27. November 2023 17:00

Interpretation einer Tondichtung Ein musikalisches Sinnbild unserer Zeit: Die Alpensinfonie

Woher kommt die „optimistische Atmosphäre“ bei der Versammlung von Libertären auf Usedom vor einer Woche?

von Robert Grözinger

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Bildquelle: Shutterstock Hoffnungsfunken: Lebensweise in den Alpen

Zurück aus Usedom. Zu schnell war der Spaß wieder vorbei. Allzu selten sind derzeit die Gelegenheiten, in einen Pulk kompromisslos normal denkender Menschen einzutauchen. Ich kann der während des aktuellsten „Dachthekenduetts“ geäußerten Einschätzung des ef-Chefredakteurs und seines Assistenten, André Lichtschlag und Martin Moczarski, nur beipflichten, dass während der „ef-Lebensunternehmerkonferenz“ im Hotel Baltic in Zinnowitz eine „optimistische Atmosphäre“ geherrscht habe. Das ist sicher zum Teil der Tatsache geschuldet, dass dieses seit 2015 jährlich stattfindende Treffen das erste seit Januar 2020 war. Aber nicht nur: Optimismus angesichts einer gerade erlebten Urkatastrophe des Versagens der Allgemeinheit, das Auftauchen des nackten Totalitarismus zu erkennen, geschweige denn zu bekämpfen, ist erklärungsbedürftig.

Woher kommt diese positive Grundeinstellung? Selbsttäuschung? Oder steckt mehr dahinter? Vielleicht die beste Antwort auf diese in Zinnowitz unausgesprochene Frage gab der Freiheitsfunken-Kolumnist Oliver Gorus in seiner Rede mit dem Titel „Nicht mitmachen – und den Mund aufmachen“.

Demnächst soll ein Video davon auf ef-online veröffentlicht werden. Einen Punkt will ich jedoch bereits hier hervorheben. Am Anfang erzählte uns Gorus von seinem höchst eindrucksvollen Erlebnis im Sommer des vergangenen Jahres in den Alpen. Er hatte es schon einmal beschrieben, in einer ef-online-Kolumne, aus der ich zitiere:

„An einem schönen Sommertag Anfang August kippte nachmittags in einem Seitental südlich des Hauptalpenkamms das Wetter. Ich war mittendrin im Geschehen, Gott sei Dank nicht im Freien, sondern im Bergdorf und unter einem soliden Dach. Eben noch war strahlender Sonnenschein, innerhalb von wenigen Minuten verdunkelte sich der Himmel. Warme, trockene, leichte Luft wurde von kalten, feuchten, schweren Luftmassen gerammt. Wolken türmten sich auf, Blitze zuckten im Sekundentakt, und der Donner hallte zwischen den Felswänden hin und her.“ 

Gorus beschreibt weiter, wie Hagelkörner vor seinem Fenster „waagrecht vorbeiprasselten“ und „den Bäumen das Laub von den Zweigen“ schlugen. „Das Rauschen des Wassers war so laut, wie ich es von der Aussichtsplattform direkt neben dem Rheinfall in Schaffhausen kenne, einem der drei größten Wasserfälle in Europa.“ Er konnte „die drei Meter entfernte Hecke nicht mehr sehen, so stark regnete und hagelte es.“

Nach 20 Minuten war der Spuk vorbei. Aber dann ereignete sich etwas Wunderbares: Sofort begannen im Dorf „alle einheimischen Männer“ mit „hektischem Treiben“, um das angerichtete Chaos aufzuräumen. Hochdramatische Szenen spielten sich dabei ab. Das Weitere können Sie in der unten verlinkten Kolumne meines geschätzten Kollegen nachlesen. Gorus‘ Fazit war, dass sich abseits der Städte in „Ritzen der Zivilisation die Quellen und Reservoirs hartnäckig halten, aus denen sich die Gesellschaft erneuern wird, wenn sich der Staub nach dem nächsten Kollaps gelegt hat.“

In der Rede am vorvergangenen Wochenende offenbarte uns Gorus etwas, das er im Artikel unerwähnt ließ. Nämlich, dass er Minuten und Sekunden vor dem Wettersturz am Verzweifeln war. Er stand draußen, sah sich die großartige Alpenszenerie um sich herum an und musste an die erwähnte Urkatastrophe denken, die damals noch in vollem Gang war. Ich gebe nicht seinen Wortlaut, sondern nur meinen Eindruck der Beschreibung seines damaligen Gemütszustands wieder. Er fragte sich: Wo gibt es angesichts des unnachgiebigen Wahnsinns einen Ausweg?

