25. August 2023 13:00

Eine denkwürdige Rede Warnung vor einer rechtsstaatlichen Zeitbombe

Oliver Lepsius dekonstruiert juristischen Unverstand

von Carlos A. Gebauer

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Bildquelle: Dontworry / Wikimedia Rechtswissenschaftler Oliver Lepsius: Lehrt derzeit Öffentliches Recht an der Universität Münster

Im September 2020 hatte ich bei eigentümlich frei die Habilitationsschrift von Tristan Barczak über den „nervösen Staat“ besprochen. Der Staatsrechtler befasst sich in diesem voluminösen Werk mit Fragen der verfassungsrechtlichen Ausnahme-Regimes und legt unter anderem einen Formulierungsvorschlag für staatsorganisatorische Evaluationen nach einer Krise vor.

Während Barczak die wesentliche Arbeit seines schon im Corona-Lockdown ausgelieferten Werkes noch ohne die spürbare Empirie der seinerzeit anhebenden juristischen Verirrungen geleistet hatte, fand sich sein Fachkollege Oliver Lepsius bei der Vorbereitung einer Rede für den 23. März 2023 im Leipziger Bundesverwaltungsgericht in einer ganz anderen Situation. Sein dortiger Vortrag „Ausnahme als Rechtsform der Krise“ fußt faktisch vollends auf der Kenntnis des erlassenen, in Geltung gesetzten und vollzogenen „Corona-Pandemierechtes“.

Oliver Lepsius ist nicht irgendwer. Er folgte ursprünglich dem legendären Peter Häberle auf dessen Lehrstuhl an der Universität Bayreuth und er ist inzwischen an der Universität Münster tätig. Sein Wort hat Gewicht in der verfassungsrechtlichen Szene des Landes. Und Lepsius ist sich demgemäß fraglos darüber im Klaren, welche diplomatische Klangfarbe zu wählen ist, wenn man vom Kanzleramt über die Ministerpräsidenten zu den Bundes- und Landesverordnungsgebern sowie in die Reihen des Bundesverfassungsgerichtes hinein Kritik anbringen möchte.

Der inzwischen in den Deutschen Verwaltungsblättern publizierte Text des Vortrages vom 23. März 2023 (DVBl. 2023, 701ff.) liest sich nun allerdings mitnichten wie ein elegantes literarisches Ballett mit staatsrechtlichem Florett. Statt – wie für den juristischen Intellektuellen gewohnt – anstupsende, nadelstichartige Impulse in den verfassungs- und verwaltungsrechtlichen Wams der Staatsgewalten zu geben, wuchtet der methodische Könner gleich zu Beginn seiner Ausführungen einen blitzenden Säbel aus der Hüfte: „Ein Pandemierecht, das meint, Ansteckungen vermeiden zu müssen, nutzt die Formen des Rechts, aber es ist nicht das Recht, das wir kennen, das die Verfassung etabliert und das wir Rechtsstaat nennen.“

Wie schade, dachte ich schon in der dritten Spalte des Textes, dass ich bei diesem Vortrag nicht zugegen gewesen war. Denn wenn Kritik in dieser Art vorgetragen wird, erstarrt üblicherweise erst der Nacken aller Anwesenden, um nach der zweiten oder dritten argumentativen Welle dann mit möglichst ausdruckslosen Mienen erste Blickkontakte zu Sitznachbarn aufzubauen.

„Wie erklären wir“, fuhr Lepsius – mit Blick auf die eigenartige Ministerpräsidentenkonferenz, ergänzt durch die seinerzeitige Bundeskanzlerin – fort, „dass zum Zentrum der Normsetzung ein Gremium wurde, das in der Staatsorganisation gar nicht vorgesehen ist? In diesem verfassungsrechtlich inexistenten Gremium saßen überdies ganz überwiegend Amtsträger, die für den Erlass der Corona-Schutzverordnungen, die sie dort jedoch vereinbarten, unzuständig waren.“ Mit anderen Worten: Der Staatsrechtslehrer steht zum Frühlingsanfang 2023 mitten im Bundesverwaltungsgericht und spricht aus, was dem geschulten Auge schon vor drei Jahren unübersehbar war, aber von der Rechtsprechung bislang schamvoll übergangen wurde. Ein verfassungsrechtlich inexistentes Gremium – ein staatsorganisatorisches Nullum also – war damit befasst, die (wie man damals sagte) schlimmste Krise seit dem Zweiten Weltkrieg zu beherrschen.

