Wahl in Brasilien: Das Ende einer Illusion
Demokratie ist nicht die Lösung, sondern das Problem
von Stefan Blankertz
Alles schon da gewesen: Wenn in einer Wahl den Linken eine Schlappe beigebracht wurde, bricht im Lager der Konservativen, Liberalen und Libertären Freude aus, die sich zwischen klammheimlich bis begeistert bewegt. Demokratiekritik ist vergessen, auf einmal zählt der Wille der Massen, der Volkswille avanciert zum Heiligtum. Und dann Katerstimmung, wenn sich das Blatt wendet. Wie konnte das passieren? Die Antwort ist dann schnell zur Hand: Wahlbetrug! Mit dem Narrativ des Wahlbetrugs werden zwei Dinge überdeckt.
Zum einen gerät es völlig in den Hintergrund, dass es komplett egal ist, ob 50,01 Prozent für den einen Irren oder für den anderen Irren gestimmt haben. Es ist falsch, dass 50,01 Prozent über 49,99 Prozent herrschen. Nebenbei bemerkt: Es wäre genauso falsch, herrschten 99,9 Prozent über 00,01 Prozent. Demokratie ist falsch, weil sie eine Form der Rechtfertigung von Herrschaft darstellt. Ganz abgesehen davon ist es meistens so, dass die Mehrheit eben auch funktional gesehen nicht recht hat. Wenn diese Einsicht feststeht, so gilt sie für linke Mehrheiten genauso wie für nicht linke Mehrheiten.
Zum anderen überdeckt das Narrativ des Wahlbetrugs die Analyse, warum ein nicht linker Kandidat aus dem Amt gewählt wird, sei es in den USA, sei es in Brasilien, sei es sonst wo. Denn diese Analyse würde die alte Einsicht erneut hervorbringen, dass Politik nicht anders kann als zu spalten, Bevölkerungsteile gegeneinander aufzuwiegeln, ein Interesse Bürger gegen Bürger zu konstituieren. Auch das gilt für linke wie für nicht linke Amtsinhaber. Dies liegt in der Natur der Politik, denn Politik bedeutet schließlich, mit struktureller Gewalt partikulare Interessen durchzusetzen. Dies produziert Gewinner und Verlierer. Die Verlierer sinnen auf Rache. Wenn sie genügend viele sind, gewinnen sie die Wahl, und das Pendel der Demokratie schwingt in die Gegenrichtung.
Nur dann, wenn ein Amtsinhaber entscheidet, den demokratischen Prozess mit einer Steigerung der Staatsgewalt auszusetzen (wie beispielsweise geschehen in Venezuela), kann er das Pendel für eine gewisse Zeit aufhalten. Aber auch das nur für eine gewisse Zeit, nämlich genau so lange, bis die durch die Politik herbeigeführte Krise die Gegenkräfte so stark gemacht hat, dass sie sich auch ohne formale Wahl durchsetzen können. Die Idee, mit einem durch eine demokratische Wahl inthronisierten konservativen (liberalen?) Staatschef könne etwas in Richtung der Besserung erreicht werden, ist nicht nur eine Illusion, sondern vielmehr eine böse Illusion, weil sie letztlich dazu führt, dass der Idee der Freiheit all die Fehler und Krisen angelastet werden, die solch ein Staatschef begeht. Den acht Jahren Ronald Reagan, in denen er den Staat in einer bis dato unerreichten Weise aufblähte, bescherte der Welt das glaubhafte Narrativ, die bösen Neoliberalen würden den Staat zerstören und die Armen schutzlos dastehen lassen wollen. Vier Jahre Donald Trump und vier Jahre Jair Bolsonaro werden der Welt hinterlassen, dass Konservative Rüpel seien. Sie nahmen dem Konservatismus das Wertvollste, das er zu bieten hat: die guten Manieren.
Die Verbindung der Opposition gegen den linken Etatismus mit der konservativen politischen Agenda ist nicht nur falsch in Hinblick auf die damit einhergehende Zustimmung zum demokratischen politischen Prozess, sondern auch in Bezug auf den Konservatismus. Zwar ist es verständlich, sich angesichts des linken Etatismus mit den Kräften zu verbinden, die einen Schritt zurückgehen wollen. Doch steht der Konservatismus immer auf der Verliererseite. Die gute alte Zeit kommt nicht zurück. Zwar mögen einige Menschen eine gute Erinnerung an jene Zeit haben, aber gleichzeitig ist jene Zeit verbunden mit genau der Krise, die zu der gegenwärtigen Veränderung führte. Die Veränderung, die der linke Etatismus herbeiführt, ist zwar keine Lösung, aber die Rückkehr zu dem vergangenen Zustand ist unmöglich. Wenn Konservative an die Macht gelangen, mutieren sie unweigerlich zu Klonen der linken Etatisten, wenn auch der eine oder andere Inhalt dessen, was sie mittels Staatsgewalt durchsetzen, ausgetauscht werden mag.
Der Versuch, das Staatswachstum, das durch den linken Etatismus herbeigeführt zu werden scheint, im konservativen Sinne wenigstens abzubremsen, scheitert. Dazu muss man vor allem verstehen, dass die Ideologie, mit der die Staatsgewalt agiert, nur eine ornamentale Funktion spielt. Sie ist nicht der Motor, das Agens, die Ursache des Staatswachstums. Das Staatswachstum gründet in der Interventionsspirale: Jeder Eingriff der Staatsgewalt in den sozialen und ökonomischen Zusammenhang führt zu mehr Problemen, als er lösen kann, und fordert (solange man in der Logik der Staatsgewalt verbleibt) neue weitere Eingriffe heraus. Für diesen Vorgang ist es völlig einerlei, welcher politischen oder ökonomischen Theorie die Akteure des Staats anhängen. Solange sie im Sinne der staatlichen Gewalt handeln, können sie nicht anders, als den Staat auszubauen, mal schneller, mal langsamer – auch dies meist nicht nach Maßgabe ihrer Ideologie, sondern nach Maßgabe der funktionalen Notwendigkeiten, um die Staatsgewalt aufrechtzuerhalten, zu festigen und womöglich zu erweitern.
Der ideologische Sieg der Linken liegt auf einem anderen Gebiet, und bei diesem Sieg spielt die seit Langem bestehende Anlehnung des Wirtschaftsliberalismus an die konservative Politik eine unselige Rolle: Der Wirtschaftsliberalismus scheint in den Augen der Wähler nicht eine in die Zukunft gerichtete fortschrittliche Lösung der Krisen und Probleme dazustellen, sondern er orientiert sich an dem vergangenen Glanz einer Nation, der niemals bestanden hat. Mit dem Märchen von der guten alten Zeit ist kein Staat zu machen und nur selten eine Wahl zu gewinnen. Stattdessen gewinnen Hasardeure und, wie gerade in Brasilien, korrupte Linke.
Das sollte zu denken geben: Wie gelingt es, die Sache der Freiheit sowohl in ökonomischer als auch in sozialer Hinsicht wieder als fortschrittlich positionieren zu können?
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