Krieg und Frieden – Teil 24: No War but the Class War?
Eine bolschewistische Illusion

No War but the Class War: Ist der (gerechte) Krieg der Unterdrückten etwas grundsätzlich anderes als der Krieg zwischen Staaten oder ein normaler Bürgerkrieg? Die Rede vom Klassenkrieg klingt wie aus der Zeit gefallen, taucht aber dennoch immer mal wieder auf als nostalgische Erinnerung an eine Zeit, in der es noch vermeintlich klare Fronten gab. Die Rede von Klassen statt von Unterdrückten verweist auf ein ökonomisches Interesse: Die Unterdrückten seien zugleich die wirtschaftlich benachteiligten oder ausgebeuteten Menschen und ihr Krieg gegen die Unterdrücker, Ausbeuter oder generell „die Reichen“ wäre gerecht.
Wenn man auf die Geschichte der (Bürger-) Kriege schaut, dann ist es durchaus fraglich, ob es jemals einen Klassenkrieg gegeben hat. Sicherlich stehen hinter allen Kriegen zumindest auch ökonomische Interessen. Doch die formulierten Kriegsziele und -anlässe kreisen vor allem um imperiale Expansion, regionale Unabhängigkeit sowie um religiöse oder ethnische Hegemonie. Dort, wo der Marxismus im 20. Jahrhundert zur kriegsleitenden Ideologie wurde, verband er sich mit dem Antiimperialismus und wurde mehr national als sozialistisch. In den 1960er Jahren wurde von marxistischer Seite denn auch eher von Volks- als von Klassenkrieg und von nationaler als von sozialer Befreiung gesprochen. Die Kampforganisationen trugen meist die Formel von der „nationalen (Befreiungs-) Front“ im Namen.
Sei dem, wie es wolle – stellen wir uns in einem Gedankenexperiment die Frage, ob ein Klassenkrieg sich qualitativ von anderen Kriegen unterscheiden könnte. Geben wir sogar zu, dass sein Ausgangspunkt gerecht sei; aber könnte er gerecht bleiben? In allen Analysen von Kriegen haben wir gesehen, dass die Partei, die zu unterliegen droht, eine Eskalation der Gewalt in Gang setzt. Oder anders gesagt: Wenn eine Partei im Falle der drohenden Niederlage nicht zur Eskalation der Gewalt greift, katapultiert sie sich unmittelbar aus der Geschichte heraus. Sie nimmt die Niederlage hin und geht sang- und klanglos unter. Ich habe hierfür ein historisches Beispiel. Im Siegeszug des italienischen Faschismus während der beginnenden 1920er Jahre entschied der Führer der Anarchisten, Errico Malatesta, nicht in die ihm angetragene Rolle eines Lenins zu schlüpfen. Lieber wolle er eine Niederlage in Kauf nehmen, als Erschießungskommandos übers Land zu schicken. Dies sagte er, obwohl er kein Pazifist war und den Einsatz von Waffengewalt nicht per se ablehnte. Doch die Entwicklung in Russland hatte ihm gezeigt, was mit der Revolution geschieht, wenn man sich der Logik des Kriegs unterwirft. Natürlich attestierte ihm die Historikerzunft postwendend, dass er sowieso niemals eine Chance gehabt habe. Aber aufgepasst. Vor dem Oktober 1917 hat wirklich niemand auf einen möglichen Sieg Lenins gewettet.
Wenn dagegen die eine Seite zu härteren Mitteln greift, wird die andere Seite sich dazu legitimiert sehen, diese ebenfalls einzusetzen oder sogar noch weiter in Richtung Gewaltverschärfung zu gehen. Erst an diesem Höhe- (oder besser: Tief-) Punkt angelangt, kommt es zu einer Entscheidung. Genau das ist in Russland geschehen und war für Malatesta der Grund, sich der Logik des Kriegs zu widersetzen.
