11. Dezember 2022 13:00

Diktaturen und freiheitliche Literatur Lingua imperii sinistri

Sprache dichtet und denkt nicht nur für mich, sondern lenkt auch mein Gefühl, steuert mein ganzes seelisches Wesen

von Reinhard Günzel

von Reinhard Günzel drucken

Freiheitliche Literatur gab es in der DDR, dem ersten sozialistischen Staat auf deutschem Boden, soweit ich mich erinnere, nicht zu kaufen. Möglicherweise antiquarisch, doch sie kam mir niemals in die Hände, ganz zu schweigen von libertären Zeitschriften, die gab es garantiert an keinem Ort zu kaufen, nirgends. Das ist leicht zu erklären, man muss dazu auch keinerlei böse Absichten dahinter vermuten. Die DDR folgte in ihrer staatlichen und gesellschaftlichen Entwicklung, geprägt von der unverbrüchlichen Einheit von Volk und Staat unter Führung der marxistisch-leninistischen Partei, nicht irgendwelchen chaotischen kapitalistischen Prinzipien der Selbstorganisation, nein, sie hatte von Anbeginn einen Plan, der auf wissenschaftlichen Grundlagen beruhte und nicht nur für die Wirtschaft galt, sondern auch für die gesamte Gesellschaft. Alles folgte einer Ordnung, die mit einem Höchstmaß an sozialer Gerechtigkeit die Gestaltung sämtlicher Lebensumstände vorgab. Diese Ordnung war, Sie werden es bereits erraten haben, der Wissenschaftliche Sozialismus, der auf den bahnbrechenden Ideen von Marx, Engels und Lenin fußte und dessen historischer Sieg deswegen unvermeidlich war, weil er wahr ist – klar, was sonst. Festgelegt wurden die Etappenziele auf dem Weg ins sozialistische Paradies auf den jeweiligen Parteitagen der SED unter Führung der Arbeiterklasse und Anteilnahme des gesamten Volkes, also ganz im Sinne Rousseaus – alles für das Volk, alles durch das Volk, alles mit dem Volk, denn anders als heutzutage gab es keinerlei Spaltung der Gesellschaft, alle Bürger folgten begeistert den von der SED gesteckten Zielen, setzten sich für ihre rasche Umsetzung und Erreichung ein.

Nun, Wissenschaftlicher Sozialismus, da denkt man doch gleich an „follow the science“, und zunächst drängt sich da erst mal die Erkenntnis auf, dass der deutschen Linken in den letzten Jahren und Jahrzehnten zunehmend die Fähigkeit abhandenkam, eigene politische Konzepte zu entwickeln. Man greift viel lieber auf amerikanische Vorbilder zurück, denn da hofft man, nichts falsch zu machen, auch wenn man da nur alte, längst als absurd erkannte Denkmuster kopiert, die günstigstenfalls in intellektuelle Sackgassen führen. Weitergedacht, bleibt festzustellen, dass es die Wissenschaft im hier gebrauchten Wortsinne so nicht gibt. Wissenschaft ist lediglich ein Prozess des Erkenntnisgewinns, bestehend aus These und Antithese und unter ständiger Überprüfung der generierten Schlussfolgerungen an der Realität. Wissenschaft als Beleg für die aus den Verwirrungen und Irrungen des menschlichen Verstandes ausfließenden Konstrukte des Wahns zu nehmen, ist niemals Wissenschaft, bestenfalls Scholastik, wobei damit nichts gegen kirchliche Theologen und Philosophen des Mittelalters gesagt werden soll, aber Giordano Bruno bleibt die immerwährende Warnung.

Jedenfalls dürfte jetzt klar sein – glasklar genau genommen –, warum freiheitliche Literatur nicht aufzutreiben war, denn so viel gilt als sicher: Mit der Wissenschaft im Rücken lohnt es einfach nicht, andere Konzepte der Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft überhaupt noch zu diskutieren. Das bringt nun wirklich nichts, ist wenig hilfreich, arbeitet nur den Falschen zu, hält unsere Menschen davon ab, ihre ganze Kraft dem umfassenden Aufbau des Sozialismus zu widmen, was nur zu einer Verspätung beim Erreichen der anspruchsvollen Ziele auf dem einzig richtigen Weg in den Sozialismus führt. Und das kann niemals im Interesse der Partei- und Staatsführung und engagierter Bürger liegen, ja, wer die Ziele und Handlungen der Partei- und Staatsführung hinterfragt, handelt nicht nur gegen die Interessen des Volkes, sondern auch gegen die eigenen. Die erste und einfachste, doch bei Weitem noch nicht letzte Maßnahme, diese schädliche Entwicklung zu unterbinden, war, den Verkauf solch subversiver Literatur zu verhindern, und so ist es wohl auch gekommen.

