Evolutionspsychologie: Die Einzigartigkeit des Individuums wird nicht abgestritten
Eine Klarstellung
von M 2.0 (Pausiert)
Nachdem ich bezüglich der r/K-Selektionstheorie zuletzt darüber informiert hatte, dass sich (psychopathische) Herrschaftsansprüche aus verschiedenen Gründen auch (oder vor allem) innerhalb von tendenziell eher wettbewerbsscheuen r-Strategen durchsetzen, sollen in dieser Kolumne noch ein paar Worte der Vorsicht nachgetragen werden, nachdem unter Umständen der Eindruck entstehen kann, dass Menschen gemäß Theorie „determiniert“ seien, sich so oder so zu verhalten.
Es soll hier vor allem klargestellt werden, dass Individuen mitunter schwer zu charakterisieren sind. In vielerlei Hinsicht handelt es sich bei der vorgestellten Theorie um eine Newtonsche Theorie des Gruppenverhaltens, die nicht den Anspruch erhebt, die quantenmechanische Natur jedes einzelnen Individuums zu charakterisieren. In der Newtonschen Physik wurden bekanntlich die grundlegenden Gesetze entwickelt, die die Bewegung von Objekten in der klassischen Mechanik beschreiben, und sie gelten als äußerst genau und deterministisch. Ähnlich versucht die Evolutionspsychologie das tendenzielle Verhalten von Individuen und Gruppen in einer strukturierten und präzisen Art und Weise zu beschreiben. Jedes Individuum hat in seinem Kern das „undefinierbare Element“ und prinzipiell die Fähigkeit, beinahe jeder zu sein, der es sein möchte. Gewiss soll nicht so getan werden, als könnte man diesen Aspekt der menschlichen Natur charakterisieren, noch stelle ich oder Evolutionspsychologen in irgendeiner Weise den freien Willen des Einzelnen in Frage – zumindest keine, die ich kenne (eine Verteidigungsrede zum freien Willen findet der geneigte Leser unter anderem im ersten Link). Die beschriebenen Triebe sind vor allem verhaltensbedingte Neigungen. Ob wir ihnen nachgeben, oder den Befehlen unseres Gewissens und unseres Verstandes gehorchen, ist allein dem Mysterium unseres freien Willens unterworfen.
Nochmal: Die r/K-Selektionstheorie beschreibt eher allgemeine Neigungen und Verhaltensmuster, die durch Evolution geprägt sind, sie schließt den individuellen freien Willen oder die Vielfalt menschlichen Verhaltens nicht aus.
Hinzu kommt, dass der Mensch sowohl psychologisch als auch intellektuell unglaublich komplex ist. Es gibt gegensätzliche psychologische Antriebe, die diese Triebe überlagern können, was eine individuelle Charakterisierung noch schwieriger macht. Der Intellekt kann einen Trieb als unlogisch beurteilen und ihm zuwiderhandeln. Konditionierte Reaktionen, die einer Person zu eigen sind, können ihre Psychologie außer Kraft setzen. Auf individueller Ebene kann eine Position zu einem einzelnen Thema auch mit der persönlichen Wettbewerbsfähigkeit einer Person in dem Bereich zusammenhängen, in dem dieses spezifische Thema adressiert wird.
So kann beispielsweise ein erfolgreicher Geschäftsmann, der den „Kapitalismus“ (also die freie Marktwirtschaft) bevorzugt und von einer Wettbewerbspsychologie durchdrungen ist, in Fragen der persönlichen Verteidigung ungebildet sein. Personen mögen den Wettbewerb in wirtschaftlichen Angelegenheiten befürworten und daher „konservative Positionen“ in der Steuerpolitik unterstützen. Sie können jedoch auch strenge Waffengesetze befürworten, da ihre Unfähigkeit, sich selbst zu verteidigen, sie in diesem Umfeld nicht wettbewerbsfähig macht. Obwohl die Beweise darauf hindeuten, dass die meisten Menschen Wettbewerbsfähigkeit in einem breiten Spektrum von Fragen befürworten oder ablehnen, soll nicht behauptet werden, dass die allgemeine Befürwortung oder Ablehnung von Wettbewerbsfähigkeit jeden Aspekt der Ideologie eines jeden Menschen bestimmt!
Um es klar zu sagen: Diese Theorie soll einen plausiblen und zuweilen aus ideologischen Gründen verschwiegenen Erklärungsansatz bieten, wie sich bestimmte Mehrheiten eines Landes immer wieder der einen oder anderen politischen Ideologie anschließen und sogar, wie diese Ideologien innerhalb unserer Spezies entstanden sind, aber sie gibt nicht vor, alle Individuen zu charakterisieren oder auf die Variabilität der Rollen und Motivationen einzugehen, die sich auf der individuellen Ebene zeigen können. Diese Triebe und die Signale, auf die sie reagieren, haben sich wahrscheinlich in einem anderen Umfeld entwickelt als dem, in dem wir heute leben. In dieser primitiveren Umgebung waren für den Wettbewerb unter Erwachsenen andere Fähigkeiten erforderlich. Daher wären die Parameter für jede Bewertung der potenziellen Fitness eines Erwachsenen in der Kindheit, die heute durchgeführt wird, durch die Umwelt unserer Vergangenheit bestimmt worden. In unserer fernen Vergangenheit, in der der Wettbewerb der Erwachsenen eine gewalttätigere Angelegenheit war, bei der es um Leben und Tod ging, hätte eine Anpassung der Psyche des Einzelnen an seine körperlichen Fähigkeiten in kriegerischen Angelegenheiten dazu führen können, dass er eine darwinistische Strategie verfolgt hätte, die ihm gut gedient hätte.
Heutzutage kann eine Person als Kind meinetwegen eine enorme Begabung im Bereich der Informatik aufweisen oder als Erwachsener die Fähigkeit besitzen, sich im wirtschaftlichen oder intellektuellen Bereich als äußerst wettbewerbsfähig zu erweisen, sie wird jedoch immer noch primitivere Anhaltspunkte verwenden, um ihre wahrscheinliche Wettbewerbsfähigkeit als Erwachsener zu bestimmen. Anders formuliert: Trotz dieser Talente und Fähigkeiten tendieren Menschen dazu, sich immer noch auf einfachere oder grundlegendere Kriterien zu stützen, um ihre wahrscheinliche Erfolgsfähigkeit im Erwachsenenalter einzuschätzen.
Angesichts der Geschwindigkeit, mit der sich unsere Gesellschaft weiterentwickelt – von der Rolle der Technologie und des Intellekts in unseren Wettbewerben bis hin zu den Auswirkungen der freiwilligen Geburtenkontrolle auf das Ergebnis hedonistischer Fortpflanzungsaktivitäten – ist es meines Erachtens plausibel, dass die Evolution immer noch versucht, die Ereignisse aufzuholen, die sie vor langer, langer Zeit quasi überholt haben. Das soll heißen, dass die Evolution eventuell nicht mit der schnellen Entwicklung und Veränderung der Gesellschaft Schritt halten kann (ein möglicher Grund, warum auch Epigenetik eine wichtige Rolle spielt). Vielleicht ist die Geschwindigkeit, mit der sich unsere Gesellschaft entwickelt, so hoch, dass die biologische Evolution nicht in der Lage ist, diese Veränderungen in einem angemessenen Zeitrahmen „einzupflegen“, und von daher erleben wir immer wieder den Rückfall in „bestimmte Verhaltensmuster“. Vielleicht für immer.
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