22. Juni 2024 06:00

Die bedingungslose Liebe meiner Oma Wie sich aus Vertrauen Freiheit entwickelt

Wie ich zum Anarchisten wurde – Teil 2

von Manuel Maggio

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Bildquelle: PeopleImages.com - Yuri A / Shutterstock Das Wichtigste, was Kinder brauchen: Liebe und Vertrauen

Ich war heute mit meiner Mutter am Grab meiner Oma, um dort die Bepflanzung wieder in Ordnung zu bringen. Da meine Mutter auch nicht mehr die Jüngste ist, habe ich ihr versprochen, mich ab jetzt um die Grabpflege zu kümmern. Als ich heute so an ihrem Grab stand und mich mit meiner Mutter über die gelungenen Pflegemaßnahmen freute, wurde mir klar, dass ich meine heutige Kolumne meiner lieben Oma widmen möchte. Ohne das Vertrauen, das meine Oma uneingeschränkt in mich gesetzt hat, wäre ich wahrscheinlich nicht zu dem freiheitsliebenden Mensch geworden, der ich heute bin. Danke Oma! Für alles. Vor allem für die unendliche Liebe, die ich durch dich erfahren durfte.

Das Verhältnis zwischen meiner Oma und mir war immer ein besonderes. Ich habe zwar noch eine ältere Schwester, doch dass ich Omas Liebling war – das war kein Geheimnis. Da meine Mutter nach der Scheidung von meinem Vater bereits sehr früh wieder in Vollzeit arbeiten musste, waren wir Kinder sehr oft bei meiner Oma. Für mich war dies auch völlig in Ordnung, denn ich habe es genossen, bei ihr eine gewisse Narrenfreiheit zu haben. Meine Mutter konnte so an den Wochenenden ihre Freizeit auch etwas genießen und Dinge tun, die eine junge Frau mit Mitte 30 eben so macht. Nun aber zurück zu meiner Oma. Wer war diese Frau? Sie war Anfang des Krieges ein bildhübsches blondes Mädchen gewesen und erzählte mir oft davon, wie sie von ihren Eltern als 15-Jährige gegen Kriegsende immer versteckt wurde, da man Angst hatte, dass sie von amerikanischen oder russischen Soldaten vergewaltigt würde. Ihr Vater blieb im Russlandfeldzug vermisst und sie lebte gemeinsam mit ihrer Mutter im Münchner Stadtteil Laim. Leider war ich vor ihrem Tod noch nicht so weit – heute hätte ich noch viel mehr Fragen an meine Oma, was die Zeit des Zweiten Weltkrieges betrifft. Trotzdem blieb mir alles, was sie mir über diese Zeit berichtete, bis heute in Erinnerung. Die Angst vor den Bomben und die Angst davor, vergewaltigt zu werden, hatte meine Oma nie vergessen. Auch wenn viele sogenannte „Linke“ heute mit der Floskel „Nie wieder Krieg“ hausieren gehen – die Worte meiner Oma waren echt, und sie sagte mir nicht nur einmal: „Manuel, ich hoffe sehr, dass du so etwas Grausames wie einen Krieg niemals erleben musst.“ Leider haben viele Menschen in Deutschland solche eindringlichen Worte ihrer Verwandten nicht mehr in Erinnerung. Anders kann man sich diese Kriegsgeilheit nicht mehr erklären. Ich sehe da ganz deutlich einen Zusammenhang: Ein Dritter Weltkrieg wird umso wahrscheinlicher, je weniger Menschen es gibt, die sich noch selbst an den letzten Weltkrieg erinnern können.

Anfangs sprach ich bereits von einer gewissen Narrenfreiheit, verbunden mit unendlicher Liebe, die ich durch meine Oma erfahren durfte. Gerne möchte ich noch ein paar Beispiele liefern, damit Sie besser nachvollziehen können, wieso meine Oma für mich der liebste Mensch auf Erden war.

