettes Dankeschön an den Mann mit Hut (Anmerkung des Autors: Oliver Janich). Ohne ihn wäre ich wahrscheinlich immer noch eine faule, neidzerfressene, ekelhafte Madenkreatur, die nach dem Geld der anderen ruft. Also öffnet auch ihr da draußen euer Herz für den freien Markt und werdet zu einem besseren Menschen. PS: Kadsen flauschen statt Steuern zahlen!“

In persönlichen Gesprächen höre ich ähnliche Aussagen immer wieder. Die „Doomerigen“ und Depressiven sind meist die, die immer noch daran glauben, dass über den demokratischen Weg noch irgendwas zu erreichen sei. Sie haben den Staatskult nie verlassen, und wer den Kult nicht verlässt, landet wohl eher bei den Neuen Rechten und sieht dort eine Lösung für seine Probleme, die er nicht selbst in die Hand nehmen will.

Abschließend möchte ich auf die Stelle im Video eingehen, in der ich persönlich adressiert werde: Gezeigt wird meine Kolumne „Denken und Handeln nicht im Einklang: Ich leide unter einer kognitiven Dissonanz“, in der ich beschreibe, dass ich mich unwohl fühle, wenn ich Überweisungsaufträge zugunsten des Finanzamts einrichte, um meine Steuervorauszahlungen zu leisten, womit ich Massenmord und meine eigene Unterdrückung finanziere. Er stellte es so dar, als sei dieses schlechte Gefühl eine Art Dauerzustand, nicht nur bei mir, sondern bei Libertären im Allgemeinen. Es kommt mir so vor, als habe er ein Bild von Menschen im Kopf, die den ganzen Tag an nichts anderes denken als daran, wie unterdrückt sie doch seien, und sich in einer eingebildeten Opferrolle suhlen, als hätten wir nichts anderes zu tun oder als gäbe es gar nichts, an dem wir uns tagtäglich erfreuen. Ich kenne niemanden, der so drauf ist, und selbst sehe ich mich auch nicht so. Niemanden – ausgenommen enttäuschte Demokraten – deprimiert das politische Geschehen ernsthaft. Die meisten lachen über das, was vor sich geht, und haben ihr Leben so weit im Griff, dass sie auch keinen Grund haben, Trübsal zu blasen.

Als eine wilde Vorstellung empfand ich auch die falsche Wiedergabe meiner Aussagen. Remke: „Dir wird Eigentum abgenommen, und du fühlst dich zusätzlich noch schlecht und verurteilst dich selber.“ Zu keinem Zeitpunkt habe ich geschrieben, dass ich mich schlecht fühle und mir selbst Vorwürfe mache, weil mir etwas weggenommen wird, sondern eher deshalb, weil ich aktiv daran mitwirke. Die Formulierung von Max Remke würde eher auf jemanden passen, der nicht selbst die Zahlungsaufträge einrichtet, sondern die Steuern über den Arbeitgeber abgezogen bekommt. In diesem Fall wäre es tatsächlich merkwürdig, sich selbst Beihilfe zum Massenmord zu unterstellen, denn es steht nicht in der eigenen Macht, diese Gelder selbst zu überweisen oder zurückzuhalten. In meiner Macht stünde es sehr wohl, die Zahlungen einzustellen, und da ist meiner Meinung nach schon ein Unterschied zu sehen.

Ich frage mich, was diese ganze Nummer wieder sollte. Der Objektivismus bei „Liberty Rising“ soll wohl als die einzig wahre Bewegung mit Wohlfühlfaktor dargestellt werden (das objektiv richtige Leben), indem andere libertäre Gruppen als völlig destruktiv, negativ und depressiv dargestellt werden. An dem Gespenst vom Trübsal blasenden Libertären ist wenig dran. Ausnahmen gibt es sicherlich, aber es sind eben nur Ausnahmen. Wenn Visionen von Privatstädten, Sezession, Bitcoin und diesbezüglich, dass irgendwann auch wieder bessere Zeiten kommen, negativ sein sollen und wenn zunehmende Vernetzung, eine wachsende libertäre Bewegung und entstandene Bekannt- und Freundschaften nicht positiv sein sollen, könnte ich Remkes Ansicht nachvollziehen. Doch ich empfinde all diese Ideen und Projekte und die Menschen, die sie unterstützen, als äußerst positiv, zukunftsgewandt und lebensbejahend. Vielleicht sollte Max Remke auch nicht jedes Meme, jeden Scherz über Helikopter-Rundreisen und jede Waffe, die irgendwo dargestellt wird, zu ernst nehmen, denn auch Libertäre überspitzen gerne mal und geben sich „edgy“. Ob das strategisch sinnvoll ist, darüber wurde schon oft diskutiert, und ich denke, dass eine weitere Diskussion darüber keine neue Erkenntnis hervorbringen wird.

Alles in allem verstehe ich nicht, was dieses Video für einen Mehrwert bieten soll. Was ist überhaupt die Botschaft? „Werdet bloß keine Libertären, das würde euch unglücklich machen. Werdet lieber minimal-aggressive 'Liberty Rising'-Anhänger“? Nein, der Libertarismus macht nicht unglücklich. Falsche Einstellungen in Bezug auf sich selbst und seine Umwelt verursachen das möglicherweise („Die Gesellschaft schuldet mir etwas“ / „Ich schulde der Gesellschaft etwas“ / „Ich kann an meinem Umstand nichts ändern, ich bin Opfer“), aber dann sollte man ohnehin erst mal an sich selbst arbeiten, bevor man sich Größerem, wie der Abschaffung oder Minimalisierung des Staates, widmet.


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