Buchbesprechung: Der moderne Staat ist „unmenschlich bösartig“
Historiker Paul Johnson scheut sich nicht, gegen die kulturelle Hegemonie der Etatisten anzuschreiben
von Robert Grözinger
Ich habe über die Weihnachtspause ein umfangreiches Werk zu Ende gelesen, das schon in meiner ersten Kolumne auf Freiheitsfunken Erwähnung fand: „Modern Times“ von Paul Johnson. Es behandelt die Geschichte des „kurzen 20. Jahrhunderts“, also vom ersten Weltkrieg bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion. Ich bin tief beeindruckt von der Flüssigkeit der Sprache, der Souveränität, mit der der Autor das komplexe Thema anschaulich und verständlich macht und nicht zuletzt von seiner Unerschrockenheit, unbequeme Wahrheiten auszusprechen und unangenehme Details nicht zu übertünchen.
Die Tatsache, dass in jener Phase Deutschland sehr oft im Mittelpunkt des Geschehens stand, kommt in Johnsons Abhandlung angemessen zum Tragen. Anfang Dezember schrieb ich in meiner ersten Kolumne auf Freiheitsfunken unter dem Titel „Warum eigentlich die Welt retten?“ eher beiläufig: „Seltsam nur, dass dieses Buch eines weltweit renommierten Historikers – der 1928 geborene Journalist ist Träger britischer und amerikanischer Ehrenauszeichnungen – nicht in deutscher Übersetzung erschienen ist. Oder vielleicht nicht so seltsam, wenn man darin Sätze wie die obigen findet. ‚Cancel Culture‘ existiert in Deutschland schon länger.“
Im damals von mir zitierten Satz hatte Johnson die Obsession der Ökologisten der 1970er und 80er Jahre mit jener der „Rassenhygieniker“ des ausgehenden 19. Jahrhunderts verglichen. Er attestierte ein hohes Maß an Übereinstimmung zwischen diesen Ideologien nicht im Inhalt, sondern in der apokalyptischen Manie, mit der sie Maßnahmen forderten, die angeblich zur Rettung der Menschheit nötig seien.
In diesem Buch des Historikers gibt es mindestens ein gutes Dutzend tabubrechender Aussagen von ähnlicher Brisanz. Ich bleibe bei meiner Vermutung, dass sich aufgrund solcher Äußerungen kein angesehener deutscher Verlag fand, der eine Übersetzung des Werks herauszugeben wagte. Ich habe vor, gelegentlich die in dieser Hinsicht „würzigsten“ Sätze in Zukunft an passender Stelle in meine Kolumnen einzustreuen.
Johnsons Schlussgedanken in dieser Abhandlung dürften ausreichen, um ihn als großartigen Freund der Freiheit zu identifizieren. In seinem Fazit über das abgelaufene Jahrhundert beschreibt er den „Staat“ als den großen Bösewicht, denn dieser habe sich „als unersättlicher Verschwender erwiesen, als konkurrenzlos vergeuderisch.“ Schlimmer noch: „Er hat sich auch als der größte Mörder aller Zeiten erwiesen. Bis zu den 1990er Jahren war der Staat im Verlauf des Jahrhunderts für den gewaltsamen oder unnatürlichen Tod von etwa 125 Millionen Menschen verantwortlich, vielleicht für mehr, als er während der gesamten Menschheitsgeschichte bis 1900 zu vernichten vermochte.“ Die „unmenschliche Bösartigkeit“ („inhuman malevolence“) des Staates habe mit seiner wachsenden Größe und seinen wachsenden Mitteln „mehr als Schritt gehalten“.
Solche Sätze treffen Etatisten von links bis rechts ins Herz. Sie glauben an den Staat und meinen, seine Fehler gingen lediglich darauf zurück, dass „die falschen Leute“ an der Macht sind. Als in den frühen 1990er Jahre die zweite, um das Jahrzehnt der 1980er-Jahre erweiterte Auflage von „Modern Times“ erschien, waren Verehrer des modernen, interventionistischen Staates auch in angelsächsischen Ländern tonangebend, aber bei weitem nicht in so erdrückendem Maß wie in Deutschland. Das mitteleuropäische Land hatte gerade ein Territorium voller – nicht nur, aber auch – Kommunisten einverleibt, und ließ diese, nach Jahrzehnten ihrer Terrorherrschaft, frei herumlaufen. Die britischen Etatisten dagegen mussten sich nach der Wahl Margaret Thatchers im Jahr 1979 und ihrer mehrfachen Wiederwahl einen Rückschlag in ihrer kulturellen Hegemonie eingestehen. Erst unter der Regierung des ex(?)-Trotzkisten Tony Blair, also ab 1997, fingen sie an, mit ihren deutschen Geistesverwandten wieder gleichzuziehen. In dieses Zeitfenster konnte Johnson mit seinem Traktat stoßen. Ich bezweifle, dass ein britischer Verlag heute ein Manuskript mit dem Inhalt von „Modern Times“ als neues Buch herausgeben würde.
