15. August 2025 06:00

Sexualität und Freiheit – Teil 1 Wenn die Haupt- zur Nebensache wird

Natur oder Kultur?

von Stefan Blankertz drucken

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Bildquelle: Nicoleta Ionescu / Shutterstock Mutter des Partners: Per se ein „Schwiegerteufel“?

Jede Behauptung, Sexualität sei eine Nebensache, scheitert bereits an der Biologie: Für alle sich sexuell vermehrenden Lebewesen, zu denen die Menschen gehören, ist Sexualität zusammen mit der Ernährung die Hauptsache. Sich zu nähren und fortzupflanzen und zu wachsen, das ist nach Aristoteles die Definition eines Lebewesens. Eine geschlechtliche Art, die sich nicht mehr als sexuell versteht, die Sexualität nicht mehr zur Hauptsache macht, stirbt aus.

Doch auch kulturell stimmt es nirgendwo, dass Sexualität eine Nebensache sein kann. Sogar in den schärfsten religiösen Zurückweisungen der Sexualität scheint auf, dass diese das dominierende Element im natürlichen wie im kulturellen Leben ist. Wer Vehemenz und Moralität einsetzt, um Sexualität abzuwerten, widerlegt sich selber: Was eine Nebensache wäre, erledigte sich ohne weiteres Zutun und müsste weder abgewehrt noch verdrängt werden.

Aber wie stehen Natur, Kultur, Religion, Herrschaft und Freiheit zueinander? Das sind die Fragen, denen ich in dieser Serie nachgehe.

Zunächst scheint es so, als gäbe es eine klare Entgegensetzung: Die Entfesselung der Sexualität von strikten moralischen Normen bedeutet den Niedergang der herrschenden gesellschaftlichen Ordnung. Wer die herrschende gesellschaftliche Ordnung befürwortet und aufrechterhalten will – die Konservativen –, stemmt sich dieser Entfesselung entgegen. Wer die herrschende gesellschaftliche Ordnung als unter- oder bedrückend empfindet, plädiert für die Entfesselung. Doch halt: Die Macht ist oftmals mit der sexuellen Dekadenz identifiziert, nicht nur bei den römischen Kaisern, sondern auch bei einem mystifizierten Präsidenten wie John F. Kennedy. Hiergegen pochen Opposition und Widerstand auf Moral und Anstand. Historisch ist der Puritanismus eine politisch revolutionäre Kraft gewesen, der die konservative Ordnung durcheinanderwirbelte. Andererseits: Wenn gegenwärtig der Islamismus die Familienehre bis zu der Berechtigung steigert, unkeusche Töchter zu töten und homosexuelle Söhne aufzuknüpfen, beharren europäische Konservative auf den Errungenschaften der sexuellen Freizügigkeit, als hätten ihre Vorväter nicht gezögert, damals genauso zu handeln wie die Islamisten heute. Zeitgenössische fundamentalistische Christen träumen davon, zu gewalttätigen Normen zurückzukehren, die aus dem Alten Testament stammen und denen der Scharia Jota um Jota gleichen.

In dieser Serie werde ich der Frage nach dem Verhältnis von Sexualität, Gesellschaft und Herrschaft mit der dialektischen Methode angehen, die ich nicht nur von Hegel, nicht nur von Marx und nicht nur von Adorno lernte, sondern auch – insbesondere, als ich seine Texte übersetzte – von dem unvergleichbaren Vater des Anarchismus, Pierre-Joseph Proudhon (1806–1865): die jeweiligen Entgegensetzungen ernst nehmen und in einer Synthese „aufheben“ (das heißt: Sowohl These als auch Antithese sind in ihr bewahrt). Natürlich ist das die Methode, die ich bereits bei den Scholastikern Peter Abaelard und Thomas von Aquin angetroffen hatte, ohne zu realisieren, worin sie wirklich besteht.

