13. November 2023 17:00

Propalästinensische Umzüge in London Machtdemonstration und Kulturschock in Großbritannien

Vor nicht allzu langer Zeit wären politische Großveranstaltungen am „heiligen“ 11. November in England undenkbar gewesen.

von Robert Grözinger

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Bildquelle: Londisland / Shutterstock.com Gedenken an die Gefallenen am Londoner Kenotaph: 2018, am hundertsten Jahrestag des Waffenstillstands, noch ohne Kulturschock im Hintergrund.

Nicht nur in Deutschland, auch in anderen westlichen Ländern ist nicht mehr zu verheimlichen, dass sich aufgrund der Masseneinwanderung der vergangenen Jahre „plötzlich“ ein ganz neuer Antisemitismus manifestiert. So auch im Vereinigten Königreich. Hier aber war der Kulturschock am vergangenen Wochenende gleich ein doppelter. Erkennbar wurde auch, wie wenig von der Geschichte des Landes in den Schulen und Medien vermittelt wird. 

Ich habe meine Kindheit, Jugend und die Jahre bis 2000 in Deutschland verbracht. In den frühen Jahren wurden meine Geschwister und ich praktisch von Geburt an von unserer englischen Mutter nicht nur in die Sprache, sondern auch in die Geschichte und Kultur Englands regelrecht eingetaucht.

Als ich dauerhaft nach England zog, siedelte ich mich somit nicht im „Ausland“ an, sondern in einer zweiten Heimat. Ich war mit fast allen wesentlichen Elementen britischer Kultur vertraut, aber eines lernte ich erst nach meinem permanenten Ortswechsel kennen. Und das war die im Vergleich zu Deutschland viel tiefere und verbreitetere Ehrfurcht und der ganz unenglische Ernst, mit der hier die Entsprechung des Volkstrauertags begangen wird. Ab zwei Wochen vor diesem Tag tragen etliche Bürger eine Mohnblume aus Pappe, Plastik, Wolle oder Metall am Revers. Wenn in dieser Zeit ein hochrangiger Politiker in der Öffentlichkeit ohne dieses Symbol für die im Ersten Weltkrieg blutgetränkten Felder Flanderns erwischt wird, etwa bei einem Fernsehinterview, ist das ein Gesprächsthema.

Genau genommen gibt es meist zwei Gedenktage. An jedem 11. November wird um 11 Uhr nicht etwa die Narrenkappe aufgesetzt, sondern zwei Minuten lang des Waffenstillstands von 1918 und damit des Endes des Ersten Weltkriegs und der Toten dieses und aller folgenden kriegerischen Auseinandersetzungen gedacht, an denen das Vereinigte Königreich beteiligt war beziehungsweise ist. Noch wichtiger aber ist der nächstgelegene, „Remembrance Sunday“ genannte Sonntag, der natürlich nur manchmal auf den 11. November fällt. An jenem Sonntag legt, wiederum um 11 Uhr, der Monarch – also in den vergangenen 70 Jahren Königin Elizabeth II. – einen Kranz am „Cenotaph“ nieder, gefolgt von anderen Mitgliedern der königlichen Familie, der Regierung und Repräsentanten der im Parlament vertretenen Parteien. Mit dabei sind jeweils 10.000 Veteranen, die am Denkmal vorbei defilieren. Das Wort „Cenotaph“ – auf Deutsch: Kenotaph – stammt aus dem Altgriechischen und bedeutet laut Wikipedia „leeres Grabmal, Ehrengrabmal für einen in der Fremde Gestorbenen (dessen Leichnam man nicht aufgefunden hat)“.

Dieses in der Mitte der Zentrallondoner Straße Whitehall, also im Regierungsviertel und in unmittelbarer Nähe des Amtssitzes des Premierministers platzierte, elf Meter hohe stelenartige Denkmal nimmt in der Erinnerungskultur Großbritanniens seit seiner Einweihung am 11. November 1920 die zentrale Position ein. Dazu muss man wissen, dass in diesem Land der Erste Weltkrieg in Bezug auf Trauer höher rangiert als der Zweite, denn anders als in Deutschland forderte der frühere Krieg hier einen höheren Blutzoll als der spätere. Da beide Kriege aus britischer Sicht siegreich verliefen, genießen dieser Kenotaph und dieser Volkstrauertag eine kulturelle Fokusposition, die in Deutschland – aus historisch nachvollziehbaren Gründen – kein Objekt und keinen Tag einnimmt. Nicht im Entferntesten.

Jedenfalls, um zur Gegenwart zurückzukehren: Am vergangenen Samstag, den 11. November, fand in London mal wieder, wie jeden Samstag seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel vor über einem Monat, eine propalästinensische Großdemonstration gegen den israelischen Gegenangriff auf den Gazastreifen statt. Im Vorfeld hatte es von vielen Seiten Empörung darüber gegeben, dass dadurch der „heilige“ 11. November mit einer solchen Großveranstaltung entweiht wird.

Auf der anderen Seite wurde argumentiert, dass die Soldaten und anderen Kriegsopfer, derer an jenem Tag gedacht wird, auch für die Freiheit der Rede und Demonstration gestorben waren und es somit nicht angebracht wäre, ausgerechnet an jenem Tag eine Demonstration gegen einen neuerlichen Krieg zu verbieten. Dagegen wiederum wurde von der anderen Seite vorgebracht, dass die in solchen Demonstrationen vielfach und lautstark mitwabernden antisemitischen Impulse der jüdischen Minderheit Angst machten; im Zweiten Weltkrieg seien Menschen unter anderem deswegen gestorben, um der Verfolgung dieser Minderheit Einhalt zu gebieten und sie „nie wieder“ zuzulassen. 

