20. Februar 2023 13:00

Ende der westlichen Zivilisation Schwaches Christentum, starker Neid

Diese Religion reduzierte die Bedeutung sozialer Hierarchie und förderte damit rationales Denken

von Robert Grözinger

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Warum geben die meisten Menschen in den Ländern des vormals westliche Zivilisation genannten Kulturkreises dieser Tage so widerstandlos, ja geradezu willentlich bis euphorisch, ihre Freiheiten auf und verwandeln ihre Gesellschaft in einen Neofeudalismus, wenn nicht gar in etwas Schlimmeres? Die Analyse der den Menschen offenstehenden Problemlösungsstrategien, kombiniert mit dem Handlungsparameter „soziale Hierarchie“ und der gesellschaftlichen Akzeptanz des Neides gibt darauf Antworten.   

Es gibt für den Menschen zwei grundsätzliche Arten, sich mit einem Problem oder einer wahrgenommenen Gefahr auseinanderzusetzen. Erstens: Er schließt sich der „Herde“ an und tut, was sie tut. Oder genauer, in den meisten Fällen: Er tut, was der Führer der „Herde“ ihm sagt. Zweitens: Er nutzt seine geistigen Fähigkeiten, um das Problem zu analysieren, sein Gefahrenpotential so realistisch wie möglich einzuschätzen und die Gefahr dann zu neutralisieren, zu umgehen oder das Problem anderweitig zu lösen. Meint er, dass die eigenen geistigen Fähigkeiten und/oder Kenntnisse dazu nicht ausreichen, befragt er Experten seines Vertrauens und lässt sich die möglichen Problemlösungen erklären – und entscheidet danach selbst, wie er handeln will. 

Diese zwei Strategien zur Problem-/Gefahrenbehebung stehen dem Menschen zur Verfügung, andere nicht. Offensichtlich schließen sie sich gegenseitig aus: Tut man das eine, kann man nicht gleichzeitig das andere tun. Natürlich ist es unter Umständen möglich, dass der rational Denkende zum gleichen Schluss kommt wie der Führer und sich dann der „Herde“ anschließt. Der umgekehrte Fall, dass ein Herdenmensch, einmal in Gang gesetzt, anfängt, das ihn antreibende Problem rational zu bearbeiten, ist dagegen erfahrungsgemäß eher ausgeschlossen.

Jeder wechselt mal die Strategie, je nach Problemgröße, -dringlichkeit und anderen Faktoren. Aber jeder neigt mehr der einen oder anderen Strategie zu. Der Grund dafür sei in der Genetik zu verorten. Dieses sagte kürzlich Jeff Leskovar im Gespräch mit dem libertären Podcaster Tom Woods. Der US-Amerikaner ist nach Angaben Woods ein „Unternehmer, der viele Werke in der Mises‘schen Tradition gelesen hat“ und im vergangenen Herbst seine oben dargestellten Ideen vor der „Libertarian Scholar’s Conference“ vorgetragen habe. Er hatte sie zuvor in einem Artikel auf lewrockwell.com – siehe Link unten – vorgestellt.

In diesem Artikel schreibt Leskovar zunächst über drei Hauptparameter, innerhalb derer die Menschen ihre Entscheidungen fällen: Eigentum, Zeit und soziale Hierarchie. Diese drei Parameter „steuern den Großteil des menschlichen Verhaltens im Streben nach Überleben und Fortpflanzung.“ Weiter: „Zeitpräferenz und soziale Hierarchie sind von grundlegender Bedeutung für das Verständnis des ‚Warum‘ menschlichen Handelns. Die soziale Hierarchie in den Vordergrund zu stellen, ist vor allem in der Politikwissenschaft nützlich, da Politik das Streben nach sozialem Status ist, aber auch, weil es erklärt, warum die Menschen in zwei verschiedene politische Gruppen zu fallen scheinen, die Linke und die Rechte.“