Breiten Raum nahm so, ganz in der Logik des Systems, die Verbreitung, besser gesagt Propagierung der einzig wahren Lehre ein, sei es in den Tageszeitungen, Journalen und Periodika – es ging immer nur um das eine, rauf und runter. Das ist eben einer der Vorzüge des Sozialismus beim Kampf gegen die Irrlehren der politischen Gegner. Ist der Sozialismus einmal an der Macht, gibt es keine weiteren Diskussionen, sondern einen festen Klassenstandpunkt, und die Dinge klären sich wie von Geisterhand geordnet von selbst. Keine Diskussionen um Europa, Euro, Klimawandel, Einwanderung, Corona oder Russland – bleibt doch am Ende nur die alles entscheidende Frage: Nützt uns das im Kampf gegen den Klassenfeind oder schadet es? So einfach kann eben Politik sein.

Welch herrlicher Duktus, sozialistische Redekunst in ihrer letzten, vollendeten Form, als Erich Honecker in seiner Rede auf dem VIII. Parteitag der SED den über 2.000 Delegierten – ja, das ist gelebter demokratischer Zentralismus, die höchste und einzig mögliche Form der Demokratie im Sozialismus überhaupt – zurief: „Genossinnen und Genossen! Verehrte Gäste! Die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands kommt mit guten Ergebnissen beim Aufbau des Sozialismus in der Deutschen Demokratischen Republik zu ihrem VIII. Parteitag. Jeder Genosse unserer Partei, jeder Bürger unseres Staates vermag aus eigener Erfahrung zu beurteilen, dass der von der marxistisch-leninistischen Partei der Arbeiterklasse vorgezeichnete Weg richtig und erfolgreich ist.“ Und eben hier lag der Hase im Pfeffer, in der eigenen Erfahrung jeden Bürgers mit dem sozialistischen Deutschland, genau da lag das Problem.

Welch ein Gelaber, welch eine Beleidigung für freie, selbständige Seelen! Da sich die Funktionärssprache immer weiter vom Volke entfernte, die wichtigsten Informationen nicht im Text zu finden waren, sondern sich zwischen den Zeilen verbargen – was soll der Bürger tun, gefangen zwischen Realität und Staatsfiktion? Es gibt nur zwei Möglichkeiten: Stockholm-Syndrom oder Rückzug ins Private, abkapseln, nicht alles und nicht jeden an sich heranlassen.

Sprache ist ja nichts Gemachtes, sie ist geworden, hat sich über Ewigkeiten fortentwickelt, immer unter der Prämisse, ein effektives Kommunikationsmittel zu sein. Die Entwicklung verlief nicht immer geradlinig, manchmal in Brüchen und nicht zu vergessen die herrschenden Schichten, die sich entweder assimilieren oder der Mehrheit ihre Sprache aufdrücken. Das Funktionärsdeutsch der DDR, jenes unsäglich öde Kaderwelsch mit ganzen Textpassagen, die sich wie Übersetzungen aus dem Russischen lasen, dieses bis vor 30 Jahren alles durchdringende Gedöns ist inzwischen weitgehend verschwunden.

Aber wenn die DDR ihre eigene Sprache hatte, musste es auch im Dritten Reich so gewesen sein. Und zu diesem Prozess der Sprachverwilderung gab es einen Chronisten, Victor Klemperer und sein Büchlein „LTI, Lingua Tertii Imperii“, also die Sprache des Dritten Reiches. Klemperer, Philologe in Dresden, war verheiratet mit, wie könnte es anders sein, einer Philologin. Schon bald, nachdem die Nationalsozialisten an die Macht gelangt waren, wurde Klemperer wegen seiner jüdischen Herkunft von der Universität gekündigt, doch das war nur der Beginn einer langen Reihe von Erniedrigungen und Beleidigungen, die er nur deshalb überstand, weil seine Frau in all den braunen Jahren alles, aber wirklich alles unternahm, um ihn vor der Deportation zu bewahren. Doch im Februar 45 stand der Deportationstermin nach Theresienstadt fest. In dieser ausweglosen Situation rettete ihn die Bombardierung Dresdens, denn er schaffte es, als Ausgebombter unterzutauchen, und überlebte so den Staatsterror.