In den 2020er Jahren beobachten wir den Zerfall des Rechtsstaats und den Transfer seiner Macht zu undurchsichtigen Organisationen wie der EU und/oder seine frankenstein'sche Fusion mit multinationalen Unternehmen von Big Tech über Big Media bis zu Big Pharma, die faktisch über dem Recht stehen. Johnson sah schon Anfang der 1990er Jahre den Staat in einem Prozess selbst verursachter Zerstörung befindlich. Er bezeichnet die moderne Entwicklung des Staates im vergangenen Jahrhundert als dessen „Sündenfall“, der in der Zeit der Niederschrift seines Werks begonnen habe, „seine Vertreter, die aktivistischen Politiker, zu diskreditieren, deren phänomenaler Zuwachs an Zahl und Autorität eine der wichtigsten und unheilvollsten menschlichen Entwicklungen der Neuzeit war.“ Der noch heute lebende Historiker dürfte daher kaum von der mangelhaften Qualität gegenwärtiger Politiker und Politik überrascht sein.
Zu dieser misslichen Lage habe Johnson zufolge eine Idee von Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) geführt. Der Genfer Philosoph, einer der geistigen Urväter der Französischen Revolution, habe als erster verkündet, „dass der Mensch durch den politischen Prozess zum Besseren verändert werden könne und dass die Agentur des Wandels, der Schöpfer dessen, was er als ‚neuen Menschen‘ bezeichnete, der Staat und die selbst ernannten Wohltäter sein würden, die ihn zum Wohle aller beherrschten.“ Im 20. Jahrhundert, so die Einschätzung Johnsons, wurde Rousseaus Theorie schließlich auf die Probe gestellt, „und zwar in kolossalem Ausmaß und bis zur Vernichtung.“
Was wir heute, drei Jahrzehnte nach dem Erscheinen von „Modern Times“, sagen können, ist, dass die Erben Rousseaus aus dem „kolossalen“ Staatsversagen von 1989 – 91 leider nicht den Schluss zogen, vom Projekt, den „neuen Menschen“ zu schaffen, abzulassen, sondern nur ihre Strategie änderten. Sie haben verstanden, dass der Markt „unkaputtbar“ ist und dass der Versuch, ihn zu vernichten, ihre eigene Machtbasis zerstört. Darum sind sie dazu übergegangen, den Markt für ihre eigenen Zwecke zu zügeln und (ver-) formen. Mit anderen Worten: Statt auf den Pfad der Bescheidenheit und marktwirtschaftlicher Tugend zurückzukehren, haben sie den Faschismus neu aufpoliert und in Gang gesetzt, ohne ihn beim Namen zu nennen.
An einer Stelle im Buch tut Johnson etwas, was bis heute kein Geisteswissenschaftler wagt, der „dazugehören“ will. Er erwähnt – wohlwollend – die nukleare Tretmine des Antietatismus: Ludwig von Mises. Und zwar im Kontext der US-amerikanischen Fiatgeld-Kreditausweitung in den 1920ern. Als 1927 die Federal Reserve den Leitzins um einen halben Prozentpunkt auf 3,5 Prozent senkte, kam unter anderem aus Deutschland Protest. Der deutsche Widerspruch, nämlich dass „die ganze inflationäre Politik korrupt war“, sei „von den Monetaristen der Wiener Schule, Ludwig von Mises und F.A. Hayek“ beeinflusst gewesen. OK, die waren „Österreicher“ und nicht Monetaristen, aber diese Fehlbezeichnung sei dem Historiker verziehen.
Es gibt nur weniges in „Modern Times“, was nicht jedem Freiheitsfreund gefallen wird. Etwa ein paar Äußerungen zum Vietnamkrieg. Johnson meint, die USA hätten, nachdem die Entscheidung gefallen war, in Südostasien einzugreifen, viel entschiedener und energischer kämpfen sollen. Andererseits darf man in diesem Zusammenhang für den Hinweis des Autors dankbar sein, dass der OSS, die Vorgängerorganisation der CIA, Ho Chi Minh, den Führer der nordvietnamesischen Kommunisten, kurz nach dem zweiten Weltkrieg bei seinem Putsch gegen den Kaiser Vietnams unterstützte. Johnson schreibt zwar nicht explizit, dass jeder staatliche Eingriff, insbesondere in fremden Ländern, unbeabsichtigte, oft unangenehme Nebenwirkungen erzeugt und einen Rattenschwanz weiterer Eingriffsrechtfertigungen nach sich zieht. Er bringt aber hinreichend Beispiele, die dem Leser genau diese Schlussfolgerung nahelegen.
Wer sich ein mehr als 850 Seiten starkes Werk in gut verständlichem Englisch zutraut, dem kann ich „Modern Times“ wärmstens empfehlen. Wie gesagt, ich habe vor, Johnson auf der Freiheitsfunken-Plattform noch öfter zu Wort kommen zu lassen.
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