Wer hätte das gedacht?: Bayerische Corona-Ausgangssperren „unverhältnismäßig“
Bundesverwaltungsgericht dennoch regierungskonform und grundrechtsnegierend
von Christian Paulwitz drucken
Am 22. November 2022 entschied das Bundesverwaltungsgericht, dass die Ausgangsbeschränkungen nach der Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung in der Fassung vom 31. März 2020 unverhältnismäßig sind. Das Urteil erging nach einer Revision des Freistaats Bayern gegen ein Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs. Als ich die Nachricht dazu im Radio hörte, habe ich gewohnheitsmäßig besonders auf die nächsten zwei Sätze geachtet, um das Gift im Anschluss zu der offenbar positiven Botschaft mitzubekommen. Ist ja klar, dass man so einen Satz nicht für sich alleine stehen lassen kann. Die Regierung befiehlt etwas zu Unrecht? Kann ja so gar nicht sein. Und es wurde auch gleich mitgeliefert. Geschickterweise hat man die Nachricht nämlich mit der Entscheidung zu den Einschränkungen, die in Sachsen getroffen wurden, kombiniert, sodass sich das Gericht als differenziert und unparteiisch inszenieren kann. Grundsätzlich hat es die Legitimität für Grundrechtseinschränkungen durch Regierungen zur Virusabwehr ungeachtet fragwürdiger Erfolgschancen bestätigt, nur das legitime Maß begrenzt das Gericht – und es kann daher jederzeit auch wieder verschoben werden. Die Maßnahmen in Sachsen hat es nämlich als verhältnismäßig eingestuft. Immerhin wurden dort Kontaktbeschränkungen (!) verhängt sowie Restaurants, Cafés und Sportstätten geschlossen. In Bayern gab man sich dagegen besonders totalitär und verbot auch das Verlassen des Hauses selbst zum bloßen Verweilen an der frischen Luft, um sich dann womöglich allein im Park auf eine Bank zu setzen. Das Gericht meinte, bloße Kontaktbeschränkungen seien ausreichend gewesen.
Was dann in der medialen Aufnahme des Urteils geschah, und zwar weniger im Mainstream, wo dies nicht überrascht, sondern vielmehr in den alternativen Kanälen wie auch in der parlamentarischen Opposition (inklusive der AfD), ist leider lehrbuchmäßig und bedarf daher einer Nachbetrachtung. Das Prozedere ist so angelegt, dass der Staat Freiheit und Recht Stück für Stück schleifen kann, denn alle stürzen sich begierig auf die Ohrfeige, die die eine Landesregierung für eine konkrete Verordnung erhält, klopfen dem zuständigen Gericht auf die Schulter und übersehen dabei, dass es mitnichten Recht gesprochen, sondern die Legitimität des Außerkraftsetzens elementarster Grundrechte durch Regierungserlass bestätigt hat. Es stand für das Gericht außer Frage, dass der Staat dies grundsätzlich dürfe, wie es der Pressemitteilung zu entnehmen ist – die ausführliche Begründung liegt offenbar noch nicht vor. In dieser Pressemitteilung hieß es: „Für die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne hätte in der Tatsacheninstanz plausibel dargelegt werden müssen, dass es über eine Kontaktbeschränkung hinaus einen erheblichen Beitrag zur Erreichung des Ziels leisten konnte, physische Kontakte zu reduzieren und dadurch die Ausbreitung von Covid-19 zu verhindern. Auch daran fehlte es hier.“
Ein Erlass zu Kontaktbeschränkungen ist also bereits eine Selbstverständlichkeit (beruhend auf dem Vorgehen in Sachsen). Was auch in einem Urteil, das immerhin zweieinhalb Jahre nach der unsäglichen bayerischen Verordnung erlassen wurde, überhaupt nicht infrage gestellt wurde, ist die Legitimität von Regierungsverordnungen zu Kontaktbeschränkungen – also des Verbots, dass sich Leute in beidseitigem Einvernehmen miteinander treffen.
Hallo? Ist da eigentlich jedem klar, was da als selbstverständlich vorausgesetzt wird? Dem Gericht reicht grundsätzlich der behauptete gute Wille einer Regierung, die Leute voreinander beschützen zu müssen, damit der Staat verbieten dürfe, sich zu treffen – wegen einer Virusinfektionswelle. Das widerspricht nicht nur eklatant der Idee einer wenigstens überwiegend freiheitlichen Grundordnung, es fehlt auch im Nachhinein jeder Beleg eines klaren Nutzens im Vergleich zu Ländern mit weniger autoritären Maßnahmen.
