Wer ist „wir“? „Wir“ als Ausrede für die eigene Ohnmacht!: Warte auf das „Wir“, und du wartest vielleicht ewig
Das „Wir“ ist nichts ohne Namen und Gesicht
von Manuel Maggio
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Es passiert auch mir des Öfteren, dass ich in einem Satz das Wort „wir“ verwende. Ich benutze es manchmal absichtlich, obwohl ich es besser wissen müsste. Meine Frau macht da immer einen guten Job und weist mich beim Schreiben darauf hin, ich solle doch mit dem „Wir-Geschwurbel“ aufhören. Wo sie recht hat, hat sie recht.
In der Überschrift habe ich geschrieben, dass das „Wir“ nichts wert ist, wenn wir keine Gesichter und Namen dazu kennen. Sie werden sich vielleicht fragen, was ich damit eigentlich sagen möchte.
Wer ist dieses „Wir“? Bei der eigenen Familie mag es funktionieren. Ohne Probleme kann ich alle meine Verwandten aufzählen und bei ihrem Namen nennen. Okay, nicht ganz – aber zumindest alle, die ich bisher kennenlernen durfte. In einem örtlichen Verein mag es auch ein funktionierendes „Wir‘“ geben. Ebenso in einem Dorf oder einer kleinen Gemeinde. Aber irgendwann wird das „Wir“ zu einer Illusion oder Fiktion. Wo ich hier die exakte Grenze ziehen würde, kann ich nicht genau sagen, aber ab einer Gruppengröße von 100 oder 200 Menschen wird es zunehmend schwerer, dass sich wirklich alle kennen. Jede Gruppe, die so groß ist, dass sie von den Menschen in dieser Gruppe selbst nicht begriffen werden kann, ist meines Erachtens zu groß. Die Vorteile der Gruppenzugehörigkeit gehen immer mehr verloren, je größer und zugleich anonymer diese Gruppe wird – bis es am Ende nur noch ein Konzept oder eine Idee ist, die sich zwar Gruppe XYZ nennt, aber faktisch nicht wie eine echte Gruppe funktioniert.
Jede Verwendung von „wir“ ist daher in meinen Augen falsch, wenn es nur um eine solche fiktive Gruppe geht. Selbst wenn ich einen Satz mit den Worten „Wir, die freiheitsliebenden Menschen sehen dies so oder so“ beginne, ist das faktisch eine Lüge – denn habe ich sie vorher alle gefragt, um dies wirklich behaupten zu können? Daher: Sollte ich das „Wir“ mal wieder verwenden, ist dies ein gewolltes Stilmittel und ich bin mir meines Widerspruchs bewusst.
Nun aber zu einem weiteren, eher negativen Aspekt des fiktiven „Wir“, das ein falsches Gefühl von Sicherheit geben kann und dadurch die Menschen vom individuellen Handeln abhält, worauf ich später noch etwas genauer eingehen werde. Sie kennen alle den Begriff des „Wir-Gefühls“. In den meisten Fällen wird es sich auch hier nur um eine verkümmerte Version desselben halten. Auf wen kann man sich denn – wenn es darauf ankommt – wirklich verlassen? Das sind sicher nicht die Fans oder Follower aus dem Internet, sondern die Menschen, zu denen ich eine echte Beziehung habe. Das Wir-Gefühl wird heute durch Fußballmannschaften und die Parteienlandschaft ersetzt, und man feiert die Erfolge einer Mannschaft oder einer Partei, wobei man selbst nur eine Statistenrolle einnimmt. Das echte Bedürfnis nach Zusammenhalt und gemeinsamem Erfolg wird hier durch andere Gruppendynamiken ersetzt. Am Ende gewinnt eben nur die Mannschaft oder die Partei, und man selbst versagt vielleicht im eigenen Leben auf ganzer Linie. Aber wie heißt es so schön: „Wir haben gewonnen!“ Oder: „Wir sind Weltmeister!“ Zumindest im Basketball, habe ich irgendwo gelesen.
Fassen wir an dieser Stelle zusammen – Mist, schon wieder –, ich meine natürlich: Ich fasse jetzt mal meine Gedanken an dieser Stelle für Sie zusammen. Echter Zusammenhalt kann nur unter Menschen stattfinden, die sich kennen und auch für ihre Handlungen in der besagten Gruppe Verantwortung übernehmen. Ersatzgruppen, die so groß sind, dass sie nicht mehr in sich funktionieren, werden als Konstrukt erschaffen, um Herrschaft und Verwaltung von Menschen zu rechtfertigen und die Bedeutung der echten Gruppen verblassen zu lassen. Ein starker Staat kann auf Dauer nur mit schwachen Familienstrukturen aufrechterhalten werden – so sehe ich das zumindest. Das Angebot an falschen oder fiktiven Gruppen samt vorgespieltem Wir-Gefühl ist enorm – auch dank Social Media natürlich; doch man kann sich im Leben eben nicht um alles kümmern. Und so wird dann eben der Verein oder die Partei vergöttert, aber die Familie weiter vernachlässigt.
Wie hält eigentlich das „Wir“ das Individuum vom Handeln ab? Wie versprochen, habe ich auch hier einen möglichen Denkansatz gefunden. Ganz einfach: indem man immer darauf wartet, das andere mit der Veränderung beginnen, damit das „Wir“ es richten wird. Wenn wir genug sind, dann wird alles gut. Sobald wir die Mehrheit haben, wird sich alles ändern. All diese Aussagen – und ich könnte noch viele aufzählen – haben etwas gemeinsam: Sie schaffen eine Abhängigkeit von einem „Wir“, doch dieses „Wir“ wird niemals eintreten, da es reine Fiktion ist.
Und nicht vergessen: Wir schaffen das!
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