15. Dezember 2022 07:00

Epochenwende Am Abend der Zeit

Ein neuer Morgen ist nicht mehr fern

von Monika Hausammann (Pausiert)

von Monika Hausammann (Pausiert) drucken

Leserzuschriften, so unendlich verschieden ihre Inhalte und ihre Anliegen sind, ergeben in Summe dennoch oft eine Art „allgemeinen Stimmungsteppich“. Ihre Verfasser sind nicht solche, die sich Historiker schimpfen – meist sind es aber Leute, die ihre und nicht nur ihre Geschichte kennen und diese Bürde tragen. Sie leben darin und leiden darin. Das erklärt in meinen Augen das gleichzeitige Vorhandensein großer Nüchternheit und ebenso großer Leidenschaft in Bezug auf das Zeitgeschehen.

Dieser Stimmungsteppich hat sich in den vergangenen Monaten verändert. Er hat sich vom Konkreten, Greifbaren, vom quasi generalstäblerischen Erörtern von Gegenwart und Zukunft dem Noch-nicht-Greifbaren, dem Nur-Geahnten zugewandt, das für den wachen Beobachter wie ein finsteres Wetterleuchten am Horizont zu sehen ist. Nie ausgesprochen und dennoch in der Luft und in jedem Atemzug die Frage, für welche die alte Bäuerin von nebenan Worte findet: „Mais où on va?“ – Aber wohin gehen wir? Worauf gehen wir als Gesellschaften und als Länder zu? Was ist es, das seinen schwarzen Schatten so weit vorauswirft, wie große Ereignisse es an sich haben, und von dem wir wissen, dass es nichts mit den Ereignissen zu tun hat, die man uns heute als groß verkaufen will? Und wohin gehen wir mit all unseren Zweifeln, den Skrupeln, dem Leiden an der Wirklichkeit der Dinge, von der die Mehrheit nichts hören will? Bei vielen macht sich ein Gefühl geistiger Kastration breit in Anbetracht der Tatsache, dass– einmal mehr – religiöse Irrationalitäten ohne Not in den Dienst verbrecherischer Rationalitäten, zu denen die Politik zu zählen ist, gestellt werden und dass jene, die es zu verantworten haben, damit durchkommen. Die Alten unter den Verfassern sind – wie die Bäuerin – deutlicher: Sie geben ihrem Glauben Ausdruck, dass nicht weniger als ein Zeitalter sich dem Ende zuneige. Dass sie die Jungen nicht beneideten, sondern im Gegenteil, froh seien, dass auch ihre Zeit zu Ende gehe.

Ich teile diese Stimmungslage, die zugleich weniger und viel mehr ist als Gefühl. Weil es bei den meisten Themen, die uns umtreiben, nichts mehr zu „rechnen“ gibt, sondern nur noch zu hoffen, zu beten, zu glauben. Gibt es in Bezug auf das Euro-System noch viel zu rechnen? Die Staaten sind so gut wie pleite, aber das interessiert nicht, weil die EZB „einspringt“. Sie kann so viel Geld „drucken“ wie sie will, schließlich schuldet sie das Geld ja nur sicher selber. Und für die nächste Krise, die absehbar ist, sieht man zu, dass man mit einer digitalen Zentralbankwährung  „Entlasung“ bieten kann. Gibt es da noch groß zu debattieren, wohin die Reise in puncto Kaufkraft des Euro geht und was das für den Investitionsstandort Europa und den Wohlstand und die Freiheit der Menschen bedeutet? Gibt es in Bezug auf Zuwanderung und deren Auswirkungen auf die Aufnahmeländer in wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Hinsicht noch viel zu rechnen? Oder in puncto Konsequenzen der Klimapolitik und der Energiewende für Wirtschaft, Wohlstand, Flora und Fauna? Meiner Meinung nach nicht. Soll und Haben sind längst für jeden, der will, lesbar: Die Sache ist gegessen. Nicht deshalb, weil der Irrsinn der Maßnahmen und die Entwicklungen irreversibel wären, sondern weil der politische Wille eine Umkehr ausschließt und weil die Mehrheit der Leute den politischen Erzählungen allen logischen Widersprüchlichkeiten zum Trotz Glauben schenkt oder sich immer noch eine luxuriöse Gleichgültigkeit leistet.