Da die Linke durch ihren Hang zum Kollektivismus gekennzeichnet ist, dürfen wir davon ausgehen, dass sie sich zum größten Teil auf die „Herdenstrategie“ verlässt. Das ergibt Sinn: Die – wie gesagt genetisch bedingt – diesem Verhalten zuneigenden Menschen vernachlässigen das Potential eigenen rationalen Denkens, reagieren aber auch ablehnend, aggressiv und emotional, wenn jemand mit ihnen rational diskutieren will. Besonders, wenn das Argument des anderen ihr Verhalten in Frage zu stellen droht. Sie meiden den Kontakt mit diesen Menschen und, wenn es in ihrer Macht steht, unterdrücken die Verbreitung ihnen missliebiger Argumente. Dies gilt um so mehr, wenn sie sich in einer Gefahrenlage zu befinden meinen.

An dieser Stelle kommt der Verhaltensparameter „soziale Hierarchie“ ins Spiel. Nämlich die natürliche menschliche Eigenschaft, sich in einer Hierarchie einzuordnen und den höherrangigen Menschen gefallen, wenn nicht gar sie anhimmeln zu wollen. Und gleichzeitig niederrangige Menschen mehr oder weniger zu verachten. Die derzeit herrschende, von linker Weltlenkungsvisionen durchsetzte Klasse strotzt nur so von Verachtung gegenüber allen Andersdenkenden.   

Ein solches Verhaltensgrundmuster nutzt den natürlichen „Führern“. Hier spielt folgende Anreizstruktur eine entscheidende Rolle, wie Laskovar ausführt: „Da das Streben nach sozialem Status ein Nullsummenspiel ist, bei dem jeder Statusgewinn eine relative Statusverschlechterung für andere bedeutet, neigen Menschen dazu, zu verhindern, dass Menschen mit niedrigerem Status einen höheren Status erreichen.“ Der Grund, weshalb „Maßnahmen ergriffen werden, um andere daran zu hindern, einen höheren sozialen Status zu erreichen“, ist vor allem eine Emotion: Der Neid.

Solange der Neid vorherrschend war, blieben menschliche Gesellschaften in der unheiligen Allianz zwischen Führern und Herdenmenschen gefangen. Denn was selbstdenkende Abweichler in solchen Gesellschaften aus Sicht der Interessenlage der Führer primär taten, war nicht, eine bessere Lösung für ein Problem anzubieten, sondern ihre Autorität zu untergraben, ihren Status zu gefährden und alles, was dazugehört, mit anderen Worten: Ihren relativen Wohlstand.

Ein Abweichler wurde daher oft schnell von den Führern unschädlich gemacht, nicht selten mit Hilfe eines aufgewiegelten Mobs, der „Herde“ also. Er wurde entweder getötet, ausgestoßen oder als Mitglied der Gesellschaft allenfalls noch am Rand toleriert, wenn er hinfort unauffällig blieb. Es sei denn, er wurde in die Führungsriege aufgenommen. In den meisten Fällen letzterer Art wird er danach die ökonomischen Vorteile seines neuen Daseins vor einer weiteren Verfolgung unkonventioneller Ideen gestellt haben.

Wie brach die Menschheit aus diesem Teufelskreis heraus? Die westliche Zivilisation zeichnet sich schließlich durch die – relativ zu anderen Kulturen – hohe Wertstellung des Individuums und des Individualismus aus, mit all seinen vorteilhaften Konsequenzen: Zunehmende Spezialisierung und Arbeitsteilung, technischer Fortschritt, Naturwissenschaft, kulturelle Errungenschaften bislang unbekannter und ungeahnter Art, was alles schließlich in zunehmende Lebenserwartung mündete.

