03. Mai 2024 06:00

Wilhelm Reichs Massenpsychologie des Faschismus – Teil 4 Verlust der revolutionären Partei

Die Partei, die Partei hat nimmer recht

von Stefan Blankertz

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Bildquelle: Store norske leksikon Bereits 1933 sagte Wilhelm Reich: Dass die „Massenorganisierung gelang, lag an den Massen und nicht an Hitler“

Was wird aus der revolutionären Partei ohne revolutionäres Subjekt (siehe Folge 3 der Serie)? Sie müsste sich um ein neues revolutionäres Subjekt kümmern, fragen, wer Träger einer Revolution sein könnte, die zu Freiheit, Frohsinn und Frieden führt. Das aber taten die kommunistischen Parteien gerade nicht. Sie hielten an ihren Machtergreifungsphantasien fest und wurden damit zu genuin faschistischen Parteien. Die Analyse dieser Transformation ist ein Meisterwerk von Wilhelm Reich, aber sicherlich auch der Aspekt, der seine Verfolgung durch die (bolschewistischen) (Staats-) Kommunisten befeuerte.

1946 wandte Wilhelm Reich sich scharf gegen die Erklärung des Siegs der Nationalsozialisten durch die schlichte Manipulationsthese: „Die Unkenntnis der charakterlichen Struktur der Menschenmassen ergibt immer wieder unproduktive Fragestellungen. Die Kommunisten erklärten zum Beispiel die Machtergreifung durch den Faschismus aus der irreführenden Politik der Sozialdemokraten. Diese Erklärung führte im Grunde in eine Sackgasse, denn es war ja eben ein Wesenszug der Sozialdemokratie, Illusionen zu verbreiten. Diese Erklärung ergibt also keine neue Praxis. Ebenso unproduktiv ist die Erklärung, die politische Reaktion hätte in Gestalt des Faschismus die Massen ,vernebelt‘, ,verführt‘ und ,hypnotisiert‘. Das ist und bleibt die Funktion des Faschismus, solange er existiert. Solche Erklärungen sind unproduktiv, weil sie keinen Ausweg ergeben. Die Erfahrung lehrt, dass die tausendfältige Enthüllung solcher Art die Massen nicht überzeugt, dass also die sozial-ökonomische Fragestellung allein nicht genügt.“

1933 klang das noch etwas anders, aber jedenfalls bereits so, dass die getroffenen Hunde jaulten. Sie rotteten sich zusammen, um in ihrer Niederlage wenigstens den Renegaten zu zerfleischen: „Die Ablehnung der psychologischen Beobachtung und Praxis in der proletarischen Politik ergab bisher in den Diskussionen eine unproduktive politische Fragestellung. Die Kommunisten erklärten zum Beispiel die Machtergreifung durch den Faschismus aus der illusionären, irreführenden Politik der Sozialdemokratie. Diese Erklärung führt im Grunde in eine Sackgasse, denn es ist ja eben die Funktion der Sozialdemokratie, als objektive Stütze des Kapitalismus, Illusionen zu verbreiten. Das wird sie immer tun, solange sie besteht. Diese Erklärung ergibt keine neue Praxis. Ebenso unproduktiv ist die Erklärung, die politische Reaktion hätte in Gestalt des Faschismus die Massen ,vernebelt‘, ,verführt‘ und ,hypnotisiert‘. Das ist und bleibt die Funktion des Faschismus, solange er existiert. Es ist unproduktiv, weil es keinen Ausweg zeigt, die Politik nur auf die objektive Funktion einer kapitalistischen Partei, nämlich Stütze der kapitalistischen Herrschaft zu sein, zu begründen. Man muss natürlich die objektive Funktion der Sozialdemokratie und des Faschismus enthüllen. Die Erfahrung lehrt …“

„Vernebeln“, „verführen“ und „hypnotisieren“ – das sind die Vokabeln, welche die bürgerliche Geschichtsschreibung auch nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem in Westdeutschland bemühte, um den Erfolg des Nationalsozialismus zu beschreiben. Ihr zufolge sollten es drei Reduktionen sein, dem Volk einzubläuen:  

Erstens: Es war nur Hitler.  

Zweitens: Es war nur Verführung.

Drittens: Es gab weder ökonomische noch psychologische Gründe dafür, dass der Nationalsozialismus gesiegt hatte – kein Versagen der Demokratie und kein Versagen des Staats, der mit seinen Interventionen in das freie Handeln die Probleme schuf, aus denen die Menschen heraus sich einen Führer wünschten, der Licht ins Dunkel bringe (und ins tiefe Dunkel führte).

Dagegen analysierte Wilhelm Reich bereits 1933: Dass die „Massenorganisierung gelang, lag an den Massen und nicht an Hitler“. „Es ist irreführend, wenn man den Hitlerischen Erfolg allein aus der Demagogie der Nationalsozialisten, mit der ,Vernebelung der Massen‘, ihrer ,Irreführung‘ oder gar mit dem vagen, nichtssagenden Begriff der ,Nazipsychose‘ zu erklären versuchte, wie die Kommunisten und später andere Politiker es taten. Kommt es doch gerade darauf an zu begreifen, weshalb sich die Massen der Irreführung, Vernebelung und psychotischen Situation zugänglich erwiesen. Ohne die genaue Kenntnis dessen, was in den Massen vorgeht, kann man das Problem nicht lösen. Die Angabe der reaktionären Rolle der Hitler-Bewegung genügt nicht. Denn der Massenerfolg der NSDAP widersprach dieser ihrer reaktionären Rolle. Millionenmassen bejahten ihre eigene Unterdrückung, ein Widerspruch, der nur massenpsychologisch, und nicht politisch oder ökonomisch, zu lösen ist.“

Hitler ist nicht die Ursache des Nationalsozialismus und Autor seines Sieges, sondern nur dessen Ausdruck. Ist das so schwer zu verstehen? Nein. Aber diejenigen, die das System bewahren wollen, das den Nationalsozialismus hervorbrachte, wollen es nicht hören, nicht wahrhaben.

