Juristisch die Haltung wahren: Rechtsbefolgungsgehorsam
„Fünf gerade sein lassen“ ist keine Lösung
von Carlos A. Gebauer (Pausiert)
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Rechtsbefolgungsgehorsam. Ich mag das Wort nicht. Es klingt im schlechtesten Sinne deutsch. Viel zu viele Konsonanten. Viel zu wenig Vokale. Viel zu lang. Vor allem aber: viel zu preußisch. Ein Buchstabenungeheuer, das nach Unterwerfung klingt. Nach Untertanengeist und hirnlosem Marschieren im Gleichschritt.
Und dennoch: Auch wenn die Bezeichnung des Gedankens noch so sperrig daherkommt, so ist sein Inhalt wert, sich ihm mit Ernst zu nähern. Wir werden aufgefordert, die Ohren zu spitzen, um zu hören. Das, was wir dann hören können (und sollen), ist die Botschaft des Rechts. Die Kunde also davon, was richtig ist. Und wenn wir zugehört haben, was diese Richtschnur ist, dann wird uns nahegelegt, ihr zu folgen. Statt vom Weg abzukommen, lassen wir uns also von geregelten Bahnen leiten. Im besten Falle bleiben wir damit auf der Straße, statt im Graben zu landen. Hinter dem Rechtsbefolgungsgehorsam steht daher im Kern der schlichte Rat, sich selbst zu motivieren, das Richtige zu tun.
Was – bis hierher – einfach klingt, ist es natürlich im wahren Leben mitnichten. Denn das, was richtig ist, und das, was falsch ist, lässt sich oftmals nicht ohne Weiteres ermitteln. Das Recht zu erkennen ist, im Gegenteil, häufig eine sehr schwierige Aufgabe. Gerichte tragen im Zweifel die Last, eben diese „Rechtserkenntnis“ zu leisten. Jedes Urteil eines deutschen Gerichtes beginnt mit dem Satz, dass es vorliegend „für Recht erkannt“ habe, jenes sei nun zu tun oder zu lassen oder zu dulden.
Genau hier ist der für alle Nichtjuristen so schwierige Unterschied zwischen Recht und Gesetz zu erörtern: Recht ist, was eine Gemeinschaft von Menschen in einem immerwährenden, wechselseitigen, kommunikativen Findungsverfahren für sich als die jeweils richtig handlungsleitende Norm beschreibt, deren Verletzung im allgemeinen Konsens nachteilige Folgen für den Rechtsbrecher haben darf. Die verbindliche Formulierung einer konkreten Rechtsnorm ist angesichts dieses hochkomplexen und diffusen Regelgestaltungsprozesses, an dem unbestimmt viele Menschen allerorts interagierend beteiligt sind, ein äußerst herausfordernder geistiger Akt. Man denke – um eine außerrechtliche Parallele zu beschreiben – an die hochfeinen Differenzierungen, die ein angemessenes Verhalten bei Tisch von einem unangemessenen unterscheiden. Nicht nur grobes Fehlverhalten wie das Austrinken eines Suppentellers kann allgemeines Unverständnis provozieren, sondern schon eine nur winzige nuancierte Abweichung beim Gebrauch des Geschirrs. Nach einem gemeinsamen Abendessen wissen die Beteiligten durch Beobachtung des ausgeübten Verhaltens ihrer Tischnachbarn, wer zu ihnen gehört und wer nicht.
Anders als an einem überschaubaren Tisch befinden sich alle Beteiligten einer Rechtsgemeinschaft indes nie zum gleichen Zeitpunkt am gleichen Ort. Das macht das Regelfinden in dieser Großgemeinschaft weitaus schwieriger. Und genau dies war rechtshistorisch der Augenblick, als man begann, sich zu Abkürzungs- und Vereinfachungszwecken, um der besseren Klarheit willen, auf einen Gesetzgeber zu verlassen. Es wurde verabredet, dass das Recht in der Gestalt von verbindlich niedergeschriebenen Befehlen, also in Form bewusst formulierter Setzungen, daherkommen solle. Rechtskundige schrieben nun in der Folge also Satzungen aller Art. Und aus der Vielzahl von einzelnen aphoristischen Satzungen wurden irgendwann kodifizierte Gesetze. Dabei erstarkten auch jene, die diese Gesetze erließen, mehr und mehr zu denen, die die Macht besaßen. Was danach blieb, war der winzige Spalt für öffentliche Diskussionen, ob das machtvolle Gesetz tatsächlich genau diejenige Regel aussprach (und ausspricht), die auch mit dem allgemeinen Rechtsempfinden übereinstimmt. Weicht das allgemeine Rechtsgefühl von dem Gesetzesinhalt ab, entstehen Debatten über die Notwendigkeit, ein unrichtiges Gesetz zu beseitigen oder es wenigstens zu ändern. Ich vergleiche daher das Verhältnis zwischen Recht und Gesetz gerne mit dem Verhältnis zwischen der Zeit und einer Uhr: Im besten Falle zeigt die Uhr die Zeit richtig an. Weicht die Anzeige auf der Uhr von der wahren Zeit ab, muss die Uhr neu gestellt werden. Wer dagegen nur auf das Ziffernblatt schaut und die Sonne aus dem Blick verliert, der bringt sich und andere schon bald aus dem allseits klug in die reale Welt eingepassten zeitlichen Kontext.
