28. Oktober 2023 13:00

Politik Das Gesetz der unerwarteten Nebeneffekte

Über Kobras, Ratten und Mohn

von Karl-Friedrich Israel

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Bildquelle: Kurit afshen / Shutterstock Der „Kobra-Effekt:“ Wenn gut gemeint es oft noch schlimmer macht

In der Politik gibt es das Gesetz der unerwarteten Nebeneffekte. Jeder politische Eingriff in die Gesellschaft zielt darauf ab, die Handlungen von Menschen zu verändern. Um bestimmte politische Ziele zu erreichen, versucht man also Menschen dazu zu bringen, Dinge zu tun, die sie sonst nicht täten. Dabei reicht es nicht, den Menschen einfach zu sagen, was man von ihnen erwartet. Alle Menschen verfolgen ihre individuellen Ziele und sind dabei geleitet von ihnen eigenen Werturteilen, Präferenzen und den persönlichen Umständen, in denen sie sich befinden. Damit die Politik ihre Ziele ohne Nebenwirkungen erreichen kann, muss sie die Individualperspektiven der Menschen, deren Verhalten sie ändern möchte, richtig einschätzen. Und das kann sie beim besten Willen niemals perfekt. Und selbst wenn es ihr gelingt, ist der Konflikt zwischen den politischen und den Individualzielen häufig nicht aufzulösen. Dann wird man selbst mit dem größten Aufwand nicht alle Menschen beugen können.    

Deshalb führen politische Eingriffe mit überwältigender Regularität zu unerwarteten Nebeneffekten. Durch ein skurriles Beispiel aus dem britisch besetzten Indien, das Ökonom Horst Siebert aufgegriffen hatte, firmieren sie heute oft unter dem schönen Namen Kobra-Effekte.

Die britischen Besatzer waren besorgt, weil es in der Stadt Delhi eine enorme Anzahl an giftigen Kobras gab. Man beschloss also, eine Belohnung auszuzahlen für getötete Kobras. Dies führte anfänglich zu einer Dezimierung der Kobrapopulation, aber findige Inder haben sehr schnell ein neues Geschäftsmodell daraus entwickelt. Sie fingen an, Kobras zu züchten, um größere Summen der versprochenen Belohnung einzukassieren. Als die britische Kolonialregierung das spitzbekam, wurde das Belohnungsprogramm abgesetzt. Die indischen Kobrazüchter haben daraufhin ihre Kobras, mit denen sie nun kein Geld mehr verdienen konnten, in die Freiheit entlassen. Dadurch war die Gesamtkobrapopulation in und um Delhi nach dem Regierungseingriff höher als davor. Man hat genau das Gegenteil von dem bewirkt, was eigentlich beabsichtigt war. Im Nachhinein ist klar, dass die Kobras aus Sicht der indischen Bevölkerung gar nicht so ein drängendes Problem waren wie für die britischen Besatzer. Mit dem Kopfgeld wurden die Kobras zum Kapitalgut und zur Einkommensquelle. Ein Narr, wer Kapital einfach so vernichtet!

Auch die französischen Besatzer von Hanoi haben eine solche Erfahrung machen müssen, allerdings mit Ratten. Damals versuchte man der Rattenplage in den Straßen und der Kanalisation Herr zu werden. Da Ratten viele Krankheiten übertragen, wollte man vermeiden, dass massenweise tote Ratten in den behördlichen Abgabestellen landen. Deshalb beschloss man, eine Belohnung auf abgegebene Rattenschwänze zu zahlen. Kurz darauf sichteten die französischen Besatzer schwanzlose Ratten in den Straßen von Hanoi. Die Vietnamesen haben die Ratten nicht getötet, sondern ihnen lediglich die Schwänze abgeschnitten, damit sie sich danach noch weiter vermehren können. Der armen vietnamesischen Bevölkerung war ein höheres Einkommen wichtiger als rattenfreie Straßen.

Es gibt unzählige solcher Beispiele. Die Muster gleichen sich immer wieder. Anfang der 2000er Jahre hat man etwa afghanischen Mohnbauern eine feste Belohnung in Aussicht gestellt, wenn sie Teile ihrer Mohnfelder vernichten. Man wollte mit dieser Maßnahme den internationalen Kampf gegen Drogen befördern. Die Afghanen trugen nämlich mit ihrem Mohn maßgeblich zur weltweiten Heroinproduktion bei. Sie verhielten sich aber nicht so, wie es sich die britischen Autoritäten erhofft hatten. Die afghanischen Bauern haben zunächst ihre Mohnfelder vergrößert, dann den Mohn geerntet und schließlich die zusätzlichen Flächen wieder zerstört, um die Belohnungen einzukassieren. Die Gesamtanbaufläche hat sich damit nicht verringert und die Gesamternte an Mohn ist sogar gestiegen. Ein afghanischer Mohnbauer hat eben andere Prioritäten als den Kampf gegen Drogen. Ihn interessiert nicht, wie viel Brown Sugar sich in den Straßen amerikanischer und europäischer Städte gespritzt wird. Ihn interessiert das Überleben seiner Familie. Man wird ihn nicht so leicht dazu bringen, seine Lebensgrundlage aufzugeben.

Man könnte durch diese Beispiele vermuten, dass das Problem vor allem dann auftritt, wenn Fremde – Besatzer und andere Regierungen – sich in die Belange einer Bevölkerung einmischen. Und das ist nicht ganz falsch. Das Problem ist hier in der Tat besonders stark ausgeprägt, denn es existiert eine noch größere Kluft zwischen den Perspektiven der Regierenden und der Regierten. Der grundsätzliche Interessenkonflikt tritt aber auch in modernen Demokratien auf. Menschen sind widerborstig. Sie haben ihre eigenen Prioritäten und Bedürfnisse. Politische Anreize, bestimmte Dinge zu tun oder zu unterlassen, können nicht einfach objektiv durch die Politik gesetzt werden, denn Anreize werden immer erst aus der subjektiven und wertenden Sicht des Einzelnen für ihre Handlungen maßgeblich.

Horst Siebert (2001): Der Kobra-Effekt. Wie man Irrwege der Wirtschaftspolitik vermeidet


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