Laut Leskovar war dafür das Christentum verantwortlich. In einem unten verlinkten Podcast-Video eines kürzlich aufgenommenen Interviews mit seinem Freund Woods sagt er, dass diese Religion folgende diesbezüglich entscheidende Botschaft hatte: „Behandelt die statusniedrigen Menschen nicht schlecht. Sie sind alle gleich in den Augen Gottes.“ Diese Botschaft, so Leskovar weiter, könnte „größtenteils den Aufstieg Europas erklären. Etwa tausend Jahre lang oder mehr neigten die höherrangigen Menschen etwas weniger dazu, statusniedrige Menschen zu unterdrücken.“

Das ist eine hochinteressante und für die Zukunft der Menschheit nicht unbedeutende Beobachtung. Leskovars Ausführungen über den Neid folgen jenen von Helmut Schoeck. Denn: „Statusniedrig“ waren vor dem Christentum nicht nur Kranke und Schwache – einschließlich aller Frauen übrigens – sondern in der Regel auch Leute, die „anders“ als die anderen waren: Individualisten, Eigenbrötler, Querdenker und Künstler. Wenn diese, mit Hilfe ihrer Vernunft, ein Problem kreativ und besser lösten als andere, bedeutete dies oft, dass sie wirtschaftlich erfolgreicher wurden als der Durchschnitt. So wurden sie bald zum Ziel der Neider, insbesondere in der Führungsschicht, die ihre Position eher selten durch wohlstandsfördernde Problemlösung, stattdessen oft durch Gewalt oder Betrug, oder als Erbe von Ausübern solcher Praktiken erworben hatten. 

Schoeck schrieb in seinem wichtigen Buch „Der Neid und die Gesellschaft“ (1966): „Das Neue Testament ermahnt den Neider, mit der Ungleichheit seines Nebenmenschen fertig zu werden.“ Welche Auswirkungen es für die Gesellschaft hat, wenn diese Mahnung ernst genommen wird, führte Schoeck ebenfalls aus: „Es war die geschichtliche Leistung dieser christlichen Ethik, im Abendland die menschliche Schöpferkraft durch eben diese Bändigung des Neides angespornt und beschützt, ja vielleicht überhaupt in diesem Umfang ermöglicht zu haben.“ 

Möglicherweise geht der Aufstieg der Marktwirtschaft im Mittelalter auf eben diese, auf religiöse Neidunterdrückung basierende relative Stärkung statusniedriger Menschen zurück. Denn: Je dezentraler die Entscheidungsstruktur, desto mehr können neue, abweichende Ideen ausprobiert und ausgetauscht werden.

Es gibt noch andere Gründe, weshalb ausgerechnet das Christentum die westliche Zivilisation hervorbrachte. Diese Religion hat Folgendes entweder verursacht oder zur Verbreitung dessen entscheidend beigetragen: Zeitlich lineares Denken; den göttlichen Auftrag, sich die Erde Untertan zu machen, was voraussetzt, die Welt und  ihre Gesetze rational zu erfassen; den Glauben an die Menschwerdung Gottes als die kulturelle Voraussetzung für die Vermählung von Theorie und Praxis zu dem, was schließlich moderne Wissenschaft wurde. Das aber nur nebenbei.

Selbstverständlich gab es Intoleranz auch unter christlicher Herrschaft. Aber sie galt Abweichlern im Hinblick auf den Glauben und Weltbildern. Nicht dem rationalen Denken als solchem. Und spätestens seit den Calvinisten am Anfang der Neuzeit auch nicht mehr den wirtschaftlich Erfolgreichen.

Das oft zitierte, angebliche Gegenbeispiel der Behandlung Galileo Galileis war genau genommen kein antiwissenschaftlicher Reflex. Nicht zuletzt spielte hier die Arroganz des Angeklagten eine Rolle, der damals so wenig einen Beweis für die Bewegung der Erde um die Sonne vorlegen konnte wie heute Christian Drosten für die Wirksamkeit von Masken gegen Viren oder Greta Thunberg für einen menschengemachten, kurz bevorstehenden, katastrophalen Klimawandel. Die Erdbewegung war damals nur eine Hypothese – plausibler zwar als manche Masken- und Klimahypothesen von heute, aber eben „nur“ eine Hypothese, welcher – als solche – die Kirche übrigens nicht grundsätzlich ablehnend gegenüberstand. Der Papst erwartete einen echten, naturwissenschaftlichen und nachprüfbaren Beweis, dem ihn der Astronom versprochen hatte. Er bekam aber stattdessen eine Polemik vorgelegt, in welcher er, der bis dahin ein Gönner Galileis war, darüber hinaus wenig kaschiert persönlich verhöhnt wurde. Wer war also der wirkliche Schwurbler damals?     