Ein Beispiel für das heikle Ineinandergreifen oder Gegeneinanderstehen von Ansätzen der Theorie, die ich befragen werde: Gehen wir von dem anekdotisch belegten Umstand aus, dass die Mutter eines Sohnes dazu tendiert, die Schwiegertochter zu bekämpfen und deren Ehe zu sabotieren, die Mutter einer Tochter hingegen dazu, den Schwiegersohn zu hofieren und deren Ehe zu erhalten? Zusätzlich nehmen wir an, dass diese anekdotische Weisheit einer statistischen Überprüfung standhält. Solche Tendenzen sind niemals eherne Regelmäßigkeiten, sondern ausschließlich empirische Wahrscheinlichkeiten, von denen es vielfache Ausnahmen gibt. Das unterschiedliche Verhalten der Mütter gegenüber den Schwiegerkindern je nach Geschlecht des eigenen Kindes lässt sich soziobiologisch gut erklären. Die Soziobiologie geht von dem Grundsatz des sogenannten „egoistischen Gens“ aus: Der evolutionäre Selektionsdruck wirke nicht auf der Ebene der Art („Was ist gut für die Art?“), sondern auf der Ebene des einzelnen Gens im Individuum („Was führt zur Verbreitung des Gens?“). Richard Dawkins, der die Soziobiologie zwar nicht erfunden hat, jedoch ihr eloquentester und konsequentester Vertreter ist, spricht vom Individuum als einer Kopiermaschine für Gene. Für die Gene der Mutter des Sohnes liegt die Optimierung in der Vervielfachung von dessen Sexualpartnerinnen. Die Elterninvestition (der biologische Aufwand, um Nachkommen zu generieren) ist bei einem männlichen Wesen sehr gering, bei einem weiblichen Wesen, vor allem bei Säugetieren und bei Tieren mit langer Brutpflege, sehr hoch. Die Mutter des Sohnes setzt auf Masse, die Mutter der Tochter setzt auf Sorge für die Nachkommen und stabile Bedingungen für deren Aufzucht.

Dasselbe Phänomen (weiter unter der Voraussetzung, es stelle sich als empirisch nachgewiesen heraus) lässt sich aber auch mit der Psychoanalyse erklären: Die Mutter des Sohnes ist eifersüchtig auf die Schwiegertochter und will ihren Sohn für sich haben. Dagegen liebt die Mutter der Tochter ihren Schwiegersohn und setzt alles daran, ihn an die Familie zu binden.

Obwohl beide Erklärungsansätze das Gleiche erklären und es einem egal sein könnte, welcher Ansatz nun denn der richtige ist, haben sie doch unterschiedliche Auswirkungen auf die Frage nach den Änderungsmöglichkeiten des beobachteten Verhaltens. Wenn es sich um ein biologisch gesteuertes Verhalten handelt, ist es eher eine Konstante, auf die man wenig Einfluss nehmen kann. Handelt es sich dagegen um ein psychisch bedingtes Verhalten, sind die Möglichkeiten einer Änderung sicherlich größer, obwohl auch die Psychoanalyse dazu tendiert, den von ihr dingfest gemachten Regelmäßigkeiten eine Art überzeitliche und überkulturelle Gültigkeit nachzusagen.

Aber auch die Soziobiologie entkommt der kulturellen Bedingtheit ihrer Aussagen nicht. Wenn es anstelle der monogamen Einehe eine Clanstruktur oder eine Polygamie als Familiensystem gibt, wird das beschriebene Schwiegermutter-Paradoxon nicht auftreten. Auch hier erhebt sich die Frage, ob diese Aussage empirisch belegbar ist; insofern die soziobiologische Erklärung richtig ist, müsste das Paradoxon freilich verschwinden. Auftreten würde es (nach dem soziobiologischen Ansatz) zwar auch in der nicht-monogamen Kultur, falls die in ihr lebenden Menschen zu einer idealtypisch monogamen Lebensweise übergehen; dies zeigt sich aber so lange nicht, wie kein solcher Übergang stattfindet. Oder erkenntnistheoretisch formuliert: Die soziobiologische Aussage lässt sich in diesem Fall nicht empirisch nachprüfen, außer wir finden eine Kultur mit einem solchen Übergang.

Wir sehen bereits an diesem kleinen Beispiel, dass es bei den die Sexualität und das reproduktive Verhalten betreffenden Fragen eine enge Beziehung zwischen Biologie, Kultur und Gesellschaft gibt. Dagegen behaupten die Erklärungsansätze und Moraltheorien meist, allein ihr Gesichtspunkt sei ausschlaggebend. Beispielhaft habe ich hier Soziobiologie und Psychoanalyse herangezogen. Aber ähnliche Alleinvertretungsansprüche melden auch religiöse Vorstellungen an, ebenso wie die Philosophie von Michel Foucault, der sich zentral mit der Frage von Sexualität und Gesellschaft beschäftigt hat. Mir ist kein Ansatz bekannt, der eine Zusammenschau der verschiedenen Faktoren vornimmt, an die ich mich in dieser Serie wage.


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