Anstelle eines parlamentarischen Diskurses mit offenem Ideenwettbewerb zogen sich einige führende Köpfe aus den Regierungen in ein selbst erfundenes Koordinierungsgremium zurück und maßten sich dort an, Grundrechtsabwägungen vornehmen zu dürfen. Warum dies schon für sich gesehen mit dem Grundgesetz nichts mehr zu tun hat, erläutert Lepsius knapp: „Die Willensbildung und Entscheidungsfindung in der Regierung folgt anderen Kriterien als im Parlament. Die Entscheidung unterliegt politischen Hierarchien.“ Mit anderen Worten: Die hier aktiv gewordenen Beteiligten handelten nicht als unabhängige Volksvertreter, sondern im Loyalitätsgeflecht ihrer eigenen Peergroups. „Ich wage die These, dass bestimmte Entscheidungen letztlich nur erklärlich sind, weil es gerade dieses Entscheidungsformat gegeben hat“, resümiert Lepsius trocken.

Dass der professorale Kritiker für all dies irgendwann in seinem Spannungsbogen dann den Satz „Die Kategorie der Verfassungswidrigkeit passt hier nicht“ ausspricht, ist augenscheinlich eine befriedende Handreichung, ein Dialogangebot zur Gemütsberuhigung, ein diplomatischer Schachzug inmitten des Säbelhiebgewitters. Denn was anders als verfassungswidrig ist – unter der Geltung des Gesetzesvorbehaltes und der kategorisch nötigen Eingriffslegitimationen – Staatshandeln unzuständiger Stellen mit illegitimen Inhalten? Unter der Zwischenüberschrift „Erklärungsverlegenheiten“ notiert der Redner: „Machen wir uns diesbezüglich nichts vor. Normal war nicht, was wir erlebt haben.“

Dem Rechtslehrer geht es darum, „verloren gegangenes Vertrauen in den Rechtsstaat pro futuro wiederzugewinnen“. Dass dies eine schonungslose Aufarbeitung der rechtlichen Fehlleistungen während des Corona-Fiaskos erfordert, liegt auf der Hand. Zu dieser Schonungslosigkeit gehört dann – nur konsequent – auch die akademische Zurechtrückung dessen, was der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichtes mit seiner abirrenden Judikatur zur „Ersten Bundesnotbremse“ aus dem Lot judiziert hatte. Millimeter für Millimeter erläutert Lepsius seinen Hörern und Lesern, warum und wie das Bundesverfassungsgericht die Denkgesetze des Verhältnismäßigkeitsprinzips verkannt und verdreht hat. Schon der Prüfgegenstand, das „Gesamtschutzkonzept“, war nicht taugliches Objekt dieser juristischen Beurteilung. Aber dann wurde auch noch das denkgesetzliche Prüfungsarrangement des Übermaßverbotes verunklart. Und Lepsius mahnt: „Über juristische Denkgesetze entscheidet kein Gericht. Sie werden von uns allen, vom Juristenstand, ‚verwaltet‘.“

Die Empörung des Festredners (der über zwischenzeitlich akademische Verteidigungsargumente eines mitnotbremsenden Verfassungsrichters nicht sprechen mag, da diese nicht einmal in einem Tagungsband verschriftlicht sind) kulminiert in den denkwürdigen Feststellungen: „Wer aber Gesamtschutzkonzept und Verhältnismäßigkeit kombiniert, hat juristisch etwas nicht verstanden.“ Und: „Wenn der leerlaufende Verhältnismäßigkeitsmaßstab der Bundesnotbremse-Beschlüsse [des Bundesverfassungsgerichtes] normal war, dann tickt eine rechtsstaatliche Zeitbombe.“

Jene Zeitbombe muss augenscheinlich nicht nur in den angekündigten weiteren Pandemien entschärft werden. Lepsius weist – wenn auch in nur knappen Klammerzusätzen – auf ein weiteres Kernproblem der epidemischen Tragweitelage hin: Die Entscheider haben sich nicht auf Fakten berufen, sondern auf Modellierungen. Und genau das ist auch die Methode, mit der in den Kontexten des Weltklimas und der Finanzarchitektur operiert wird. Eine verfassungsgemäße Beherrschung von faktischen Ausnahmezuständen erfordert jedoch kein anderes Recht, kein Abgehen von etablierter Methode und kein Absehen von denkgesetzlich konzisen Verhältnismäßigkeitsprüfungen, sondern eine präzise Tatsachenfeststellung zur Schaffung verlässlicher Entscheidungsempirie. Wer auf Basis von Modellen rechtliche Anordnungen trifft, verwechselt Möglichkeiten mit Wahrscheinlichkeiten. Dass aus alledem ein erhebliches verfassungsrechtliches Delegitimierungspotenzial folgt, hat Oliver Lepsius eindrücklich erläutert. Ich lege die Lektüre seiner Georg-Jellinek-Rede vom 23. März 2023 jedem Juristen dringend ans Herz. Der ganze Juristenstand verwaltet die juristischen Denkgesetze, wie wahr. Und alle Staatsbürger haben das Recht, eine Fehlerkultur einzufordern. Justitia, sei selbstkritisch! Denn wer sollte die Zeitbombe entschärfen, wenn nicht du?


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