02. Februar 2024 11:00

Weltliteratur Die angebliche Zwangsläufigkeit der Planwirtschaft

80 Jahre nach „The Road to Serfdom“ (Teil 5)

von Carlos A. Gebauer

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Bildquelle: Ian Thorpe / Flickr (CC BY-NC-ND 2.0 Deed) „Fasces“- (Ruten-) Bündel – von dem sich der Begriff „Faschismus“ ableitet: Wurde unter Mussolini als Zeichen von Recht und Ordnung wieder eingeführt

Das vierte Kapitel liefert in seinem Kern die ökonomische Dekonstruktion einer scheinplausiblen gesellschaftspolitischen Position durch Rationalisierung ihrer (zugestandenermaßen: zunächst kontraintuitiven) Gegenposition. Hayek stellt dem Kapitel ein Zitat voran, das – obgleich inzwischen fast 100 Jahre alt – bis heute nichts von der verführerischen Kraft seiner bei flüchtigem Blick überzeugenden Evidenz verloren hat: „Wir waren die Ersten, die erklärt haben, dass die Freiheit des Individuums umso mehr beschränkt werden muss, je komplizierter die Zivilisation wird.“

Führt man dieses Zitat in eine beliebige Erörterung ein, wird man mit sehr hoher Sicherheit für das darin liegende Argument zunächst immer wieder schnell Zustimmung zu ernten. Doch in der Scheinplausibilität der Erwägung und in der gerade durch sie bewirkten bereitwilligen Akzeptanz des vorgestellten Prinzips liegt leider die Ursache jener gesellschaftlichen Gewalt, die das Argument in der Geschichte immer wieder mit fatalen Konsequenzen entfaltet: Ja, der Einzelne muss sich in der Tat bei der wachsenden Ausdifferenzierung der Zivilisation in eine immer unübersichtlicher werdende, hocharbeitsteilige, hyperkomplexe Weltsituation mit erheblicher Anpassungsfähigkeit einfügen. Je simpler die Umstände, desto geringer die Adaptionsanforderungen; je verworrener die Gesellschaft, desto schwieriger das Anpassen. Aber die herausfordernde Leistung, sämtliche nötigen Adjustierungen an situativ immer neue Lagen meistern zu können, muss unausweichlich von einem handelnden Subjekt erbracht werden. Das Einfügen in die jeweilige Lage zur Beherrschung der konkreten Situation erfordert also, diese Lage sinnlich zu erkennen, sie gedanklich zu begreifen, sie mit den gegebenen (eigenen und fremden) Zielstellungen abzugleichen, die eigenen tatsächlichen Einflussmöglichkeiten abzuschätzen, den eigenen Einfluss dann wirklich auszuüben, die Auswirkungen daraus zu beobachten und alles anschließend weitere Agieren in die Dynamik der sich konsequent fortentwickelnden Umstände einzuweben.

Dieser Geschehensablauf aus Kognition und Reaktion, aus Lageanalyse und bewusst gewolltem zielgerichteten Eingreifen in die Welt kann schlechterdings nicht sinnvoll aus einer ortsfernen, selbst unbeteiligten Zentrale bewerkstelligt werden, sondern – soll es effektiv und effizient zugehen – eben nur von demjenigen Subjekt, das fern der Zentrale in der jeweils gegebenen, einzigartig peripheren Handlungsherausforderung steht. Je verworrener die Gesamtumstände werden, desto individueller wird also auch die Aufgabe, sie zu meistern. Jedes ferne, persönlich unbeteiligte abstrakte „Wir“ muss angesichts dieser Schwierigkeiten scheitern.

Durch diese Vorüberlegungen wird nun klar, warum das Zitat, demzufolge die individuelle Freiheit „beschränkt werden muss“, in der realen Welt stets fehlgeht. Denn die Freiheit kann eben an dieser Stelle nicht sinnvoll von einer steuernden Instanz willentlich beschränkt und erfolgreich geleitet werden. Die individuelle Freiheit wird vielmehr durch die gleichsam chaotischen Umstände einer komplexen Gesellschaft selbst ungeplant beschränkt und muss in dieser Lage die Problemlösung selbst bewerkstelligen. Dies kann kein fernes „Wir“ mit Erfolg leisten, sondern nur dasjenige individuelle Subjekt, das in der betreffenden Situation steht. Dass ausgerechnet der italienische Diktator Benito Mussolini der Urheber jener eingangs zitierten zentralplanerischen Scheinklugheit aus dem Jahre 1929 ist, kann also nicht erstaunen: Die faschistische Illusion, Menschen seien gedeihlich wirkmächtiger, wenn man sie zu Rutenbündeln verschnürt, verwechselt Größe mit Kraft und Gewalt mit Zielgenauigkeit.

Aus der Sicht seines Publikationsjahres 1944 stellte sich Hayek daher eine diskursive Situation dar, in der man den kleinteilig kreativen Wettbewerb unter verschiedenen individuellen Konkurrenten – gemäß der marxistischen Theorie über die „Konzentration des Kapitals“ – für überwunden hielt: „Die angebliche technische Ursache für das Anwachsen des Monopolismus soll die Überlegenheit des Großbetriebs über den Kleinbetrieb sein“. Denn „der Vorteil der Massenproduktion (liege) unweigerlich in der Beseitigung des Wettbewerbs“. Hayek erklärte, dass diese Konzentrationsthese nicht überzeugend ist. Empirisch zeichnete er nach, wie insbesondere die deutsche Volkswirtschaft ab dem Jahre 1878 systematisch eine bewusste Bildung von Riesenmonopolen durch Staatssubventionen betrieben hatte: „Wenn die Deutschen und alle Völker, die ihr Beispiel nachahmen, sich immer mehr einer totalen Planwirtschaft verschreiben, so folgen sie nur der Linie, die einige Denker des 19. Jahrhunderts, vor allem in Deutschland, ihnen vorgezeichnet haben.“

