14. Oktober 2023 23:00

Überraschungsangriff? Die größten Feinde der Israelis sitzen in Jerusalem

Menschenverachtung auf beiden Seiten

von Thorsten Brückner

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Bildquelle: ChameleonsEye / Shutterstock Markttag in der israelischen Kleinstadt Sderot im Gazastreifen: Ein Bild aus friedlich(er)en Zeiten

Nicht in meinen schlimmsten Albträumen hätte ich mir vorstellen können, dass eines Tages bewaffnete Hamas-Kämpfer durch Sderot marodieren. Ich habe die Stadt an der Grenze zum Gazastreifen mehrfach besucht und war jedes Mal tief beeindruckt davon, wie normal die Menschen trotz Raketenterrors und ständigen Luftalarms ihren Alltag lebten.

Doch mit dieser Normalität inmitten eines jahrelangen Abnutzungskrieges, in dem die Gefahr fast ausschließlich vom Himmel kam, ist es seit dem vergangenen Wochenende wohl für immer vorbei. Denn obgleich Sderot heute natürlich wieder voll unter israelischer Kontrolle ist, muss der psychologische Schaden für die Menschen dort und in anderen Orten des Südens immens sein. Das Versprechen des Staates Israel, sie zu beschützen, hat der Staat Israel auf ganzer Linie gebrochen. Für viele könnte dies zu einer kathartischen Erfahrung werden. Wollen Sie ihre Loyalität wirklich einem Staat schenken, der ihren Töchtern und Söhnen zwar die besten Jahre ihres Lebens stiehlt, der aber gleichzeitig nicht in der Lage ist, sie gegen ein paar bärtige Gotteskrieger zu verteidigen?

Dass Israel vorab von der Hamas-Operation gewusst hat, steht für mich außer Frage. Die Führer der Hamas können in Gaza nicht einmal auf Toilette gehen, ohne dass Israel weiß, wo sie sich gerade aufhalten, aber eine Infiltration von über 1.000 Hamas-Kämpfern an unterschiedlichen Grenzabschnitten soll Israel kalt erwischt haben? An einer Grenze, die in 18 Jahren dank State-of-the-Art-Technologie nicht eine einzige Masseninfiltration gesehen hat? Und das fast auf den Tag genau 50 Jahre nach dem großen vermeintlichen Überraschungsangriff, von dem wir heute wissen, dass er so überraschend gar nicht war. Zumindest nicht für die politische Führung um Golda Meir und Moshe Dayan. Die Soldaten jedoch, die damals aus politischen Gründen als Kanonenfutter geopfert wurden, damit Israel nur nicht den ersten Schuss abgibt und man später einen ehrenhaften Frieden mit den Arabern schließen kann, die wurden tatsächlich überrascht. 

War es ein Versagen der Geheimdienste? Der Politik? Oder hat Israel bewusst Truppen von der Grenze zum Gazastreifen abgezogen und so einen größeren Hamas-Angriff aus politischen Gründen zugelassen? Was könnte dabei ein mögliches Ziel Israels sein? Die Beseitigung der Hamas im Rahmen einer Bodenoffensive, für die es einer internationalen Legitimation bedarf? Oder eine größere Konfrontation des Westens mit dem Iran? Ich glaube der Darstellung Teherans, dass man mit dem Angriff der Hamas am 7. Oktober nichts zu tun hat. Anders verhält es sich freilich mit der Verantwortung für eine mögliche zweite Front im Norden. Die Hisbollah feuert keine einzige Rakete auf Israel, ohne dass dies mit dem Iran koordiniert ist. Dass die US-Administration der Hisbollah nun mit einem Eingreifen droht, ist vor allem eine Botschaft an den Iran.

In Israel spricht man bereits von „unserem 11. September“. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich denke, sobald ich dieses Datum höre, immer zunächst an die Unwahrheiten, die die US-Regierung im Anschluss dem eigenen Volk aufgetischt hat – Lügen, mit denen später militärisches Eingreifen und unsagbares menschliches Leid gerechtfertigt wurden. Ich bin sehr gespannt, ob Israel am Ende eine Erklärung präsentiert, die man zumindest plausibel unter „menschliches Versagen“ einordnen kann. 

