04. Dezember 2022 19:00

China, Proteste im Reich der Mitte Das eigentliche Problem …

… sind weniger die Covid-Lockdowns oder die schwächelnde Wirtschaft, sondern eine rückwärts orientierte Führungsspitze

von Stephan Unruh

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In Peking, Shanghai, Guangzhou und etlichen weiteren Städten gingen Menschen auf die Straße und protestierten gegen die Lockdowns. Im Westen wurden die Menschen – völlig zu Recht – als Helden gefeiert, wobei Politiker ebenso wie Medien den eigenen Umgang mit Kritikern genau derselben Lockdown-Politik entspannt unter den Teppich kehrten. Stattdessen wurde der Eindruck erweckt, es handele sich in China um eine einzigartige landesweite Erhebung und sei in dieser Form noch nie vorgekommen.

Tatsächlich aber wird hier in China alle naselang demonstriert protestiert und sich aufgelehnt. Die Chinesen sind ein friedfertiges Völkchen, aber wenn es an ihr Allerheiligstes – das Geld – geht, können sie schnell ungemütlich werden. Als beispielsweise letztes Jahr in der Provinz Anhui einige Banken pleitegingen (weil sich die Vorstände Milliarden in die eigenen Taschen abgezweigt hatten), standen schnell 500.000 Menschen auf den Straßen der Provinzhauptstadt Hefei und forderten ihr Geld zurück. Obwohl das Regime Panzer auffahren ließ(!), entschied man sich dann doch relativ schnell dazu, dem Druck der Straße nachzugeben, und entschädigte alle Kleinsparer, deren Einlagen – meines Wissens – 100.000 Yuan (circa 15.000 Euro) nicht überstiegen. Damit hatte man 99,9 Prozent der Demonstranten von der Straße und die verbliebenen 5.000 hatten Pech. In westlichen Medien las man dazu nur, dass „das Regime“ die Covid-QR-Codes potenzieller Demonstranten (also Kontoinhaber) vorsorglich auf Rot schalten ließ, um so ihre Bewegungsfreiheit einzuschränken – was zwar stimmte, doch wurde dabei vergessen zu erwähnen, dass aufgrund der daraufhin landesweit einsetzenden Empörung die verantwortlichen Polizeichefs, Bürgermeister und Vizegouverneure ihre Hüte nehmen mussten. Aus meiner Pekinger Zeit kann ich mich an den Fall erinnern, dass der Bürgermeister einer Kleinstadt in Zentralchina von einer aufgebrachten Menge aus dem Amtssitz gezogen und dann gelyncht wurde, weil er ein Kleinkind überfahren hatte und nach dem Unfall Fahrerflucht beging (beziehungsweise ist er einfach weitergefahren, in der Annahme, dass der Pöbel ihm als Bürgermeister eh nichts könne und seine Bälger halt nicht auf der Straße spielen lassen solle).

Und jüngst gab es hier in Dongguan eine handfeste Auseinandersetzung, weil ein lokaler Immobilienentwickler oder das betreffende Management des Compounds die Parkplätze desselben, vermutlich im Zusammenspiel mit einigen Beamten der zuständigen Behörden, nicht einmal, sondern zwei- oder dreimal verkaufte – seitdem eskalierte dort ein „Parkplatzkrieg“, der schließlich durch einige Hundertschaften gelöst wurde. Wie derartige Proteste enden, ist immer davon abhängig, wie viele Leute auf die Straße gehen, wer welche Verbindung zu einer höheren Ebene hat, ob die Verantwortlichen noch große Karriereplänen haben, jemand anders diese Karrierepläne durchkreuzen will und und und ... Der Parkplatzkrieg von Dongguan fand sein vorläufiges Ende beispielsweise damit, dass die (sich im Recht befindliche) Rädelsführerin für zwei Monate ins Gefängnis musste – hauptsächlich deshalb, weil der Polizeichef von Dongguan noch hoch hinauswill und deshalb Frieden in seinem Ort wünschte. Aus demselben Grund gibt es Dongguan übrigens auch offiziell kaum Covid-Infektionen, obwohl im angrenzenden Guangzhou die Zahlen explodieren.