Tatsächlich aber ist Hayeks Erkenntnis zufolge ein freier, suchender Wettbewerb unter kreativen Individuen jeder zentralen Planung ausgerechnet dort überlegen, wo die Lage definitiv unübersichtlich wird: „Weit entfernt davon, nur auf relativ einfache Verhältnisse anwendbar zu sein, wird der Wettbewerb gerade durch die Verwickeltheit der modernen Arbeitsteilung zur einzig brauchbaren Koordinierungsmethode. In dem Maße, wie die Faktoren, die zu berücksichtigen sind, so zahlreich werden, dass man die Übersicht verliert, wird Dezentralisierung notwendig. Aber ist diese Dezentralisierung einmal geboten, dann taucht das Problem der Koordinierung auf. Jene Koordinierung, die es einzelnen Wirtschaftsteilnehmern erlaubt, ihre Tätigkeit denjenigen Gegebenheiten, die gerade nur sie selber erkennen können, anzupassen, wodurch gerade nach allen Seiten eine Abstimmung der individuellen Pläne möglich wird. Weil diese Dezentralisierung also notwendig geworden ist, liegt auch auf der Hand, dass die Koordinierung nicht durch eine ‚bewusste Überwachung‘ verwirklicht werden kann. Da nämlich niemals alle Einzelumstände einer einheitlichen Zentrale bis in das Letzte bekannt sein und die Daten von ihr nicht schnell genug erfasst und verarbeitet werden können, braucht es einen (scilicet: dezentralen) Funktionsmechanismus, der automatisch alle bedeutsamen Wirkungen und individuellen Handlungen aufzeichnet. Aus ihm ergeben sich dann die Wirkung und die Ursache aller weiteren individuellen Entscheidungen. Und dies ist genau die Aufgabe, die in einem Wettbewerbssystem der Preismechanismus erfüllt.“

Rückblickend auf die zu diesem Zeitpunkt historisch gewachsene Ausdifferenzierung der Volkswirtschaften wagt Hayek die These, dass „wenn wir für die Entwicklung unserer Wirtschaftsordnung bewusst auf Zentralplanung angewiesen gewesen wären, sie niemals jenen Grad der Differenzierung, Komplexität und Elastizität hätte erreichen können, der tatsächlich zu beobachten ist“. Aber Hayek geht hier sogar noch einen Schritt weiter. Er webt in seine Erkenntnis eine ernste Mahnung ein: „Wird das Wirtschaftssystem noch komplexer, dann wird nicht etwa eine zentrale Steuerung, sondern die Anwendung einer Koordinierungsmethode, die gerade nicht auf eine solche bewusste Lenkung angewiesen ist, zur, zwingenden Notwendigkeit.“ Diese Weichenstellung werde dann für Gesellschaften „geradezu zu einer Lebensfrage“.

Während also – wie man es heute wohl nennen würde – die damalige ökonomische Debatte die Effizienzgewinne aus industriellen Skaleneffekten als den Sieg (staatlicher) Gesamtplanung über den kleinteiligen Wettbewerb missverstand, plädierte Hayek bereits dafür, in allen volkswirtschaftlichen Kontexten hinreichende Spielfelder für Überraschungen zur freien Entwicklung zu reservieren: „Das Argument zugunsten der Freiheit ist, dass wir einen gewissen Spielraum für das nicht vorauszusehende spontane Wachstum reservieren sollten.“

Hayek findet in diesem Kontext auch eine plausible Erklärung dafür, warum gerade Experten so oft dem Gedanken einer staatlichen Gesamtplanung huldigen. Das Phänomen hängt in seiner Analyse „eng mit der wichtigen Tatsache zusammen, dass fraglos fast jedes einzelne der technischen Ideale unserer Fachleute in verhältnismäßig kurzer Zeit verwirklicht werden könnte, wenn genau nur seine [singuläre] Verwirklichung zum einzigen Ziel der [ganzen] Menschheit erklärt würde“. Statt aber über „die herrlichen Autostraßen in Deutschland und Italien“ als Produkt staatlicher Planwirtschaft zu schwärmen, sollte man sich zugestehen, „dass solche auf die Spitze getriebene technische Vollkommenheit, die zu den allgemeinen Lebensbedingungen in Widerspruch steht, letztlich nur die Fehlleitung der Produktionsmittel beweist“. Aus genau diesem Grunde werden just jene Menschen, die am meisten von der Planwirtschaft begeistert sind, zur größten Gefahr des innergesellschaftlichen Friedens, wenn man sie gewähren lässt. Denn Hayek beobachtete in ihnen die „intolerantesten Gegner der Planwirtschaft eines jeden anderen“. Und diese denknotwendig zwangsläufige wechselseitige Intoleranz aller Freunde des Gesamtplanprinzips bleibt dann auch nicht ohne Auswirkung auf die emotionalen Befindlichkeiten der Beteiligten: „Von der Hingabe und Einseitigkeit des Idealisten zum Fanatismus ist oft nur ein einziger Schritt.“

Mit diesen Darstellungen ist das thematische Feld bereitet, um sich in den drei folgenden Kapiteln mit dem Phänomen der Planwirtschaft in ihrem Verhältnis zu Demokratie, zu Rechtsstaat und zu Totalitarismus zu befassen.

(wird fortgesetzt)


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