Es ist faszinierend und todernst, was vor sich geht: Die Welt und die „Gesellschaften“ erscheinen mir immer mehr wie eine riesige, unendlich lange Viehschleuse, in der Millionen von Menschen zwischen den Leitplanken sogenannter offizieller Informationen mal in Empörung, mal in einen Solidaritäts- und Sentimentalitäts-Rausch versetzt, aber immer alarmiert, immer angstbereit und latent hysterisch halb vorwärts gepeitscht werden und halb selber vorwärtsdrängen – worauf zu, das weiß keiner. Wer stehen bleibt, innehält, Fragen stellt, dem wird im Pressen und Schieben und Schubsen aus Tausenden von Kehlen ein „Nazi!!“ oder ein „Verschwörungstheorie!!“ zuteil, bevor er niedergetrampelt wird im fiebrigen Vorwärts der Wut von Angst und Dummheit, das die Hemmungslosigkeit zum Prinzip erhebt und das längst ein Rutschen ist und ein Gleiten. Und das jederzeit in ein Stürzen übergehen kann, wo die sich gegenseitig befeuernden „Wahne“ überhandnehmen. Wie schon Dutzende Male in der Geschichte. Einmal mehr: Es ist das Alte ein weiteres Mal neu.

Ja – ich glaube, wir stehend wirklich am Abend der Zeit, wie der Titel eines Romans von Edzard Schaper lautet. Am Abend unserer Zeit. Die Ratschläge von Bekannten aus dem PR-Bereich, die ich seit Jahren höre – von wem man sich besser distanzieren sollte, wenn man nicht sein Image zerstören und den Ruf unwiderruflich schädigen wolle, was man sagen dürfe und was nicht („Nenn es nicht Lüge/kriminell/Verbrechen. Macht dich nur zum Radikalinski.“), welche Zeiten man thematisieren dürfe und welche nicht („Vor 1950 existiert nicht für dich. Tabu!“) –, die gut gemeint, aber in meinen Augen immer falsch waren, erscheinen heute nur noch lächerlich. Ich habe sie nie befolgt. Denn auch das gehört zum Wissen über die Geschichte dazu: Solche Rette-deinen-Arsch-Manöver zahlen sich kurzfristig vielleicht aus – à la longue nie. Weder in beruflicher Hinsicht und erst recht nicht persönlich. Die Ducker und Lavierer, die Vorsichtigen, Laschen und Lauen, jene, die sich contre coeur bekehren lassen, die Verräter an der eigenen Überzeugung, die Feigen die Sowohl-als-Auchs und die Weder-Nochs haben am Ende solcher Massenräusche keinen Vorteil. Sie kommen genauso unter die Räder wie jene, die sich dem Wahn, der ganze Völkerstämme befällt, entgegenstellen. Oft sogar als Erste.

Die Frage, die bleibt und die mir als einzige im Grunde noch wichtig erscheint, während sich eine Ferne von den allermeisten Dingen einstellt, ist diese: Was kann man tun? Was kann ich tun? Als was für ein Mensch will ich in das Kommende hinein? Und was für einer will ich, sollte es mal vorüber sein, gewesen sein? Um bei dem Bild der Viehschleuse zu bleiben: Es ist meiner Meinung nach heute dumm, sich als Einzelner einsam und mutig diesem millionenfachen, irrationalen Ansturm des „Richtigen und Guten“ entgegenzustellen in Anbetracht der Tatsache, dass jede behördliche Aufforderung zum Durchdrehen und jedes mediale Nudging das, was man als die Großschadenslage einer Massenpanik bezeichnen kann, nur verstärken. Es ist ein durch und durch unnützes Märtyrertum, sich von der Wiederholung der Geschichte einfach überfahren zu lassen. In dieser Hinsicht war und ist Corona für mich ein Segen: Ich habe sowohl über Menschen als auch über das Phänomen der Masse mehr gelernt als in allen Büchern zuvor. Und ich bin froh darüber, denn es hat sich gezeigt: Am meisten bewirke ich, wenn ich mich im fragwürdigen Grenzbezirk dieser Zeit außerhalb der Schleuse positioniere. Nicht etwa aus Angst oder Desinteresse, sondern um geistig gesund und unabhängig zu werden oder zu bleiben, wo man den Menschen nur die Wahl zwischen logischer Inkonsequenz, Feigheit und der Verleugnung gewisser Aspekte der Wirklichkeit lässt. Wo alles darauf abzielt, einen geistig und seelisch so weit zu erschöpfen, bis er nur noch Haut und Knochen und an Widerstandskraft nicht mehr zu denken ist. Denn wenn die vergangenen zwei Jahrzehnte etwas deutlich gemacht haben, dann dies, dass „die Bank immer gewinnt“. Dass die Politik und ihre Günstlinge – wenn der politische Wille stark genug ist, wenn die Mehrheit der Leute unerschüttert an ihrer Staats- und Politgläubigkeit festhält und wenn der hochpräzise Dauerbeschuss mit sprachlicher und anderer Symbolik weiterhin wie ein blindmachender Ascheregen für Ablenkung, Scheinidentifikation und Scheinwerte sorgt – mit allem durchkommen. Einfach mit allem. Die schon groteske Komik der Aktualität (verhinderter Staatsstreich durch Reichsbürger) bestätigt es in eindrücklicher Weise. Und es lässt ahnen, was da noch alles kommen kann. Das Mögliche ist in der Tat ungeheuer (Friedrich Dürrenmatt).

