Wie ich der Wehrpflicht entkommen bin: Sie wollten meine Freiheit, doch ich hatte einen Plan
Bundeswehr? Nein danke
von Manuel Maggio
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Es wird so ungefähr im Jahr 2000 oder 2001 gewesen sein, da bekam ich – wie alle jungen Männer zu dieser Zeit – einen Musterungsbrief vom Kreiswehrersatzamt. Damals galt noch die Wehpflicht und man wurde unter Androhung von Zwang einberufen. Wer sich dem Dienst an der Waffe entziehen wollte, hatte auch damals schon eine Option: den sogenannten Zivildienst – eine Zwangstätigkeit, vergleichbar mit einem Arbeitsdienst in einer sozialen. Ich erinnere mich, dass vor allem die Plätze in den Altersheimen bei den Kriegsdienstverweigerern recht begehrt waren, auch wenn den einen oder anderen Heranwachsenden dann auch dort die Realität der Arbeitswelt einholen konnte. Wie der Titel schon vermuten lässt, habe auch ich mich damals gegen den Wehrdienst entschieden, doch mit einer Zwangsalternative, genannt Zivildienst, wollte ich mich ebenfalls nicht zufriedengeben.
Es war in den letzten Monaten meiner Lehrzeit als Chemikant, als ich den Musterungsbescheid im Briefkasten vorfand. Auch wenn es natürlich keine allzu große Überraschung darstellte, weiß es noch genau, dass es sich unangenehm anfühlte, ganz nach dem Motto: Mist, sie haben mich doch nicht vergessen. Garantiert habe ich mich zu dieser Zeit noch nicht als Voluntarist oder Anarchist gesehen, doch war mir sehr schnell klar, dass ich da einen anderen Ausweg finden müsste und ich mich nicht zu einem Dienst verpflichten ließe. Nachdem ich zu dieser Zeit bereits ein Angebot für eine Festanstellung und einen unbefristeten Arbeitsvertrag in der Tasche hatte, waren es auch ganz einfach wirtschaftliche Gründe, wieso ich dem Zwangsdienst komplett entfliehen und direkt in den gut bezahlten Job einsteigen wollte.
Mir war schon die ein oder andere Geschichte bekannt, mit welch kreativen Ideen man durch die Musterung fallen konnte und einem somit auch der Zivildienst erspart blieb. Ich erinnere mich noch an absichtliche Fehlstellungen der Hüfte durch tagelanges Gehen mit einem Bein auf der Straße und mit dem anderen auf dem Bürgersteig. Ein anderer Kumpel hatte wohl in der ersten Nacht in der Kaserne eine Panikattacke und dabei ins Bett gemacht, auch der war danach dann ausgemustert. Beides wirkte auf mich aber weniger praktikabel. Mich selbst wirklich körperlich zu verletzen, schied auch sofort aus, da dies, wie ich fand, doch wieder ein zu hoher Preis gewesen wäre. Ein anderer aus dem Bekanntenkreis meiner Schwester hatte es wohl mit einer etwas übertriebenen Liebe zu Waffen und zum Einsatz in einem Kriegsgebiet geschafft, durch das Raster zu rutschen, aber auch dies hätte ich niemals so gut spielen können. Ich dachte fast täglich daran, mit welcher, nennen wir es vorsichtig List ich am Tag der Musterung den Fängen des Staates entfliehen könnte.
Ich überlegte einerseits, womit ich die besten Chancen hätte, nicht entdeckt zu werden, und andererseits, was ich schlussendlich selbst überzeugend rüberbringen könnte. Ungefähr drei Wochen vor dem Musterungstermin hatte ich einen Plan, den ich dann auch erfolgreich durchzog und bis heute öffentlich geheim gehalten habe. Schnell war mir klar, dass ich ein psychisches Leiden vorbringen müsse, etwas, was nicht so einfach physikalisch überprüfbar wäre. Ich entschied mich für eine Depression und eine gewisse Angststörung. Ich selbst hatte damals nicht an eine mögliche Diagnose gedacht, sondern ausschließlich daran, mit welchem Verhalten ich als wehruntauglich eingestuft werden könnte – nur darum ging es mir.
