22. September 2023 12:00

Gesellschaftswissenschaft Verrücktspielen

Mikrobeobachtungen

von Carlos A. Gebauer

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Bildquelle: Carlos A. Gebauer Schönst verpackt: Auch die Kirchen wollen beim allgemeinen Sich-Herausputzen nicht zurückstehen ...

Üblicherweise setzen Fußgänger beim Gehen auf dem Bürgersteig einen Fuß vor den anderen. Sieht man einen Mann, der von Gehsteigplatte zu Gehsteigplatte im wilden Zickzack über den Fußweg hüpft, neigen wir zu der Auffassung, dass er verrückt ist.

Für diese Beurteilung des Verhaltens anderer Menschen greifen wir auf unsere eigenen Erwartungen zurück. Was sich nicht in den Rahmen des gewöhnlich Erwartbaren fügt, fällt auf. Erschließt sich uns das beobachtete Phänomen nicht aus seinem Kontext als normal, gehen wir davon aus, dass es verrückt ist.

Das Verrücktheits-Verdikt gegenüber dem zickzackhüpfenden Mann kann jederzeit schnell revidiert werden. Entdecken wir auf seinem Rücken etwa eine bunte Startnummer und wird er gar anschließend von anderen Menschen verfolgt, die – mit anderen Startnummern – ebenfalls über den Bordstein springen, halten wir das Ganze schnell wieder für regelgerecht und normal. Als wäre ein kleines Mädchen über Kreidestriche gehüpft.

Das Verrücktspielen oder das Normalsein liegt also nicht exklusiv beim Spieler, sondern auch in den Augen des Betrachters. Rennen auf der untergehenden Titanic die einen nach vorne und die anderen nach hinten, sieht sich der österreichische Ökonom bestätigt: Je nach subjektiver Präferenz suchen die einen ihr Glück am Bug und die anderen am Heck. Mögen sie es! Wenn es ihnen gefällt?

In der globalen Transformation einer Weltbevölkerung zu ihrer zentral getakteten Neudefinition per 2030 stehen die einen auf den Kreuzungen und präsentieren ein Pappschild mit der Aufschrift „Hunger“. Die anderen reißen ganze Häuserblocks ab und lassen an deren Stelle imposante neue Hochhäuser wachsen. Rings um mein Büro werden derzeit die unglaublichsten Bauarbeiten durchgeführt. Paläste scheinen zu entstehen. Konsumkathedralen sind versprochen, von unglaublichsten Ausmaßen. Was nur zu fehlen scheint, sind Konsumenten, die diese heiligen Hallen füllen könnten. Denn vor den Baustellen sitzen Bettler. Ob die Erwachsenen, die mit Kinderrollern im Zickzack über die Bürgersteige rasen und an den Elenden vorbeiflitzen, die nötigen Umsätze generieren werden?

Doch nicht nur Handel und Banken putzen sich heraus. Selbst eine ganze Kirche wird liebevoll eingerüstet und verpackt, um dereinst in neuem Glanz zu strahlen. Gegenüber dieser Baustelle fehlt das Geld, eine öffentliche Rasenfläche zu pflegen. Das Grün ist erst zur Wiese mutiert und droht bisweilen in die Optik eines vergessenen Ackers zu kippen. Wären die verdorrten Halme des Schreibens kundig, trügen sie wohl Schilder mit der Aufschrift „Hunger“.

Die Welt spielt verrückt. Hoffentlich spielt sie nur. Dann könnte man wieder auf Ernst hoffen.


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