Dort, im Außerhalb der Schleuse nun stehe ich als Sieger und Besiegter zugleich, als Freier und auch als Gehorchender. Besiegt bin ich von der Zeit und vom Zeitgeist. Auch als der Einzelgänger, der ich bin, ist man ein soziales Wesen. Teil einer Gemeinschaft. Es war für mich neu und eine seltsame Form des „Scheiterns außerhalb meiner Selbst“, als diese Gemeinschaft mich aus Gesinnungsgründen immer mehr an den Rand drängte, um mich schließlich während der sogenannten Pandemie ganz auszuspucken. Sieger bin ich, weil ich dieses Scheitern und Besiegtwerden als Befreiung und Erfolg betrachte und der Schwärze duckmäuserischer Unentschlossenheit tausendfach vorziehe. Weil ich nicht der modernen Mär anheimfalle, alles, was sich seit Jahren lockere, sei eine neue Form der Freiheit, die Abschaffung von Gültigkeiten von Jahrhunderten sei Fortschritt, das unsichtbare Band gemeinsamer Geschichte, Werte und Traditionen, das Gesellschaften zusammenhält und das dem Zerschliss und der Brüchigkeit preisgegeben wird, sei eine Entwicklung zu Höherem, Schönerem und Heilerem. Frei bin ich, weil ich sowohl meine Position im Außerhalb als auch meine Grenzen selber bestimme und setze und weil ich frei entscheiden kann, die Konsequenzen, die das mit sich bringt, nach bestem Wissen und Gewissen und würdevoll zu meistern. Und Gehorchender bin ich als Christ, weil ich mich am Dennoch des Glaubens festhalte: Dass ich dennoch „der Stadt“ und meines Nächsten Bestes zu suchen aufgefordert bin. Dass ich wohl außerhalb stehen darf, nicht aber mich abwenden soll. Dass ich vielmehr dort in der Freiheit des eigenen Weges die Kraft, den Frieden, die geistige und psychische Gegenwärtigkeit und Freude sammeln kann, die nötig sind, sollte einer in der Schleuse und im Strom an den Rand drängen und rauswollen aus dem irren Vorwärts: um eine geistige, menschliche und materielle Leiter bieten zu können. Kurz: warten, bereit sein, tief durchatmen und in der Zwischenzeit jenen Rausch genießen, der viel stärker ist als politisch geschürte Rachegelüste (denn mehr ist es nie, was am Ende jeder Empörungsstory bleibt): den Rausch der Freiheit.

Das mag als wenig erscheinen. Aber auf all dem kumulierten Wenigen, das die Außerhalb-Stehenden, die Freunde der Freiheit allein oder in Gemeinschaften tun, lassen und bewahren, bricht der Morgen einer neuen Zeit an. Das ist immer so. Dann, wenn es nicht mehr dem Abgrund oder der Wand, sondern wieder mehr dem Leben und der Menschlichkeit entgegengeht. Ganz ohne Worte wie „sozial“ und „solidarisch“ oder „gerecht“, ganz ohne Kampfbegriffe und Symbole – die sollte man dann mal für 100 Jahre irgendwo einschließen –, sondern freiheitlich, persönlich verantwortlich und damit zutiefst menschlich.

Wir sehen uns draußen. Mit oder ohne Zigarillo.


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