Zu meinen Vorbereitungen gehörte auch der Kauf einer „Alt-Herren-Unterhose“ – Sie wissen bestimmt, was ich meine, so eine weiße mit Eingriff vorne. Diese Unterhose hatte ich dann bei einigen Sporteinheiten an und nach dem Toilettengang achtete ich insbesondere darauf, auch noch ein paar Tropfen in die Hose zu bekommen. Komplettiert wurde mein Outfit durch eine leicht versiffte Kordhose und ein altes Karohemd. Da ich extrem unangenehm wirken wollte, sollte es am entsprechenden Outfit auf keinen Fall scheitern.
Der Tag der Musterung war gekommen und so fuhr ich in besagtem Kostüm zum Kreiswehrersatzamt. Dort gab es eine Art Warteraum mit einem Empfangsschalter. Ich dachte mir, dass ich dies perfekt durchziehen müsse, da es anderenfalls am Ende noch schiefginge und die mich einkassierten. Also drückte ich bereits beim Erstkontakt mit einer Mitarbeiterin am Empfang die ersten Tränen heraus und erzählte der Dame, dass ich nicht wisse, ob ich das heute durchstehe. Sie war sichtlich besorgt, brachte mich nach draußen in den Warteraum und versicherte mir, dass sie direkt mit der Ärztin, welche die Musterung durchführe, sprechen würde und ich hier warten und keine Angst haben solle. Als die Dame gegangen war, vermied ich jede Art von Augenkontakt mit den anderen im Warteraum und ließ die Tränen einfach weiter die meine Backen herunterlaufen. Nach kurzer Zeit rief man mich auch direkt vor allen anderen ins, ich nenne es mal Untersuchungszimmer, wo zwei Damen, vermutlich Ärztinnen in Uniform, saßen, die mich fragten, was denn nun los sei. Auch hier vermied ich jeden Augenkontakt und begann zu erzählen, während meine Hand unentwegt nervös über die Kante des Schreibtisches strich. Ich saß ihnen gegenüber am gleichen Tisch, nur mit etwas mehr Abstand zu diesem, und habe mich dann extra über ihn gelehnt, damit ich besser an der Tischkante streicheln konnte.
Zusammengefasst berichtete ich von enormer Angst davor, mein einziges Umfeld, meinen Arbeitsplatz im Ausbildungsbetrieb, zu verlieren. Zivildienst oder Bundeswehr würde mir die einzigen Menschen nehmen, zu denen ich seit Beginn meiner Lehre endlich eine Bindung habe aufbauen können, was mir in Bezug auf meine Familie oder Freunden niemals gelungen sei. Diese Angst, nun alles zu verlieren, wenn man mich aus dem Job nehme, quäle mich nun seit Wochen und ich könne kaum mehr schlafen und verspürte keinerlei positive Emotionen mehr. Das Ergebnis der Musterung war eine Überweisung zu einem Psychiater, der dieselbe Story zu hören bekam – lediglich auf das Outfit habe ich bei ihm verzichtet. Ich wurde an seltsame Maschinen angeschlossen und im Nachhinein betrachtet hätte die Sache auch genau hier beim Psychiater komplett schiefgehen können. Als ich die ersten drei oder vier Sitzungen hinter mir hatte, fand sich schließlich der Musterungsbescheid in meinem Briefkasten, woraufhin ich den Kontakt zum Psychiater ohne weitere Erklärung abbrach. Ich hatte es nun also schriftlich: T5 (nicht wehr-/dienstfähig). Nach einem Jahr kam dann noch eine Nachmusterung, die von meiner Seite weniger spektakulär war, aber da ging es auch nur darum zu prüfen, ob sich mein Zustand entscheidend gebessert habe. Da selbst das Fernbleiben von der Therapie niemanden störte, endete diese Geschichte mit einem weiteren Brief in meinem Briefkasten, diesmal aber mit folgendem Zusatz: Neben der Bescheinigung meiner Untauglichkeit wurde ich damals auch aus dem Wehrregister gestrichen – ein Sieg für die Freiheit, würde ich sagen. Nicht zur Nachahmung empfohlen.
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