Klemperer muss eine bemerkenswerte innere Widerstandskraft gehabt haben – kaum vorstellbar, wie ein Mensch all das überleben konnte. Geholfen hat ihm sicherlich auch, dass er trotz Berufsverbots gar nicht aufhörte, als Philologe zu arbeiten. Er führte in jenen Jahren eine Art Tagebuch auf Notizzetteln, immer gut vor Durchsuchungen versteckt, und eben jenes Tagebuch, die LTI, wurde nach dem Kriege veröffentlicht. Es fand in gebildeten Kreisen rasche Verbreitung, insbesondere unter Studenten, denn es zeigte auf, wie die Sprache den Zielen des Regimes dienstbar gemacht wurde, wie die Verrohung der Sprache mit der Verrohung des Regimes korrelierte und auch beider Niedergang sich alsbald beschleunigte. Zwar unterschieden sich beide deutsche Diktaturen in erheblichem Ausmaß voneinander, doch in Bezug auf die Parallelen, die Auswirkung des politischen Systems auf die Sprache, waren sie nun wieder gleich, woraus sich die Anziehungskraft der LTI speiste.

Wer, das Funktionärsdeutsch im Ohr, bei Klemperer las: „Sprache dichtet und denkt nicht nur für mich, lenkt auch mein Gefühl, sie steuert mein ganzes seelisches Wesen, je selbstverständlicher, je unbewusster ich mich ihr überlasse. Und wenn nun die gebildete Sprache aus giftigen Elementen gebildet oder zur Trägerin von Giftstoffen gemacht worden ist? Worte können sein wie winzige Arsendosen, sie werden unbemerkt verschluckt, sie scheinen keine Wirkung zu tun und nach einiger Zeit ist die Giftwirkung doch da. Unter alledem durchtränkt sie [die LTI] Wörter und Wortgruppen und Satzformen mit ihrem Gift, macht sie die Sprache ihrem fürchterlichen System dienstbar, gewinnt sie an der Sprache ihr stärkstes und öffentlichstes und geheimstes Werbemittel.“ Ja, denn derjenige, der das las, der fing eben an zu denken. Die DDR verlegte die LTI, weil sie diese als Kontrastprogramm zum Dritten Reich verstand und die Gefahr, die in der Veröffentlichung lag, nicht sah. Doch die Rechnung ging nicht auf. Etliche sahen eben kein Kontrastprogramm, im Gegenteil, sie entdeckten die Parallelen. Und es waren natürlich diejenigen, auf die es am Ende ankommt.

So viel zur LTI, dem einzigen libertären Buch, das ich in der DDR erwerben konnte und das mir half, Sprache und ihre Veränderungen zu durchdenken.