All diese scheinbar nur theoretischen Erwägungen haben einen außerordentlich fassbaren Bezug zu unserem alltäglichen Leben. Denn Krisenzeiten wie die, in der wir uns derzeit befinden, werfen typischerweise die Frage auf, ob die gegebene Realität der Welt mit den geschriebenen Gesetzen noch verlässlich beschrieben ist. Es können sich einerseits die tatsächlichen Verhältnisse geändert haben, sodass die herkömmliche Beschreibung der Welt in den gesetzlichen Tatbeständen nicht mehr akkurat ist. Es können anderseits aber auch Gesetzgeber tätig geworden sein und Regeln erlassen haben, die zwar ihren subjektiven Wunschvorstellungen entsprechen, die aber mit der Realität aller nicht mehr in Einklang zu bringen sind. In diesen Fällen kommt es dann zwangsläufig zu Reibungen zwischen der objektiven Welt und den subjektiven Wunschvorstellungen aller an der Rechtsordnung Beteiligten. Gesetze verlangen dann Handlungen, die vielen irreal erscheinen. Im Bild von Uhr und Zeit könnte man sagen: Das normative Verhältnis zwischen Zeit und Zeitanzeige verschiebt sich. Der Missmut Unwilliger kollidiert dann bald mit den Regelungs- und Änderungsvisionen anderer. Beharrungskräfte treten in den Widerstreit mit Revolutionärem. Der öffentliche Diskurs über das angemessene Recht eskaliert.
An diesem Punkt erscheint sinnvoll, für die weitere Erläuterung einen Seiltänzer in den Blick zu nehmen: Solange er sich mit seinem Körper in harmonischer Balance auf dem Seil weiß, stimmen seine Bewegungsvorstellungen mit dem real Machbaren überein. Kommt er aber ernstlich aus dem Gleichgewicht, beginnt er damit, genau dieses Gleichgewicht mit den eckigsten und absurdesten Bewegungen wieder zurückerobern zu wollen. Er führt also Handlungen aus, die er unter normalen Umständen nie auch nur im Entferntesten in Erwägung gezogen hätte. Und weil er diese Aktionen schon bald endgültig nicht mehr mit dem unerbittlich schmalen Grat auf dem Seil in Einklang bringen kann, stürzt er schließlich ab.
In die Lage eines solchen Seiltänzers kommen üblicherweise jene Gesetzgeber, die den sachlichen Bezug zu den Realitäten, die sie regeln möchten, verlieren. Die Normen, die sie dann erlassen, vervielfältigen sich im immer hektischeren Versuch, die wachsenden Komplexitäten zu bändigen, sie werden gleichsam eckig und widersprüchlich. Ein einstmals sorgfältig und gleichmäßig gewobenes Regelnetz verheddert und verknotet sich in interferierenden Befehlen. Die Spannungs- und Zugverhältnisse im Geflecht verwirren sich und werden dadurch unkalkulierbar. Im Versuch, das eigene Straucheln im nun bald tosenden Meer der Unübersichtlichkeiten aufzufangen, schreibt der Gesetzgeber schließlich die unsinnigsten Normen nieder und ordnet absurdeste Handlungen an. Je näher er dem völligen Kontrollverlust kommt, desto wütender betrachtet er dabei jene, die ihm die Frage stellen, ob das, was er befiehlt, mit dem, was die Mehrheit für Recht erachtet, noch übereinstimme.
