10. November 2023 11:00

Pflanzen- und Hirnkunde Die Todesangst der Acker-Schmalwand

Zur Ethik des Kauens und Schluckens

von Carlos A. Gebauer

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Bildquelle: Ugo Calabria / Shutterstock Nachgewiesenes Angst- und Schmerzempfinden bei Pflanzen wie hier der Acker-Schmalwand: Bekommen Veganer nun Gewissensbisse?

Es hätte sich vielleicht angeboten, diesen Text – in Anlehnung an Gotthold Ephraim Lessing – mit den Worten zu beginnen: „Niemand bezweifelt, dass das Essen eines Tieres die Weltdurchschnittstemperatur in den kommenden 100 Jahren statistisch um mehr als 1,5 Grad Celsius erhöhen wird. Ich bin dieser Niemand.“ Doch mir erschien es schwierig, nach einem solchen Beginn die Erklärungskurve zu meinem eigentlichen Gegenstand nehmen zu können, ohne physikalisch machtvoll aus ihr herausgetragen zu werden und im Ergebnis damit, thematisch robust, im Ackergrund am Straßenrand zu landen. In diesem eher floraphoben Gedanken an Felder, Furchen und Wiesen streifte meine Phantasie dann allerdings geradezu zwangsläufig auch das Bild von sattem Glücksklee oder lieblicher Kresse, die lebensfroh im Winde wogt. Damit stand mein Assoziationskorridor plötzlich weit offen für die Kresse namens Arabidopsis thaliana, zu gut Deutsch: der Acker-Schmalwand. Die nämlich antwortet, wie H. M. Appel und R. B. Cocroft der Welt schon in Heft 175 der Zeitschrift „Oecologia“ (2014, 1257–1266) mitteilten, auf das Vibrieren ihrer Blätter, wenn es durch das Kauen von Insekten hervorgerufen wird. Jene Antwort der Pflanze ist eine chemische und dient offenbar ihrer Verteidigung. Und genau diese Abwehrkompetenz der Schmalwand muss zwangsläufig alle jene Menschen beschäftigen, die beispielsweise deswegen keine Forellen essen, weil die im Augenblick des Ablebens ihre (übrigens durchaus schmackhaften) Augen angstvoll weiten.

Lädt der Salat-Connaisseur bioethische Schuld auf seine chlorophyll-gestählten Schultern, wenn er einen Salatkopf scharfen Messers von der Wurzel trennt?

„Nein!“, beruhigen uns die veganen Vegetarier, die Veteranen der Veterinäre (die von den Fleischbeschauen professionell Abstand genommen haben) und die vegetationssensiblen Ernährungsbiologen: „No brain, no pain!“ – Pflanzen haben kein Hirn, also kein Bewusstsein und also tut ihnen auch nichts weh. Richtig sei zwar, entnimmt man den einschlägigen Beratungsseiten des Netzes, dass der liebliche Duft einer frisch gemähten Wiese tatsächlich ein Angstschweiß der sterbenden Grashalme sei. Weil Rasen aber dumm sei wie ein Laib Brot, bedürfe es keines Mitleids mit den Gemähten. Unsere Empathie beschränke sich besser auf die Mähenden und man verzichte also auf Osterlamm und Irish Stew.

Ob das überzeugt? Sind Pflanzen wirklich zu stumpf, um den eigenen Tod zu fürchten? Können sie nur hochverzweigte Kommunikationsnetze durch das Wood Wide Web eines Waldes knüpfen, artenübergreifend Hilfe herbeisignalisieren, spontan stinken und ungenießbar werden, mit Pilzkolonien Gesellschaften und Gewerkschaften gründen, Parasiten subventionieren und Wirte abkassieren, Stresssignale absondern, sich immunisieren und sich parfümieren – aber den drohenden eigenen Tod nicht erspüren?

Appel und Cocroft fanden übrigens heraus, dass die Acker-Schmalwand es für ungefährlich hält, wenn ein Insekt nicht an ihr herumkaut, sondern ihre Blätter nur durch Gesänge zum Vibrieren bringt. Ich halte daher die Frage für legitim: Wenn ein vom Menschen als „Unkraut“ belächelter Kreuzblütler zu solchen feinsinnigen Differenzierungen fähig ist – wie kann man sich dann anmaßen, ihn in Überlebensfragen für strunzdumm zu halten? Vielleicht haben Schotenkresse und Gänserauke weit mehr im Kopf als mancher Gemüseprediger, und dem kulinarischen Pansenneider fehlt nur schlicht das eigene Sensorium, seine Kauattacken und Schluckexzesse als Ursache des Gräserzitterns zu entschlüsseln?

Die Natur ist kein Streichelzoo, in den man unschuldige Kreaturen lebenslang einsperrt, sie in künstlichem Licht und unter mühevoll artgerechten Fake-Bedingungen hält, sie ausstellt, ungezählten unkonsentierten Berührungen aussetzt, ihnen Ausweichmöglichkeiten gegenüber Artgenossen verunmöglicht und sie von wechselnden Pflegern ernährt, als lägen sie auf der Allgemeinstation eines kommunalen Krankenhauses. Es ist schlimmer. Die Natur ist ein Dschungel, alles Leben ist Essen, Kauen, Vertilgen und Vergehen. Der hauchdünne Pfad kultureller Manierlichkeiten will täglich tausendfach neu entdeckt werden. Nichts zu essen, was Augen hat, macht den Menschen nicht schon für sich zum moralischen Sieger. Nichts Sicheres über das Klima zu wissen, macht den Planeten nicht kühler. Niemand bezweifelt, dass praktizierter Anstand anderen Kreaturen gegenüber eine Selbstverständlichkeit ist. Ich bin dieser Niemand.


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