Aber Sprache und ihre Veränderungen dauern fort, und neue Machtstrukturen bilden sich heraus. Die neuen Mächte sind diesmal nicht durch einen Gewaltstreich in die entscheidenden Positionen gelangt, sondern allmählich. Mit bewundernswerter Ausdauer haben sie begonnen, die entscheidenden Positionen zu besetzen und dem Land, obzwar selbst eine Minderheit, ihren Willen aufzuzwingen. Bevor Sie jetzt einfach weiterlesen, muss ich noch eine persönliche Erklärung einschieben: Ich bin kein Verschwörungstheoretiker, nicht die Bohne. Fragen Sie meine Frau, die wird Ihnen das gern bestätigen. Ich bin schon eher der klare, nüchterne Faktenmensch, und solange Dummheit als Erklärung für gewisse Verhaltensweisen genügt, gebe ich mich damit zufrieden, aber hier, dieses Mal bin ich mir völlig sicher, habe ich keinerlei Zweifel: Die haben die LTI gelesen und sich dann ans Werk gemacht. Kaum vorstellbar, mit welcher Wucht die Sprache bereits demoliert wurde, das muss von langer Hand vorbereitet worden sein: wie widerstandslos die Institutionen einknickten und wie, ganz den historischen Vorbildern entsprechend, die ganze Bewegung zuerst in den Universitäten startete und dann Amtsstuben in ihren öffentlichen Verlautbarungen mit ewigen Doppelungen und öden Partizipkonstruktionen die Kapitulation vor den neuen Machthabern vollzogen. Gut, Bücherverbrennungen fanden diesmal keine statt, man wäre vielleicht erkannt worden, und es ist ja am Ende auch denkbar einfach, ein Buch aus der Bibliothek zu entfernen – einfach auf den Index und runter von der Verleihliste, wozu da noch verbrennen? Und überhaupt, den Büchern sollte man nicht zu viel Bedeutung beimessen. Viel wichtiger ist es, das Personal durch Unterwerfungsrituale bis zur Selbstaufgabe zu demütigen – das hat schon Stalin vorgemacht und ist ein sehr probates Mittel. Dazu noch Unsicherheit verbreiten, wozu ein Heer von Anschwärzern dient, an denen im Totalitarismus niemals Mangel herrscht, die gibt es gratis, denn keiner soll sich in Sicherheit wiegen können. Es kann jeden treffen, wenn nachts der черный ворон, der schwarze Rabe, durch die Straßen rumpelt und es an deiner Tür klingelt. Aus, über Nacht das Ende der bürgerlichen Existenz.

Ganz wichtig war auch, dass im Verhältnis Herrscher und Beherrschten die alte sprachliche Ordnung wiederhergestellt wurde, die Ordnung der Siegersprache, zu deren An- und Übernahme die Besiegten gezwungen werden.

Ja, liebe Zuwendungsempfänger, dann versuchen Sie doch mal ihr Glück: „Zuwendungsempfänger*innen: Antragsberechtigt sind Eigentümer*innen oder Besitzer*innen von Kulturdenkmalen in der Landeshauptstadt Dresden. Besitzhabende Personen sind …“

Es ist eben an der Zeit, die LTI weiterzuführen – Arbeitstitel „Lingua Sinistri Imperii“. Gibt es hier irgendwo einen Philologen, der das ausführen möchte? Sie dürfen den Titel nutzen. Es winkt Ihnen ewiger Ruhm und Zitierung, der Spuk hier muss zuvor lediglich aufhören. Bis dahin sollten Sie alles gut verbergen, erzählen Sie niemandem etwas von Ihrem Vorhaben, sicherheitshalber auch mir nicht.

Zum Ende noch etwas, was ich schon immer mal wissen wollte, mich aber nie zu fragen traute, Sie wissen, mein Englisch: Woke, das ist doch haarscharf bei Deutschland erwache, oder?

Ach, noch was, hätte ich beinah vergessen, ist mir aber wirklich sehr wichtig: Bitte unterschreiben Sie hier meine Petition „Ehemalige DDR-Bürger von Emissionszertifikaten freistellen“. Wir haben schon einmal einen Sozialismus finanziert. Es ist einfach ungerecht, uns nochmals zu enteignen. Jetzt sind mal die anderen dran, so viel Solidarität muss sein. Danke für Ihr Verständnis.


Sie schätzen diesen Artikel? Die Freiheitsfunken sollen auch in Zukunft frei zugänglich erscheinen und immer heller und breiter sprühen. Die Sichtbarkeit ohne Bezahlschranken ist uns wichtig. Deshalb sind wir auf Ihre Hilfe angewiesen. Freiheit gibt es nicht geschenkt. Bitte unterstützen Sie unsere Arbeit.

PayPal Überweisung Bitcoin und Monero


Kennen Sie schon unseren Newsletter? Hier geht es zur Anmeldung.

Artikel bewerten

Artikel teilen

Kommentare

Die Kommentarfunktion (lesen und schreiben) steht exklusiv nur registrierten Benutzern zur Verfügung.

Wenn Sie bereits ein Benutzerkonto haben, melden Sie sich bitte an. Wenn Sie noch kein Benutzerkonto haben, können Sie sich mit dem Registrierungsformular ein kostenloses Konto erstellen.