30. August 2022 08:00

Personalprüfung zu Uwe Tellkamp Geist und Zorn

Ein Schriftsteller als Fels in der Brandung gegen den Zeitgeist

von David Andres

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Ende der Nullerjahre war die Welt noch in Ordnung. Gut, sie stand längst auf der Kippe, der 11. September zeitigte seit Jahren seine Folgen, und die Finanzkrise nahm durch die Pleite der Lehman Brothers als erstem Anstoß ihren Lauf, aber es gab noch einen offeneren Diskurs über sämtliche Themen – und einen Uwe Tellkamp, der mit seinem 976 Seiten starken Roman „Der Turm“ in den Jahren 2008 und 2009 den Uwe-Johnson-Preis, den Deutschen Buchpreis und den Deutschen Nationalpreis gewann. Der bei Suhrkamp als Hauptverlagshaus der literarischen Hochkultur erschienene Roman zeichnet wie kein zweiter anhand dreier Generationen das Leben und Leiden in der DDR nach. Lobende Amazon-Nutzer erkennen in diesem Gesellschaftspanorama der sozialistischen Diktatur „Parallelen zur ideologiefixierten gegenwärtigen Entwicklung“ oder schreiben: „Leider scheint das alles wieder Realität zu werden.“ Und damit befinden wir uns im Jahre 2022, in dem Uwe Tellkamp mit „Der Schlaf in den Uhren“ eine kaum minder langes komplexes, verstörendes kafkaeskes Gleichnis vorgelegt hat, die der Gegenwart nun endgültig den Spiegel vorhält … und dazu führt, dass er kürzlich als Laudator die Präsentation des neuen Titels eines befreundeten Sachbuchautors begleitet hat, der auf nichtfiktionale Weise den Finger in die gleichen Wunden legt – Thilo Sarazzin.

Was an diesem Nachmittag des 22. August – tatsächlich im Haus der Bundespressekonferenz – geschah, lohnt die 103 Minuten des von „Tichys Einblick“ konservierten Videos, vor allem wegen der besagten Vorrede durch Tellkamp, die ein rhetorisches Feuerwerk gegen den Zeitgeist darstellte, wie es sich kaum ein anderer Schriftsteller der Gegenwart abzufackeln traut.

Die Reaktion des Staates auf Thilo Sarazzins 2010 erschienenes Buch „Deutschland schafft sich ab“ beschreibt Tellkamp in der Rückschau so: „Im Jahr 2010 dann brach der Vielfaltsberg aus. Der größte Vulkan auf dem Gebiet der deutschen demokratischen Meinungswirtschaft. Was war geschehen? Thilo Sarazzin hatte es gewagt, Statistiken zu veröffentlichen. Und nicht nur das, aus diesen Statistiken zog er außerdem noch Schlüsse. Das folgende Theaterstück war im Staatsschauspiel durchaus erprobt. Ungewohnt war die Intensität. Nennen wir es: Schlammödie. Ist der Name auch neu, so doch das Verfahren vertraut.“

Anlässlich von Sarazzins neuem Buch „Die Vernunft und ihre Feinde“, um das es an diesem Tag ging, holt Tellkamp gegen die ideologisierte Gegenwart, die DDR 2.0, vollumfänglich aus – und erfindet dabei neue Begriffe, angelehnt an das einst bekannt gewordene „Merkeln“. So bezeichnet er den kommenden Überlebenskampf in einem Winter mit Mangel an Strom und Gas in einem ehemaligen Industrieland als „Habecken“ und definiert als „Baerbocken“, „Kobolde im Netz zu sehen“ und „die Windräder dafür zu bestrafen, dass sie sich drehten, wann und wie sie wollten“. Der Moment, indem das absurde Schauspiel der Gegenwart zur harten Realität gemacht wird, ist „Faesern“, und das „Denunzieren mit Lust und öffentlicher Anerkennung fürs Lumpentum“ heißt ab sofort „Lauterbachen“.

Nach Tellkamps Laudatio und Thilo Sarazzins im Vergleich dazu eher kühler, aber nicht minder scharfer Analyse der Gegenwart fragte ein Journalist den Schriftsteller, woher denn der ganze Zorn komme, den er transportiere. Des Autors Antwort: „Sind Sie ruhig? Woher kommt Ihre Ruhe? Wer mit wachen Sinnen durch unser Land geht und die Entwicklung verfolgt, der kann meiner Meinung nach nicht ohne einen gewissen Zorn auskommen. Wir reden im Jahr 2022 über Habecken. Wir müssen vorbereiten, ich muss für meine Familie in der Wohnung ohne Ofen überlegen, was ich für eine Brennmöglichkeit kriege, im Jahr 2022.“

Der Schriftsteller Uwe Tellkamp ist zornig und nimmt nichts zurück. Er spricht eine Laudatio auf Thilo Sarazzin, springt (anders als dieser) in die Bresche für Impfkritiker der Corona-Spritze, beschimpft die Journalisten der Leitmedien dafür, in Berlin neben den Kontrolleuren der Maskenpflicht als Kontrollassistenten in der U-Bahn gestanden zu haben.

Der Schriftsteller Uwe Tellkamp schreibt lang, ausschweifend, sperrig und gegen jeden Markt und jede verkürzte Aufmerksamkeitsspanne.

Der Schriftsteller Uwe Tellkamp findet Worte für den Volkszorn, die brillant sind und diesen sogar anfachen.

Der Schriftsteller Uwe Tellkamp veröffentlicht weiterhin bei Suhrkamp.

Ein Monolith, ein Fels in der Brandung, selber – ein Turm.

„Tichys Einblick“ – Buchvorstellung Thilo Sarrazin: Die Ampelkoalition opfert die Vernunft dem Wunschdenken

Uwe Tellkamp bei Suhrkamp


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