Für den Klassenkrieg gilt demnach ebenso wie für jeden anderen Krieg, sei es der zwischen Staaten oder sei es der in den Staaten zwischen verschiedenen Gruppen: Wenn die moralisch lauteren Klassenkrieger nach anfänglichen Erfolgen in die Defensive geraten, weil der attackierte Staat sich nach dem ersten Schrecken und dem ersten internen Chaos regeneriert und seine militärische Infrastruktur in Stellung gebracht hat, dann stehen sie vor der Frage, ob sie aufgeben oder sich in die Spirale der Eskalation von Gewalt begeben wollen. Aus dem Abstraktum des bösen Klassengegners werden konkrete Menschen, Soldaten und ihre Familien, die man mit allen Mitteln bekämpfen muss, falls der Kampf weitergehen soll. Wer hier einem romantischen Bild des gerechten Befreiungskämpfers anhängt, den fordere ich dazu auf, folgende Fragen zu beantworten: Wie wirst du mit Personen in den eigenen Reihen umgehen, die des Verrats verdächtig sind? Einen gerechten Prozess führen? Oder foltern? Oder standrechtlich erschießen? Und wie wirst du mit Gegnern verfahren, von denen du annimmst, dass sie deine Leute massakriert haben? Milde walten lassen? Oder nicht doch den Racheengel abgeben?
Das neben der Eskalation der Gewalt zweite Charakteristikum, das wir in allen kriegerischen Auseinandersetzungen gefunden haben, ist die Logik der Verbündung, die von Moral ganz absehen muss. Dies gilt natürlich auch für die Klassenkämpfer: Der Feind ihres Feindes muss ihr Freund sein, zumindest vorübergehend. Als nach der Oktoberrevolution 1917 die Konterrevolution der sogenannten Weißen stattfand, verbündete sich die Rote Armee unter dem Befehl von Leo Trotzki mit den anarchistischen Bauernrebellen unter dem Befehl von Nestor Machno, nur um dann nach dem gemeinsamen Sieg über die Weißen unerbittlich gegen die Machno-Leute vorzugehen. Die Machno-Leute waren wilde und sicherlich auch grausame Kämpfer und es wird ihnen auch ein Massaker an einer Mennonitensiedlung Ende 1919 zur Last gelegt; doch die letzte Eskalation machten sie nicht mit: Trotzki ließ alle kriegsgefangenen Machno-Leute standrechtlich erschießen, während die Machno-Leute die Rotarmisten kurzerhand laufen ließen. Und es kam, wie es unter diesen Umständen kommen musste. Wäre es Machno besser ergangen, wenn er sich mit den Weißen statt mit der Roten Armee verbündet hätte? Sicherlich nicht. Nur ein Datum: Auf der Seite der Weißen kämpfte als ein Befehlshaber Baron Roman von Ungern-Sternberg, dessen unbändige Grausamkeit sogar den anderen weißen Kommandeuren, die wahrlich nicht zimperlich waren, Angst und Schrecken einjagte. Ein moralisch sauberer oder wenigstens ebenbürtiger Verbündeter stand Machno schlicht nicht zur Verfügung.
Bei genauer Analyse stellt sich die Formel „No War but the Class War“ demnach als genauso unsinnig heraus wie die ältere Rede vom „gerechten Krieg“ (siehe Teil 6 dieser Serie). Nicht nur die Tatsache, dass jede Seite der Kontrahenten ihre Sache als die „gerechte“ bezeichnet, stellt eine Hürde für einen sinnvollen Begriff des gerechten Kriegs dar, sondern auch die genannten beiden Tendenzen jeder Kriegshandlung: die Tendenz, dass im Laufe der Kampfhandlungen sich beide Seiten in einer Spirale der Gewalteskalation verfangen, sowie die Tendenz, dass es zu einer Verbündung mit moralisch zweifelhaften Akteuren kommt. Die Vorstellung, dass eine gerechte Sache wie der Feldzug für eine bessere Gesellschaft per se zu der moralisch richtigen Form der Kriegsführung bestimmt, ist ebenso naiv wie die Vorstellung, der Feldzug für einen gütigen Gott werde die Kämpfer darauf verpflichten, keine Verbrechen zu begehen.
Zu diesem Ergebnis kommt nicht nur die Empirie allein. Die Erfahrung, dass es in der Vergangenheit nicht gelungen ist, eine moralisch richtige Form der Kriegsführung zu etablieren, mag es zwar unwahrscheinlich erscheinen lassen, dass dies in Zukunft gelingen kann, schließt es allerdings keineswegs aus. Doch es gelingt auch kein Gedankenexperiment, in dem ein „Klassenkrieg“ nicht in die Bahnen der ganz normalen kriegerischen Auseinandersetzung geraten wird.
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