In genau jenem Augenblick, in dem die vertrauten Gesetzesregeln unübersehbar nicht mehr taugen, die Wirklichkeit zu regeln, erschallt dann der Ruf mit dem Wort „Ausnahmezustand!“. Juristen sprechen nun von Sonderlagen und argumentieren plötzlich inflationär mit Analogien, teleologischen Reduktionen, Normsuspendierungen, Interimsanordnungen, Tatbestandsausweitungen und Rechtsfolgebeschränkungen. Die Sphären des Gesetzesrechts und der Rechtspolitik verschwimmen gegeneinander in Unkenntlichkeit. Und irgendwann ist in dem ganzen Gewirr genau der Faden verloren, der doch ursprünglich allen als gemeinsames handlungsleitendes Band hatte dienen sollen.
Prägend für solche Lagen ist, dass selbst die festen Kategorien des Handelns in Raum und Zeit auf einmal für gegenstandslos erklärt werden. Wo höchste Richter die Gegenwart argumentativ gegen die Zukunft ausspielen, um das vertraute Ordnungsprinzip der Vergangenheit irgendwie über die Zeit zu retten, da ist die legislative Lage schon so verfahren, dass selbst groteske Befehle keinen Realitätskontakt zwischen Norm und Welt mehr herstellen können. Selbst der höchstrichterliche Verzweiflungsakt, Rechtswidriges zu dulden, weil es nicht zugleich offensichtlich illegal sei, verhindert nicht den systematischen Absturz, sondern verschiebt ihn nur noch ein letztes Mal um Augenblicke weiter in die Zukunft. Der fatale Nebeneffekt solch staatlichen Blendwerkes der Scheinrettung ist die Zerstörung des allgemeinen Vertrauens in das Recht und seine Verbindlichkeit. Wo unter der Überschrift, etwas für Recht erkannt zu haben, die abgrenzende Definition zwischen Fahrbahn und Straßengraben nicht mehr gelingt, wo das Ziffernblatt trotzig gegen den Sonnenlauf rebelliert, da verschwimmen die Konturen des Rechtes, da fehlt der normative Faden, um die Beteiligten aus dem Labyrinth herauszuleiten.
Genau dann und genau dort, wo die Staatsgewalten sich von den Prinzipien des Rechts lösen, weil sie meinen, die Realität nur so noch beherrschen zu können, stehen die Bürger in der Gefahr und in der Versuchung, sich ihrerseits von der bindenden Kraft der rechtlichen Regel lösen zu wollen. Warum, fragt dann mancher, soll ich mich an Regeln halten, wenn es der Staat schon nicht mehr tut? Doch Vorsicht! Auch für die Rechtsgenossen gilt: Man rettet eine Regel nicht, indem man sie bricht. Man stärkt das wechselseitige Vertrauen der Menschen zueinander nicht, wenn man einander untreu wird. Die Wege des geringsten Widerstandes, sagt man, sind nur am Anfang asphaltiert. Die Abkürzung auf der Suche nach Lösungen kann auch für Bürger nicht der Rechtsbruch sein. Denn jeder Rechtsbruch schadet im Ergebnis mehr, als dass er nutzt.
Gesellschaftliche Krisen erwachsen regelmäßig aus der fehlenden Entsprechung zwischen dem gegebenen Ist und dem normativ erwünschten Soll. Die gegenwärtige Zuspitzung macht da keinen Unterschied. Das allgegenwärtige Straucheln lässt sich aber nicht dadurch überwinden, dass neben dem Gesetzgeber schließlich auch noch die Gesetzesnehmer gegen das Recht verstoßen. Das Zusammennähen von gerissenen normativen Netzen erfordert Kreativität innerhalb des Rechts. Wenn schon der Seiltänzer zittert, dann sollte wenigstens das Seil einen Ruhepol bieten.
So wird das eingangs nur zurückhaltend ausgesprochene Wort vom Rechtsbefolgungsgehorsam zu einer geradezu Hoffnung spendenden Perspektive: Je größer das Chaos, desto nötiger das Hineinhorchen in die Realität, um ihrer wieder gewahr zu werden. Je zügiger die Realität sicht- und greifbar wird, desto eher kann gelingen, ihr wieder ein passendes neues Normenkleid anzuziehen. Und je mehr Vertrauen alle Beteiligten haben können, dass der je andere sich vertrauenswürdig verhält, desto schneller können die wechselseitigen Erwartungen aneinander sich wieder richtig ineinanderfügen. Es hilft nichts, fünf gerade sein zu lassen. Nur ein unbeirrter Blick zur Unterscheidung von Geradem und Ungeradem, von Richtigem und Falschem führt wieder in geregelte Bahnen.
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