Damit sind wir bei den aktuellen Geschehnissen: Diese sind tatsächlich insofern sehr ungewöhnlich, als dass das Regime direkt und Winnie Pooh (aka Xi Jinping) selbst kritisiert und angegriffen wurden. Eine Massenbewegung oder gar einen beginnenden Sturz des kommunistischen Regimes stellen sie nicht dar. Im dritten Corona-Jahr sind die viele kleine Unternehmer, Selbständige und Tagelöhner am Ende ihrer Kräfte – für sie macht es dann schlicht keinen Unterschied mehr, ob sie zu Hause oder beim Staat eingesperrt sind, wobei man immerhin bei Letzterem eine Schüssel Reis gratis bekommt. Dazu kommen die Studenten, die teilweise seit drei Jahren auf den Campi der Universitäten eingesperrt sind. Beamte, Angestellte bei Großkonzernen und jene, die auch im Homeoffice arbeiten können, haben aber sehr viel weniger Probleme und werden auch nicht auf die Straße gehen. Zudem ist es so, dass das Zentralregime schon längst signalisiert hatte, die Zügel lockern zu wollen – es gab bereits vor Monaten erleichterte Einreisebedingungen mehrfache Anmahnungen, dass die lokalen Behörden mit Augenmaß bei der Bekämpfung der Pandemie vorgehen sollten. Nur was heißt das?

Anders als im Westen wahrgenommen, ist China mitnichten ein monolithischer Block, in dem Peking befiehlt und die Befehle sofort umgesetzt werden. Das Land ist in Wahrheit ein riesiger chaotischer Kochtopf, in dem jede staatliche Ebene (Zentralstaat, Provinzen, Städte und Kommunen sowie einzelne Distrikte) ihre ganz eigenen Gesetze, Regeln und Vorgaben erlässt, die denen der nächsthöheren Eben oft widersprechen oder die diese unterlaufen oder in eine ganz andere Richtung lenken. Die Folge ist ein riesiges Chaos. Corona wird auch in China zwar immer unter dem Label Schutz der Bevölkerung verkauft, aber tatsächlich kochen die Verantwortlichen überall ihr eigenes Süppchen. An den Masken und den Test lässt sich trefflich verdienen, Konkurrenten – wirtschaftliche wie politische – können ausgeschaltet oder überflügelt werden, die eigene Karriere vorangetrieben und so weiter. Und in jeder Stadt, ja, in jedem Stadtteil gelten andere Regeln, die Reisecodes sind oftmals nicht aufeinander abgeglichen, und eine Reisehistorie, die in Shenzhen akzeptiert wird, führt in Lijiang unter Umständen zu einer Woche Quarantäne.

Hinzu kommt, dass die bisherige Zero-Covid-Politik eng mit Xi verknüpft war. Daher kann Peking nun nicht einfach eine 180-Grad-Wende hinlegen, sondern muss es langsam und vorsichtig vorbereiten, sodass der große Steuermann sein Gesicht nicht verliert. Tatsächlich könnten die Proteste hier sogar nützlich sein, in dem Sinne, dass man die angestrebte Öffnung beschleunigt. Denn 2022 war gerade dank der verfehlten Corona-Politik ein Höllenjahr für China. Die Wirtschaft ist in einem katastrophalen Zustand, und über allem schwebt die gewaltige Immobilienblase, deren Platzen vermutlich wirklich zu Volksaufständen führen dürfte. Jedenfalls wurden in Guangzhou binnen 24 Stunden nach den Protesten quasi alle Maßnahmen aufgehoben.

Wie es nun weitergeht, werden die nächsten Wochen zeigen – aber das Regime wird sich die Ereignisse in jedem Fall merken und sich vermutlich früher oder später auf die eine oder andere Art „revanchieren“. Eines ist allerdings klar: Chinas wirkliches Problem ist weniger die Covid-Politik oder die schwache Wirtschaft, sondern die Führungsspitze, in der mehr und mehr erneut die kommunistische Ideologie die entscheidende Rolle spielt.


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