Ich werde Anfang 14 gewesen sein, als zwei meiner Kumpels bereits eine Gotcha-Pistole ihr Eigen nannten. Selbstverständlich wollte ich auch so ein Ding, um mit meinen Freunden im Wald Krieg zu spielen. Meine Mutter hätte mir dies nicht erlaubt, aber meine Oma marschierte mit mir an einem Samstag in einen Waffenladen, um mir eine solche Gotcha-Pistole zu kaufen. Diese war natürlich erst ab 18 Jahren erhältlich, und es war selbstverständlich auch verboten, damit im Wald zu spielen. Eine andere Situation, an die ich mich noch sehr gut erinnern kann, war der heimliche Zigarettenkauf gemeinsam mit meinem Freund Georg. Meine Oma fand diese in meiner Sporttasche. Andere Großmütter mögen hier nicht so reagieren, denn ich werde nicht älter als 13 Jahre gewesen sein. Als ich nach dem Fußballtraining nach Hause kam, flüsterte meine Oma mir ins Ohr: „Manuel, ich habe deine Zigaretten gefunden. Ich habe sie in deinem Regal hinter den Büchern versteckt, damit Mama sie nicht findet.“

Natürlich könnte man sagen, dass das kein beispielhaftes und verantwortungsbewusstes Verhalten meiner Oma gewesen sei, doch für mich sprachen daraus rückblickend schlicht Vertrauen und Liebe, und somit das Wertvollste, was einem widerfahren kann. Meine Oma besaß selbst nicht viel, doch sie erfüllte uns Kindern eben auch die kleinen materiellen Wünsche – sei es eben diese Paintball-Pistole oder ein teures Paar Turnschuhe. Meine Oma hatte nicht den Anspruch zu verstehen, warum mir etwas wichtig war. Sie akzeptierte mich von klein auf schon immer bedingungslos so, wie ich war.

Ich fand in meiner Oma einen Mutterersatz in einer Zeit, in der meine Mutter mit teilweise drei Jobs für unsere Existenz sorgte. Ich hatte in ihr einen besten Freund, mit dem ich die ersten Erotikfilme nachts im TV ansehen durfte. Meine Oma liebte mich und vertraute mir vollkommen, und so konnte ich auch dank ihr eine Kindheit ohne Verbote und freiheitseinschränkende Regeln erleben. Meine Oma hatte und hätte mir alles erlaubt, im Gegenzug wollte ich sie und meine Mutter niemals enttäuschen – man konnte sich immer auf mich verlassen. Als Schlüsselkind werde ich natürlich in gewissen Bereichen des Lebens sehr früh selbständig gewesen sein, doch die Liebe und das echte Vertrauen in mich, bereits als Kind, waren der Schlüssel zu meinem heutigen Verantwortungsbewusstsein und dem daraus resultierenden Freiheitsdrang. Mehrmals in meinem Leben bestand die Chance, auf die schiefe Bahn zu geraten, sei es durch Drogenkonsum oder in Form einer Laufbahn als Kleinkrimineller. Die Liebe meiner Oma war neben der Liebe meiner Mutter der Hauptgrund, das in mich gesteckte Vertrauen niemals zu missbrauchen. Die lockere Leine in der Erziehung hat ein dickes Band der Liebe ermöglicht, wofür ich heute unendlich dankbar bin.

Liebe Oma, ich hoffe, du bist stolz auf mich. Mein Einsatz für die Freiheit ist nicht immer leicht, aber die Erinnerung an die Liebe zu dir gibt mir auch heute noch, 18 Jahre nach deinem Tod, die nötige Kraft. Du hast mir immer vertraut, wodurch ich auch ein gewisses Vertrauen in meine Mitmenschen entwickeln konnte – ein Grundvertrauen in die Menschheit, könnte man behaupten. Wenn jeder Mensch nur einen Bruchteil der Liebe geben würde, die du gegeben hast, dann stünden wir im Jahr 2024 nicht wieder so knapp vor einem Weltkrieg. Daher widme ich dir heute diese Kolumne und wünsche allen, die diesen Text hier lesen, mehr Liebe und Vertrauen, damit daraus auch wieder echte gelebte Freiheit entspringen kann.


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