Das Christentum bewirkte neben der Naturwissenschaft eine wahre Explosion an kulturellen Errungenschaften im Mittelalter, etwa in der Musik, die historisch unübertroffen sind. In seinem Kulturraum – und nur hier – entstand die Universität, eine Institution, die geradezu geschaffen ist als Refugium und Nährboden für Abweichler und ihre Ideen.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verlor das Christentum in der westlichen Zivilisation unter den Meinungsführern und Kulturschaffenden erheblich an Rückhalt. Die Vorgeschichte dazu ist lang und fing mit der Renaissance an – deren geistige Grundlagen wiederum wurden schon in der Spätantike gelegt. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts war innerhalb der europäischen und amerikanischen Führungsschicht eine kritische Masse höchstens nur noch dem Namen nach christlich. Die Mahnung, dem Neid keine Chance zu lassen, griff unter ihnen nicht mehr. Stattdessen freundeten sie sich mit Ideen wie dem Kommunismus und der Eugenik an. Ihre fortan aktive Missachtung und Untergrabung des Christentums wirkten sich auf die von ihnen entscheidend beeinflussten Bildungsinhalte, Medien und den Kulturbetrieb aus. Das wiederum sorgte dafür, dass allmählich auch in allen anderen Bevölkerungsschichten das Christentum im Allgemeinen und das Neidverbot im Speziellen nur noch von einer eher kleinen Minderheit ernst genommen wurde. Selbst Kirchenführer scheinen es heute nicht mehr ernst zu nehmen. Es folgte der Erste Weltkrieg und die seither ablaufende Selbstvernichtung der westlichen Zivilisation.

Wir sind inzwischen, was den Einfluss der Überlebensstrategie „rationales Denken“ in der Gesellschaft anbelangt, zurück in den Zustand vorchristlicher Zeit angekommen. Rational denkende Abweichler von der „Herde“ werden nicht mehr als grundsätzlich ebenbürtig angesehen, die eine Chance bekommen, einen wertvollen Hinweis zu geben oder sonstwie einen nützlichen Beitrag zur Gesellschaft zu leisten. Sondern sie werden bestenfalls ignoriert oder, insofern sie in den Augen der Mitglieder der herrschenden Klasse eine Bedrohung ihrer Macht- und Wohlstandsposition darstellen, ausgegrenzt oder gar rücksichtslos verfolgt und zumindest sozial vernichtet.

Selbst wenn, wie es derzeit aussieht, die westliche Zivilisation gänzlich stirbt, besteht jedoch Grund zur Hoffnung. Nämlich, wenn man den Vorgang so betrachtet: Das Christentum reinigt sich von seinen Widersachern, die parasitär von ihm leben. Außerhalb der westlichen Ex-Zivilisation lebt das Christentum weiter, in manchen Regionen erfährt es sogar massiven Zulauf. So stehen die Chancen nicht schlecht, dass irgendwo auf der Welt der gesellschaftliche Wert rationalen Denkens und des individualistischen Abweichlers wiederaufersteht, selbst nachdem in Europa und Amerika auch die letzten Kreuze abgehängt und die letzten rationalen Denker, die nicht ausgewandert sind, gewissermaßen gekreuzigt wurden.   

Quellen:

Jeff Leskovar: The Psychology of Human Action (lewrockwell.com)

The Psychology of Human Action – Why Some People Slavishly Follow the Elites (Jeff Leskovar im Podcast mit Tom Woods)


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