Doch auch Reichs Worten eignet eine Verwirrung. Denn es bleibt eine Fixierung auf die „erfolgreiche“ Praxis bestehen. Gemessen an dieser Fixierung müssten wir seine Theorie ebenfalls ablehnen, denn auch sie hat keinen Ausweg gefunden und zu keiner neuen Praxis geführt, die wahrhaft die Freiheit brachte. In den USA wurde er verfemt, sein Labor durch die Staatsterroristen der FDA zerschlagen, sein Andenken, abgesehen von dem kurzen Aufglimmen in den 1960er Jahren, ist vergessen, überantwortet den Esoterikern und den Okkultisten, die den Naturwissenschaftler verhöhnen. Und keine neue Praxis, nirgends. Stattdessen neuer Faschismus, der sich als Freiheitskampf aufspielen kann, weil die herrschende linke Praxis die Worte der Emanzipation und sexuellen Befreiung okkupiert hat, um sie in ihr Gegenteil zu verkehren. Das Prinzip der FDA ist heute in aller Munde: das behauptete Recht der Staatsgewalt, die Bürger zu ihrem Besten zu bevormunden.

Vorsichtig tastend arbeitet sich Wilhelm Reich aus dem parteikommunistischen Paradigma heraus. Wenn einerseits die Parteikommunisten darauf bestehen, alle Gesellschaft ausschließlich aus den ökonomischen Interessen zu erklären, andererseits angesichts von solchen sozialen Entwicklungen, die ihren Voraussagen entgegenlaufen, auf Irreführung und Vernebelung zurückgreifen, tut sich klarerweise ein Widerspruch auf. Wie wenig Irreführung und Vernebelung auch erklären mögen, sie sind auf jeden Fall psychologische und keine ökonomischen Kategorien. Was Reich nicht realisiert, weil er seinen mitgebrachten Antikapitalismus kaum zu überwinden weiß, ist, dass die Massen ein durchaus ökonomisches Interesse an die staatliche Herrschaft bindet: Sie hängen der Illusion an, dass der Staat ihnen helfen kann, den Unwägbarkeiten des Marktes zu entkommen; Unwägbarkeiten, die zumindest teilweise ihrerseits Folgen staatlicher Interventionen sind. Und selbst Reich kann sich dieser Illusion nicht völlig entziehen, wie seine Huldigung an Otto Strasser als klugen, ehrlichen und denkenden Revolutionär zeigt. Vielmehr ist der Antikapitalist in jeder Form und Farbe der Konterrevolutionär par excellence.

Frage 1933: „Weshalb lassen sich die Massen politisch beschwindeln? Sie hatten alle Möglichkeiten, die Propaganda der verschiedenen Parteien zu beurteilen. Weshalb entdeckten sie nicht etwa, dass Hitler den Arbeitern Enteignung des Besitzes an Produktionsmitteln und den Kapitalisten Schutz vor Enteignung gleichzeitig versprach?“ Darum, weil es die Struktur der staatlichen Politik ausmacht, zu behaupten, im Schnittpunkt der widerstreitenden Interessen das Optimum des Allgemeinwohls realisieren zu können, und zwar dieses Allgemeinwohl mit Gewalt herzustellen, was den freiwilligen Interaktionen zwischen Menschen nicht gelingen sollte. Wilhelm Reich war dabei, es zu realisieren, wie sein Begriff der „Arbeitsdemokratie“ zeigt, mit dessen Darstellung er die Neubearbeitung der „Massenpsychologie“ beschließt. Dennoch drang das Bewusstsein über diese Erkenntnis nicht so weit, dass er Stellen wie jene hinreichend zu überarbeiten verstand. Vielmehr mühte er sich ab, die Ursachen für die Katastrophe der Massenpsychologie Tausende von Jahren in die graue Vorzeit der Menschheit zu datieren und damit kaum fassbar und noch weniger änderbar erscheinen zu lassen. Ich kann mir gut vorstellen, dass der Wahn einen ergreift, falls man versucht, mehrere Tausend Jahre Geschichte zu korrigieren, um nicht einfach mal einen anderen Ansatz zu versuchen, als er in den letzten Jahrzehnten vorherrschte: Freiwilligkeit statt Staatsgewalt.

In der Umformulierung eines Konditionalsatzes zeigt sich Wilhelm Reichs veränderte Sichtweise. 1933: „Enttäuschung an der Sozialdemokratie bei gleichzeitig wirkendem Widerspruch zwischen Verelendung und konservativem Denken muss ins Lager des Faschismus führen, wenn die revolutionäre Partei schwere Fehler begeht.“ Den Vorwurf, schwere Fehler begangen zu haben, hörten die Genossen nicht gern; aber immerhin bezeichnete Reich sie noch als Revolutionäre. In der Fassung von 1946 veränderte er den Satz dahingehend, „wenn es keine revolutionäre Organisation gibt“.

1933 kritisierte Reich an der Partei noch „schwere Fehler“, 1946 gab es sie (rückwirkend betrachtet) überhaupt nicht. Das ist der Bankrott des Staatskommunismus als der revolutionären Partei. Es gibt sie – die „revolutionäre“ Partei – nicht. Es hat sie auch niemals gegeben.


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