Und dann entfaltete sich vor seinen Augen die Antwort auf seine unausgesprochene Frage.    

Von dieser wahren Geschichte inspiriert möchte ich Ihnen heute eine musikalische Interpretation des oben beschriebenen Erlebnisses präsentieren. Sie wurde vor knapp elf Jahrzehnten komponiert und 1915 uraufgefährt. Es handelt sich um die „Alpensinfonie“ des deutschen Komponisten der sogenannten Spätromantik, Richard Strauss (1864–1949). An die musste ich spontan denken, als ich auf Usedom die Rede von Gorus hörte.

Bei Wikipedia heißt es zu dem Stück: „Es war die erklärte Absicht des Komponisten, dem Hörer die Stationen einer Bergwanderung als Tongemälde unmittelbar sinnlich erfahrbar zu machen. Dieses Ziel erreicht das Werk, wie viele Musikkritiker meinen, in beeindruckender Weise.“ Zu diesen „Stationen“ gehört auch ein Gewitter. Und was für eins.

Ich habe eine Aufführung der Tondichtung unten verlinkt. Und zwar an der Stelle, an der das Unwetter beginnt. Es spielen die Wiener Philharmoniker unter der Leitung von Bernard Haitink im September 2012 bei den jährlich stattfindenden „Proms“ in der „Royal Albert Hall“ in London. Die leise Musik am Anfang dieser Stelle vermittelt Spannung und Stille – die Stille vor dem Sturm. Dann: Ein einzelner Windstoß – dargestellt von einer Klarinette. Kurz darauf pfeift, schon deutlich schärfer, eine Piccoloflöte, begleitet von Paukenschlägen, die ein fernes Donnergrollen nachahmen. Und dann – na, hören Sie selbst. Sie werden einzelne Regentropfen wahrnehmen, die sich schnell zu einem lautstarken „Rauschen vermengen, vielleicht sogar so laut wie beim Rheinfall bei Schaffhausen“ vermengen. Unter anderem. Es werden alle orchestralen Register gezogen, unter Hinzufügung von Windmaschine und Donnerblechen, um akustisch ein vollumfängliches „Weltuntergangswetter im Gebirge“ zu malen.  

Nach etwa fünf Minuten beruhigt sich die Partitur und wir hören wieder die einzelnen, jetzt nachlassenden Regentropfen. Zuletzt verzieht sich auch der Donner. Ein grandioser Stimmungswandel leitet zu einem Sonnenuntergang über, wie er farbenreich schillernd nur in den Bergen nach einem Regenguss gesehen werden kann. Das Stück endet also, man könnte sagen, versöhnlich.

Und das ist der Punkt hier: Strauss bedient ein Narrativ, welches das Abendland prägt – oder zumindest jahrhundertelang prägte: „Am Ende wird alles gut.“ Erst müssen zwar Berge erzwungen, Ungeheuer getötet und Wüsten durchquert werden. Aber danach winkt das Elysium: Freude, schöner Götterfunken. Es ist dieses Narrativ, das die Leute im Bergdorf zum „hektischen Treiben“ veranlasste, das Gorus beschrieb, um den von Regen, Überschwemmungen und Hagel verursachten Schaden einzuhegen und zu beheben. Es ist dieses Narrativ, das den Westen das lineare Denken, die wissenschaftliche Methodik, Amerika und den Quintenzirkel entdecken ließ.

Das Narrativ der derzeit herrschenden, antiwestlichen Westler dagegen ist folgendes: „Am Ende wird alles schlecht.“ Wer diesem Narrativ folgt, setzt automatisch auf die Gegenwart und will sofortige Spaßmaximierung. Wenn dann, unausweichlich, „alles in Scherben fällt“, um mal ein bei früheren Anhängern dieses Narrativs beliebtes Lied zu zitieren, versuchen sie, selbst am Zerfall noch Spaß zu haben. Sie zelebrieren dann den Sadismus.

