19. Mai 2022 14:00

Politische Mitbestimmung Das Märchen vom Nichtwähler

Jeder trifft eine Wahl

von Sascha Koll

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Es ist Montagmittag. Das vorläufige Wahlergebnis der Landtagswahl 2022 in Nordrhein-Westfalen wurde veröffentlicht. Die Grünen feiern sich, und die FDP-Bubble auf Twitter gibt den angeblich libertär durchseuchten JuLis und den Nichtwählern die Schuld für den erdrutschartigen Absturz der FDP. Die Etikettenschwindel-Partei steht aber nicht allein an der Front gegen die sogenannten Nichtwähler. Die Wahlbeteiligung liegt bei 55,5 Prozent, was viele Wähler erzürnt. Doch haben die anderen 44,5 Prozent etwa keine Wahl getroffen? Ich sage: Doch!

Bevor ich über das Wählen spreche, möchte ich mich eines Auszugs aus Andreas Tiedtkes Werk „Der Kompass zum lebendigen Leben“ bedienen: „Eine Abstimmung ist im Übrigen nur dann eine Wahl, wenn vorher alle abzustimmen gewählt haben, das heißt, dass eine bestimmte Entscheidung gefunden werden soll durch das Zählen (Größenzahl!) von Stimmen. Abstimmungen sind keine Wahlen, wenn nicht alle Betroffenen vorher gewählt haben, dass abgestimmt werden soll. Ansonsten handelt es sich um einen Vorgang, der nichts mit Wählen zu tun hat, sondern die Inszenierung einer Wahl, die in Wirklichkeit eine Abstimmung ist. Bereits ein einzelnes Veto eines Betroffenen hindert eine Abstimmung, eine Wahl zu sein.“

Ich bin einer von vielen derer, die eine Wahl getroffen haben – die Wahl, nicht an der Abstimmung teilzunehmen. Ich bin kein Nichtwähler, mir gefallen lediglich die zur Abstimmung gestellten Optionen nicht. Mir gefällt der Prozess nicht, der nach einer solchen Abstimmung in Gang gesetzt wird. Statt zum Wahllokal zu pilgern, wie es die Herrschaftsgläubigen machten, traf ich die Wahl, mir Vorträge der Professoren Thorsten Polleit, Philipp Bagus und Hans-Hermann Hoppe auf Youtube anzusehen. – Ein Hoch auf die Youtube-Uni! – Ich verspreche mir mehr von meiner eigenen Bildung als davon, einem religiös anmutenden Ritual beizuwohnen. Nur weil meine Wahl nicht die Wahl aller ist oder weil es Individuen gibt, die meine Wahl nicht nachvollziehen können, macht mich das nicht zum Nichtwähler. Ich lasse mich eben nicht darin beschränken, aus welchem Pool an Optionen ich wählen darf.

Bezeichnend ist der Hass, der Menschen wie mir entgegengebracht wird. Wie religiöse Fanatiker quittieren mir Demokraten meine Entscheidung, ihrem Gott nicht zu huldigen. Sie faseln irgendwas von einer Verantwortung, der ich nicht nachkomme, und davon, dass es doch ein Privileg sei, abstimmen zu dürfen. Welche Verantwortung? Ich habe nicht gewählt, eurem Kult beizutreten. Wie kann ich dafür verantwortlich sein, dass euer Kult scheiße ist? Ihr seid die, die sich mit den Regeln einverstanden erklärt haben. Ihr habt gewählt, abzustimmen. Ich kann nichts dafür, wenn euch das Ergebnis nicht passt. Wer bescheuerte Spiele spielt und sich dann über die aufregt, die am Spielfeldrand stehen und euch dafür auslachen, sollte erst mal sein eigenes Handeln reflektieren. Für mich ist das ein Zirkus, und die enttäuschten „Wähler“ sind die Clowns, die meiner Belustigung dienen.

Genug der Häme über enttäuschte Wähler. Reden wir doch mal über das Abgeben seiner Stimme. Der Kult postuliert immer wieder, wer sich nicht an der Abstimmung beteilige, habe kein Recht, sich über die Situation, die auf sie folgt, zu beschweren. Nehmen wir das Abgeben der Stimme doch mal wortwörtlich. „Wähler“ geben ihre Stimme und streiten danach ihre eigene Verantwortung für ihr persönliches Handeln ab. Sie akzeptieren die Regeln, sie bestimmen jemanden für sich, der ihre Stimme und Verantwortlicher sein soll – einen Vertreter. Sie wissen auch, dass ihr Vertreter häufig nicht für das einsteht, weshalb er ausgewählt wurde. Sie geben ihre Stimme ab und sind eigentlich die, die nach der Abgabe keinen Gebrauch von ihr machen dürfen, bis sie sie wieder erteilt bekommen. Der „Nichtwähler“ aber ist der, der seine Stimme behält. Er hat den Regeln nicht zugestimmt, er wird nicht vertreten. Er hat die Wahl getroffen, seine Stimme dann zu benutzen, wenn er es für notwendig erachtet. Klar ist das alles Etatisten-Quatsch, den ich hier gerade von mir gebe, aber möchte man den Kult wortwörtlich nehmen, ist das in sich konsistent.

Das eigentliche Problem liegt mal wieder in der widersprüchlichen Grundannahme, dass der Mensch kein unveräußerliches Selbsteigentum besitze und dass man deshalb seine Stimme abgeben könne. Genauso, wie es jedem „Wähler“ offensteht, nach der Stimmabgabe enttäuscht zu sein und sich über die Zustände, die da kommen, zu beschweren, steht es selbstverständlich dem Nichtwähler frei, dasselbe zu tun. Nehmen wir doch auch mal die Ent-täuschung wortwörtlich. Ist das Enttäuschtsein dann nicht auch bloß der Zustand, in dem man sich befindet, wenn einem plötzlich auffällt, getäuscht worden zu sein? Hat die Demokratie einem nicht versprochen, man habe einen Einfluss darauf, wer nach einer Abstimmung wen mit welchen alten und neuen Forderungen bedroht, wie viel des erbeuten Raubguts und welche Vorrechte man zugesprochen bekommt? Wie ich in meinem Artikel „Recht des Stärkeren“: Die demokratischen Demokratiefeinde“ feststellte, sind es gerade die, welche die Regeln der demokratischen Wahl hochhalten, die sich darauffolgend am lautesten beschweren. Sie sind zwar in dem Sinne enttäuscht, dass sie sich von der Wahl ein anderes Ergebnis versprochen haben, aber nicht ent-täuscht genug, um das Konzept der Herrscherwahl zu hinterfragen. Zumal sie durch den scheinbaren Verantwortungstransfer darin getäuscht wurden, ein Politiker würde Verantwortung übernehmen, und dann feststellen müssen, dass dies praktisch nie der Fall ist. Final sind es wieder die Wähler selbst, die real die Verantwortung für politische Entscheidungen übernehmen müssen, indem sie gezwungen werden, für die Kosten des politischen Handelns aufzukommen. Sie sind nicht ent-täuscht genug zu bemerken, dass es nicht nur die Optionen der Abstimmung, sondern eine echte Wahl gibt, die sie treffen können.

Ich beglückwünsche jeden, der mit seiner Wahl so zufrieden ist, wie ich es bin. Denen, die unglücklich über das Ergebnis der politischen „Wahl“ sind, möchte ich die Frage ans Herz legen, ob es nicht am Tag der nächsten Abstimmung etwas gibt, was sie glücklicher machen könnte.


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