Der Polizei, sagte die Polizei, seien die Hände gebunden. Solange keine konkreten Hinweise auf geplante Gewalttaten aus der Demonstration vorlägen, gäbe es keine rechtliche Grundlage für ein Verbot des Umzugs. Das war natürlich vorgeschobener Unfug, wie die kürzlich geschehene brutale Unterdrückung von Demonstrationen gegen den Lockdown auch in Großbritannien zeigte. Wo ein Wille ist, ist in diesen zunehmend totalitären Zeiten auch ein Weg. Aber man wollte nicht.

Wie sich zeigte, aus nachvollziehbaren Gründen. Denn man hätte die Demonstration nicht ohne massivsten Einsatz, der sehr wahrscheinlich zu teilweise unkontrollierbaren Gewaltausbrüchen geführt hätte, stoppen können. Es kam zwar nicht die angekündigte Million, doch immerhin laut Polizei mindestens 300.000, laut Veranstalter 800.000. Der Umzug, der am frühen Nachmittag begann und dem Kenotaph nie näher als knapp zwei Kilometer kam, verlief weitgehend friedlich, und zwar nicht im Sinne jenes amerikanischen Reporters über eine „BLM“-Demonstration, während hinter ihm ein Gebäude abfackelte, sondern „in echt“. 

Neben den wenigen Handgemengen am Rand der Demonstration gab es handfeste Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und Gegendemonstranten, die sich Zugang zur Stele in Whitehall verschaffen wollten. Der Innenministerin Suella Braverman wird vorgeworfen, die Stimmung angeheizt zu haben, als sie in einem „Times“-Artikel am Donnerstag der Polizei öffentlich vorwarf, bei Demonstrationsverboten einseitig zu agieren und im Fall des Umzugs am 11. November kein Verbot erlassen zu haben.

Unabhängig davon jedoch hat die Großdemonstration beziehungsweise die Tatsache, dass sie am vergangenen Samstag stattfinden durfte, bei vielen „traditionellen“ Briten gleich einen doppelten Kulturschock ausgelöst. Sie finden sich plötzlich in einem anderen Land wieder. Vor nicht allzu langer Zeit wäre es undenkbar gewesen, ausgerechnet am 11. November eine Großdemonstration für oder gegen irgendeine Sache zu organisieren, schon gar nicht für oder gegen einen aktuellen, politisch umstrittenen Krieg – jener Tag sowie der „Remembrance Sunday“ waren für das Gedenken an die Gefallenen reserviert. 

Zwei Gründe gibt es dafür, dass die Teilnehmerzahl der Großdemonstration am vergangenen Wochenende so umfangreich war. Zum einen eine Bildungspolitik, in der Geschichte, wenn überhaupt, nur noch zur Vermittlung der postmodernen Dekonstruktion westlicher Werte dient. Laut einer am Wochenende veröffentlichten Umfrage wissen in Großbritannien nur 33 Prozent der nach 1980 Geborenen, aufgrund welches Ereignisses der Gedenktag vom 11. November stattfindet. In Sachen Geographie sieht es nicht besser aus. Es gibt Interviews mit jungen Demonstrationsteilnehmern vergangener Wochen zu sehen, die die Frage, wie der Fluss heißt, den sie meinen, wenn sie „From the river to the sea, Palestine will be free“ skandieren, nicht beantworten können. Manche können noch nicht einmal das Meer benennen.

Der andere Grund ist natürlich die weitgehend ungezügelte Einwanderungspolitik. Was wir sehen, ist vor allem eine Machtdemonstration. Die Innenministerin nannte die Demonstrationen „Hassmärsche“. Das ist eine impotente Geste. Sie hat damit, wenn überhaupt, Leute noch mehr motiviert, nun erst recht an den Demonstrationen teilzunehmen – auf beiden Seiten. Vielleicht war das der Zweck ihres „Times“-Beitrags.

Die spannende Frage ist die, wie es nun weitergeht. Immerhin haben vor sieben Jahren zwei Drittel der außerhalb der Großstädte befindlichen Bevölkerung Englands und Wales vor allem aus dem Grund für den Brexit gestimmt, um der von ihnen so empfundenen, unkontrollierten Einwanderung Einhalt zu gebieten. Erkennbar war das unter anderem an der in Umfragen deutlich verbesserten Einstellung gegenüber Ausländern unmittelbar nach dem Referendum.

Jetzt aber ist nicht mehr zu verleugnen, dass sich ein „Staat im Staat“ oder zumindest eine „Kultur innerhalb der Kultur“ bildet. Trotz Brexit. Der englische, libertäre Investment-Podcaster und Komödiant Dominic Frisby prägt seit einiger Zeit den Begriff von der derzeit ablaufenden „Südafrikanisierung der Welt“. Wie dem auch sei: Seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel vom 7. Oktober 2023 tritt der Westen – und Westeuropa im Besonderen – in einen neuen Aggregatzustand. Wie dieser sich speziell im Brexit-Land Ausdruck verschafft, bleibt abzuwarten. Lange werden wir wohl nicht warten müssen.    


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