Hätten im beschriebenen Bergdorf solche Leute das Sagen gehabt, wäre kaum das beschriebene „hektische Treiben“ in Gang gesetzt worden. Sondern ein hektisches Antragstellen, um endlich auch in dieser Gegend die Landschaft verschandelnde, den Wettergott aber – das sagen alle „Klimamodelle“ – gütig stimmende Wind- und Solarkraftwerke zu errichten. Dass dabei jede Menge nicht wiederverwertbarer Sondermüll entsteht, der in der Zwischenzeit jede Menge natürlichen Lebensraum zupflastert und jede Menge Vögel und Fledermäuse zerschreddert, ist den Gegenwartsorientierten so herzlich egal wie die biologischen Unterschiede zwischen Mann und Frau.          

War es Zufall, dass just dann, als Oliver Gorus am Tiefpunkt war und verzweifelt an niemand Bestimmten die Frage richtete, wie in aller Welt es nun weitergehen soll, er ein grandioses Naturschauspiel und die Reaktion seiner Mitmenschen darauf als Antwort bekam? Sicher, unzählige Menschen werden sich diese Frage gestellt haben, oft und immer wieder, und kein entsprechendes Schauspiel wahrgenommen haben. Auch ich gehöre dazu. Insofern war es ein Zufall. Andererseits: Gorus sah in dem, was er sah, gewissermaßen eine Antwort. Nicht nur das, er schrieb sie auf und veröffentlichte sie. Der Grund für seine Dokumentation war das ihn persönlich prägende Narrativ. Das Gesehene resonierte mit und in ihm.  

Die meisten Menschen können keinen langen Ketten logischer Argumentation folgen. Geschichten aber können sie folgen. Sie tun es sogar sehr gerne. Deshalb entstanden Narrative, die eine logische Argumentation implizit mit sich tragen. Deshalb sind sie so zentral für die Machtausübung.  

Das Narrativ, welches die westliche Zivilisation groß machte, wird uns aus dem gegenwärtigen Schlamassel ziehen. Wenn wir uns von ihm prägen lassen.

Zwei Nachwörter:

Nachwort Nummer eins: Richard Strauss war erklärter Anhänger von Friedrich Nietzsche, siehe etwa seine Tondichtung „Also sprach Zarathustra“. Der „Alpensinfonie“ wollte er zunächst den zusätzlichen Titel „Der Antichrist“ verpassen. Das Spätwerk des Philosophen, auf das Strauss damit verweisen wollte, ist, so Wikipedia, eine „Abrechnung mit dem Christentum“, in dem Nietzsche „andere Religionen wie Buddhismus, Islam oder Brahmanismus als in unterschiedlicher Hinsicht dem Christentum als überlegen gegenüberstellt“.  Was immer aber Strauss philosophisch-theologisch gedacht oder bewundert haben mag: Seine Musik spricht die Sprache des abendländischen, also christlich inspirierten Narrativs.

Nachwort Nummer zwei: Wenn Sie den von mir verlinkten Ausschnitt der „Alpensinfonie“ genossen haben, spulen Sie zurück und hören Sie sich das Stück ganz von vorne an. Sie werden zunächst in musikalische „Dunkelheit“ getaucht – die Dunkelheit vor dem Morgengrauen. Wenige Minuten später werden Sie einen akustischen, in der Welt der Musik einzigartig spektakulären Bildablauf eines Sonnenaufgangs in den Bergen erleben. Also eine Art, man könnte sagen, Elysium. Ähnliches erfahren Sie, wenn Sie die Stelle erreichen, wo wir, einen Wanderer begleitend, den Berggipfel erreichen – ab Minute 22:51. Viel Vergnügen.  

Quellen:

Oliver Gorus: „Die Reservoirs der Zivilisation“ (ef-online vom 17. August 2022)

„Alpensinfonie“ von Richard Strauss, kurz vor Beginn des „Gewittersturms“ (Wiener Philharmoniker unter der Leitung von Bernard Haitink, Youtube)

Wikipedia über die „Alpensinfonie“


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