14. Juni 2024 10:00

Rechtsmedizin Was Ärzte auch ohne Anfassen wissen können

Die abirrende Rechtsprechung zu Gesundheitszeugnissen

von Carlos A. Gebauer (Pausiert)

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Bildquelle: JakubD / Shutterstock Perfekte Arbeitsschutzmasken: Doch wirkungslos bei Viren

„Die Irrtümer des Menschen“, formulierte bekanntlich Johann Wolfgang von Goethe, „machen ihn eigentlich liebenswürdig.“ In Anlehnung hieran ließe sich sagen: Die Irrtümer der Justiz machen sie eigentlich erst liebenswert. Und tatsächlich: Justiz ist Menschenwerk. Menschen aber irren sich. Also liegt nahe, dass auch die Justiz sich irren muss, sonst wäre sie unmenschlich.

Was bei all dem eine gute Justiz von einer schlechten unterscheidet, ist die Fähigkeit, ihre eigenen Irrtümer zu erkennen, den Irrtum einzuräumen und ihn zu beseitigen. Das fällt manchen Angehörigen der Justiz nicht leicht. Denn man hat sich seinen Beruf innerhalb des Rechtes ja nicht auserkoren, um unrecht zu haben. Es spricht also – wie Juristen sagen würden – ein gewisser Anscheinsbeweis dafür, dass innerhalb der Rechtspflege wohl überproportional mehr Rechthaber tätig sind als beispielsweise unter Piloten, Tierpflegern oder Industrietauchern. Der Grund ist: Irrtümer schlagen hier nicht so unmittelbar schmerzhaft auf den Irrenden zurück wie dort.

Inmitten des Corona-Fiaskos sind unserer Rechtsordnung vielerlei Prüfsteine in ihren Weg gelegt worden, an denen sie sich reiben muss, um ihre rechtstaatliche Reinheit zu erweisen. Aus der inzwischen schier unabsehbaren Kasuistik sticht eine medizin- und strafrechtliche Frage besonders hervor: Muss ein Arzt, der ein „Gesundheitszeugnis“ (im Sinne des Paragraphen 278 StGB) ausstellt, seinen Patienten zuvor unmittelbar selbst gesehen und untersucht haben?

Das LG Nürnberg-Fürth formuliert hierzu in einem Beschluss vom 28. Juli 2022 (12 Qs 34/22): „Paragraph 278 StGB geht auf Paragraph 257 des preußischen StGB von 1851 zurück. Dessen Gesetzgeber hat die Frage, ob die formell falsche Ausstellung eines Gesundheitszeugnisses tatbestandsmäßig ist, wenn die dort mitgeteilten Tatsachen wahr sind, in Übereinstimmung mit der seinerzeitigen Doktrin verneint. Demgemäß ging auch die Literatur nach Inkrafttreten des Reichsstrafgesetzbuchs davon aus, dass Paragraph 278 StGB ein materiell unrichtiges Gesundheitszeugnis voraussetzt.

Im Hinblick auf seinen Schutzzweck hat allerdings die Rechtsprechung schon vor über 80 Jahren den Anwendungsbereich des Paragraphen 278 StGB ausgeweitet. Die Strafnorm solle nämlich die Beweiskraft ärztlicher Zeugnisse für Behörden sichern. Ein Zeugnis, das ein Arzt ohne Untersuchung ausstelle, sei aber ebenso wertlos wie dasjenige, das nach erfolgter Untersuchung den hierbei festgestellten Gesundheitszustand unrichtig darstelle (Reichsgericht, Urteil vom 25. Juni 1940 – 1 D 762/39, RGSt 74, 229, 231). Die damals begründete Rechtsprechung wurde in der Folgezeit bestätigt und fortgeführt. Sie entspricht auch der derzeit maßgeblichen Auffassung in der Judikatur. Die Kammer folgt ihr aus den genannten Schutzzweckerwägungen.“

Hübsch an solchen historischen Reminiszenzen ist das Wachhalten der Erinnerung, dass das deutsche Strafgesetzbuch vom 15. Mai 1871 sechs Jahre älter ist als das erste Telefonat im Lande. Weniger erbaulich ist das Abstellen auf ein Reichsgerichtsurteil zur Prostitutionshygiene aus dem Jahre 1940. Und noch schöner wäre gewesen, hätte das Gericht sich damit auseinandergesetzt, warum der Deutsche Ärztetag des Jahres 1880 sich so eingehend mit dem Problem der damals sogenannten „Briefkastenmedizin“ beschäftigte: Die Doktores sollten in Illustrierten keine Behandlungsratschläge erteilen! Es sollte die Qualität in der Medizin durch persönliche Kontakte sichergestellt werden.