Die Journalistin Efrat Fenigson, die in den vergangenen Jahren zum Gesicht des israelischen Widerstands gegen den Covid-Terror der eigenen Regierung wurde, glaubt nicht an die These vom Überraschungsangriff. „Dieser Überraschungsangriff sieht für mich wie eine auf ganzer Linie geplante Operation aus.“ Fenigson, die selbst in einer Geheimdiensteinheit der Armee gedient hat, ergänzte: „Wenn ich Verschwörungstheoretikerin wäre, würde ich sagen, dass sich dies wie das Werk des tiefen Staates anfühlt.“ Israelis und Palästinenser seien „einmal mehr an höhere Mächte“ verkauft worden. Mir fällt die Vorstellung nicht schwer, dass dieselbe Regierung, die die Israelis 2020 an Pfizer verkauft hat, aus politischen Erwägungen erneut jüdisches Leben geopfert haben könnte. 

Laut der israelischen Regierung kämpft man nicht gegen Menschen, sondern gegen Bestien. Unterstützt wird dies durch Berichte, Hamas-Kämpfer hätten massenweise Babys enthauptet. Die Hamas bestreitet diese Darstellung übrigens vehement, während sie sich mit anderen Grausamkeiten geradezu brüstet. Zumindest sollte man die Brutkastenlüge von Kuwait 1990 im Hinterkopf behalten. Vorsichtig sollte man in Zeiten der künstlichen Intelligenz auch mit der vermeintlichen Beweiskraft von Bildern sein – auf beiden Seiten. Doch es sind nicht die Bilder, sondern vielmehr die Worte aus dem israelischen Sicherheitsapparat, die verstören. Etwa wenn man verlauten lässt, es gehe bei der Bombardierung im Gazastreifen nicht in erster Linie um militärisch relevante Ziele, sondern um „Zerstörung“. Und damit übersetzt um Terror gegen die Zivilbevölkerung, die Israel natürlich öffentlichkeitswirksam warnt in dem Wissen, dass die Menschen im Gazastreifen keinen Ort haben, an den sie fliehen können. Entschieden widersprechen muss man dennoch jenen, die Israel nun vorwerfen, in Gaza ein Massaker aus der Luft zu planen. Egal, welche Ziele Israel mit der aktuellen Operation verfolgt: Eine zu hohe Zahl ziviler palästinensischer Opfer gefährdet diese Ziele. Und das weiß Israel aus vergangenen Militäroperationen auch nur zu gut.

Noch in den 90er Jahren sind Menschen aus Sderot zum Einkaufen nach Gaza gefahren. Die ersten Jahre israelischer Besatzung in den späten 60ern, frühen 70ern wurden von vielen Palästinensern sowohl in Gaza als auch auf der Westbank als Befreiung empfunden, was mir Palästinenser immer wieder bestätigen. Man war froh, die ungeliebte jordanische Besatzung im Westjordanland los zu sein. Die Israelis haben wirtschaftlichen Aufschwung gebracht, Straßen gebaut und bei palästinensischen Händlern günstig eingekauft. Die Ägypter hatten Gaza zur Zeit ihrer Besatzung zwischen 1949 und 1967 übrigens schärfer abgeriegelt, als Israel es selbst nach Scharons unilateralem Abzug 2005 getan hat. 

Ein neuer Nahostkrieg – das ist auch wieder die Stunde für all die selbsternannten Experten und Fanclubs beider Seiten, die sich in ihrer Rechtfertigung von Gewalt gegen Unschuldige einmal mehr gegenseitig an Menschenverachtung überbieten. Es ist ermüdend zu hören, wie viele Menschen gerade jetzt in Europa wieder unreflektiert die jeweilige Propaganda nachplappern und diese für Fakten halten. Ich habe Freunde auf beiden Seiten, für deren Schutz ich jeden Abend bete. Und dennoch habe ich manchmal den Eindruck, dass ich emotional weniger involviert bin als viele deutsche Israel-Fans oder Palästina-Schreihälse. Vielleicht auch, weil ich während meiner Zeit im Nahen Osten eines gelernt habe: Die größten Feinde der Israelis sitzen nicht in Gaza, sondern in Jerusalem. Und die größten Feinde der Palästinenser sitzen nicht in Jerusalem, sondern in Ramallah und Gaza. 


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