Das wird auch in der weiteren staatlichen Berichterstattung zur Aufnahme des Urteils deutlich. Das gehört ja auch zur Choreographie solcher Anlässe. Bayerns „Gesundheitsminister“ (nachdem die Kollateralschäden der Maßnahmen so langsam beginnen, sich bis in den Mainstream herumzusprechen, sollten niemanden die Anführungszeichen an dieser Stelle überraschen) wird mit der von ihm kundgetanen Überzeugung zitiert, „dass die Ausgangsbeschränkungen Ende März bis Anfang April 2020 zum Wohl und zur Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger Bayerns aus damaliger Sicht ein wirksames und richtiges Mittel waren“ – Tja, da braucht’s ja wohl nicht mehr Gründe. Irgendwann morgen gerne wieder –, allerdings respektiere die Regierung die Entscheidung (das ist die Floskel, wenn einer Regierung etwas am Allerwertesten vorbeigeht) und werde „die Urteilsgründe sorgfältig analysieren sowie die erforderlichen Konsequenzen daraus ziehen“. Das ist zu befürchten, und überdies wird die Regierung dabei feststellen, dass es nach zweieinhalb Jahren auch nicht mehr als einen erhobenen Zeigefinger gegeben hat und die Diskussion über die Rückerstattung von Bußgeldern bereits im Sande verlaufen ist. Auch dies ist einer der gut fundierten Skandale in diesem Land, dass Bescheide, selbst wenn sie im Nachhinein von den eigenen staatlichen Gerichten als unrechtmäßig festgestellt wurden, nicht rückgängig gemacht werden, sofern sie nicht durch Einspruch über die jahrelange Prozessdauer offen gehalten worden waren. Man könnte sich fragen, ob es in diesem Land ja irgendwie systemstärkend wirkt, wenn man Bürger für ihre Fügsamkeit auch noch verhöhnt, aber generell geht es in der Justiz ja wohl auch weniger um Recht als um korrekte Verwaltungsabwicklung.
Das Konstrukt, das uns als Gewaltenteilung verkauft wird, sieht einen Rahmen vor, an den die Regierung gebunden sein soll, worüber Gerichte zu wachen hätten. Das – so die Idee – solle sichern, dass die Regierung ihre Machtfülle nicht über das Maß hinaus gegen die Bürger gebrauche. Ein häufig angewendeter Trick, den Rahmen unter überwiegender Akzeptanz zu erweitern, findet sich im Verschweigen der entscheidenden Diskussion zu Sinn und Legitimität von Regierungshandeln zu einer bestimmten Angelegenheit. Diskutiert wird lediglich ein konkretes Ausmaß, wobei das größere Ausmaß gerichtlich im Nachhinein gerügt, ihm im Grundsatz aber nicht widersprochen wird. So können sich Kritiker aus den unterschiedlichsten Gründen einordnen und bei der Stange bleiben. Das funktioniert erstaunlich gut. Dankbar wird ein Strohhalm angenommen, mit dem man „recht behalten“ habe.
Das Prinzip wird in allen Skalierungen gespielt, nicht nur innerhalb eines Staates, sondern auch im globalen Kontext, indem man europäische Regierungen zum Beispiel mit China vergleicht: Jetzt habt euch nicht so, wenn euch die Regierung ein bisschen Hausarrest gibt und überwacht – in China machen sie das viel schlimmer! Also seid gefälligst dankbar!
Halten wir demgegenüber fest, dass die Akzeptanz einer Begründung für Grundrechtseinschränkung durch eine Regierung selbstverständlich dazu führen wird, dass die Regierung die Begründung finden wird, wenn sie Grundrechte einschränken will, und nicht dazu, dass Grundrechte im Allgemeinen geschützt werden. Zu Beginn der Corona-Erzählung konnte man, sei es als Bürger oder als Politiker, möglicherweise nicht die (im Allgemeinen gar nicht so große) Gefährlichkeit des Virus ohne Weiteres absehen, sehr wohl müsste aber für jeden auch nur ein wenig weiter nachdenkenden Menschen außer Frage gestanden haben, dass der Staat durch Zwangsmaßnahmen die Situation nicht verbessern kann, aber viel Schaden anrichten wird. Die Diskussion, wie es möglich war, dass der Staat die Frechheit besaß, den Leuten unter welchem Vorwand auch immer vorschreiben zu wollen, sich nicht einvernehmlich miteinander zu treffen, wäre ein wichtiger Anfang zur Aufarbeitung. Über die Justiz wird sie nicht initiiert, so viel steht fest.
Tagesschau: Ausgangssperre in Bayern war unzulässig
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