Aus dem Qualitätssicherungsimpetus hat sich heute Erstaunliches entwickelt: In dem schier greifbaren Bestreben, das Feld der Maskenatteste und Impfunfähigkeitsbescheinigungen von Krankheitserregern steril und frei zu halten, lesen wir bei dem Oberlandesgericht Celle in einem Urteil vom 9. April 2024 (Az.: 2 ORs 29/24) den Satz: „Ein Urteil, das ein Gericht ohne Hauptverhandlung erlassen hat, ist ebenso wertlos wie ein Urteil, das nach einer Hauptverhandlung die hierbei festgestellte Rechtslage unrichtig darstellt.“ Pardon! Ich habe mich beim Abschreiben in der Zeile geirrt. Tatsächlich schreibt das Gericht: „Ein Zeugnis, das ein Arzt ohne Untersuchung ausgestellt hat, ist ebenso wertlos wie ein Zeugnis, das nach der Untersuchung den hierbei festgestellten Gesundheitszustand unrichtig darstellt.“

Dieser Satz hätte ersichtlich auch in der Begründung des Gesetzes zur Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten vom 18. Februar 1927 stehen können. Weniger kohärent ist sein Inhalt allerdings, liest man das Urteil aus Celle weiter: „Eine Ausnahme von diesem Grundsatz gilt lediglich für Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen; die Feststellung der Arbeitsunfähigkeit kann auch nach telefonischer Anamnese erfolgen.“

All diese argumentativen Verrenkungen und yogagleichen Balanceversuche der Subsumtion wären gänzlich vermeidbar, übersähe die irrende Judikatur nicht den Mangel in ihrer Differenzierung zwischen Gesundheitszustand und Gesundheitszustand: Ob eine Schleimhaut gerötet ist oder ob der Patient nur behauptet, sie sei es nicht, kann ein Arzt verbindlich einzig durch eigene Untersuchung feststellen. Dass aber eine Staubschutzmaske zum kurzfristigen Gebrauch für holzschleifende Malermeister die Gesundheit eines Kindergartenkindes bei achtstündigem Tragen negativ beeinflusst, ist auch ohne vorherigen Blick in die weinenden Augen des kleinen Opfers evident.

Käme der Gesetzgeber auf die Idee, Pubertierende zur Bekämpfung der Volksadipositas dazu zu verpflichten, ihre Gürtel je zehn Zentimeter enger zu schnallen als ihren Bauchumfang, könnte auch jeder Arzt die Kränkung der Peristaltik ferndiagnostizieren. Ordnete ein Minister an, dass Schuhe je drei Nummern kleiner getragen werden müssen, als die Füße groß sind, um klimaschonend Sohlenmaterial zu sparen, dürfte der Orthopäde ebenfalls wissen und attestieren, was mit den Fußknochen passiert. Unbelehrbare Fallschirmspringer schaden letztlich nur sich selbst. Eine lernresistente Justiz irrt zulasten anderer. Das darf nicht sein. Ein Blick in die ärztliche Berufsordnung erleichtert die Rechtsfindung:

„Ärzte beraten und behandeln Patienten im persönlichen Kontakt. Sie können dabei Kommunikationsmedien unterstützend einsetzen. Eine ausschließliche Beratung oder Behandlung über Kommunikationsmedien ist im Einzelfall erlaubt, wenn dies ärztlich vertretbar ist und die erforderliche ärztliche Sorgfalt insbesondere durch die Art und Weise der Befunderhebung, Beratung, Behandlung sowie Dokumentation gewahrt wird und der Patient auch über die Besonderheiten der ausschließlichen Beratung und Behandlung über Kommunikationsmedien aufgeklärt wird.“

Wenn schon Beratung und Behandlung erlaubt sind, dann muss das ärztliche Aussprechen medizinischer Selbstverständlichkeiten in Attestform erst recht fernkommunikativ gestattet sein.

Ob je ein Gericht, das ärztliche Atteste ohne vorherige persönliche Untersuchung für illegitim hält, darüber nachgedacht hat, warum vollends anonyme Indikationsstellungen durch Nichtmediziner in massenmedial werbender Form von „Lassen Sie sich impfen!“ bislang strafrechtlich ungesühnt geblieben sind? Waren diese Heilmittelwerbeversprechen nicht ebenso gefährlich wie eine Therapie ohne Diagnose, wie das Quacksalbern eines Heilgurus oder das Beutelschneiden eines Auramasseurs?


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