Libertärer Autoritarismus? Teil 1: Freiheit ist Sklaverei
Herrschaftsrechtfertigung auf höchstem Niveau
von Stefan Blankertz
Ein Gespenst geht um in Europa, und es kommt aus den USA: das Gespenst der libertären Revolte gegen einen aufgeblähten Staat. Die konservative Garde der Verteidiger des Staats ist aufgeschreckt und denkt darüber nach, ob „Delegitimierung der Herrschaft“ zum Straftatbestand erklärt werden könne. Aber natürlich bedarf es, damit sich ein solcher Einschnitt in die Meinungsfreiheit legitimieren lässt, eines wissenschaftlichen Überbaus. Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey, die beiden Autoren des Buches „Gekränkte Freiheit: Aspekte des libertären Autoritarismus“, bewerben sich darum, ihn zu liefern. An den Verkaufszahlen gemessen, scheinen sie Aussichten zu haben, dass ihnen diese Ehre zuteilwerden wird.
Die gute Nachricht: Die Autoren begreifen, dass das neue Milieu des Protests nicht „rechts“ ist, jedenfalls nicht im klassischen Sinne: autoritätshörig, führerfixiert und konformistisch. Im Gegenteil: Kennzeichen dieses Milieus sind laut den Autoren: Ablehnung von Autoritäten (Experten, Journalisten, Politikern, Wissenschaftlern), Insistieren auf dem Recht, über das eigene Leben selbst zu entscheiden, sowie der Mut, sich gegen die herrschende Meinung (das heißt die Meinung der Herrschenden) zu stellen. Auch der Aspekt des Nationalen sei, so geben die Autoren offen zu, nur recht schwach ausgeprägt; höchstens gibt es einen gewissen regionalisierenden Impuls gegen zentralistische Bevormundung. Die empirische Grundlage des Buches ist eine Reihe von qualitativen (nicht standardisierten) Interviews; die Auswahl der Interviewten wird nicht offengelegt, sondern scheint mehr oder weniger willkürlich erfolgt zu sein. Als Werte dieses Protestmilieus beschreiben die Autoren die Ideale des alternativen, linken und grünen Milieus; diese Ideale, wie Gesellschafts- und Wissenschaftskritik, Ablehnung bürokratischer Entscheidungsstrukturen, Betonung von Dezentralisation und Partizipation der Bürger, seien im Denken der 1960er bis weit in die 1990er Jahre hinein tief verwurzelt gewesen. Die Autoren fassen zusammen, die meisten der von ihnen „untersuchten Personen stammen aus Milieus, für die ein Streben nach Autonomie und Selbstverwirklichung gegenüber gesellschaftlicher Bevormundung, Einschränkung und Entfremdung maßgeblich ist“.
Das Buch „Gekränkte Freiheit“ ist mithin Ausdruck einer Spaltung der 1968er-Generation und ihrer Nachfolger wie die Autonomie-, Bürger-, Öko-, Friedens- und Spontibewegungen – eine Spaltung, die in Deutschland spätestens mit der Machtbeteiligung der Grünen 1998 real vollzogen war, bislang aber noch kaum Reflektion erhielt. Diejenigen, die an den alten Idealen des alternativen Milieus festhielten, gingen tendenziell in die innere Emigration und wählten vielfach zähneknirschend weiter die Grünen. In drei Stufen wurden sie aus dem Mainstream hinausgedrängt und gingen zu neuen Formen des Protests über: die Flüchtlingskriese 2015 mit dem Verrat an der Partizipation der Bürger, an deren Stelle bürokratische Planung trat; die Corona-Krise 2020 mit dem Verrat an einer kritischen Haltung zu Pharmaindustrie und Wissenschaft; sowie der Ukraine-Krieg 2022 mit dem Verrat an der Parole „kein Waffenexport in Kriegsgebiete“. In „Gekränkte Freiheit“ kommen alle drei Stufen vor, wobei jedoch die Auseinandersetzung mit der Corona-Krise den weitaus größten Raum einnimmt.
Aber das Buch „Gekränkte Freiheit“ ist nicht nur Ausdruck der Spaltung des alternativen Milieus, sondern es bezieht auch Stellung innerhalb dieser Spaltung. Die Autoren nehmen Partei für die neue grüne Agenda, die für ihre Durchsetzung Wissenschaftshörigkeit und zentralstaatliche Zwangsmaßnahmen vorsieht. Den alten, jetzt in Ungnade gefallenen Genossen das Linkssein kurzerhand abzusprechen und sie als neue Rechte zu deklarieren, wie es vielfach geschieht, ist den Autoren zufolge allerdings kein analytisch haltbarer Weg. Ihr Unterfangen, das neue Protestmilieu als diskursunwürdig und -unfähig abzuqualifizieren, um der von ihm ausgehenden Delegitimierung der Herrschaft entgegenzutreten, stellen sie auf zwei andere Sockel.
Den ersten Sockel bildet die Aussage, der libertäre (freiheitliche) Impuls des neuen Protestmilieus sei in Wirklichkeit autoritär. „An die Stelle der übermächtigen externen Instanz“, die im klassischen (rechten) Autoritarismus adressiert wird, trete bei den libertär Autoritären „das Selbst als autonomes Subjekt“: „Im Typus des libertären Autoritarismus identifizieren sich die Menschen nicht mit einer externen Instanz, sondern mit dem eigenen Ich.“ Und: „Libertäre Autoritäre trotzen rebellisch jeder externen Autorität.“ Dies ist eine psychologisierende Stigmatisierung, die die betreffenden Menschen zu Objekten macht und ihnen abspricht, inhaltlich Sinnvolles aussagen zu können. Insofern gehen die Autoren hier in klassisch autoritärer Weise vor. Dabei enthält die Stigmatisierung, noch bevor man versuchen kann, sie auf reale Personen anzuwenden, eine logische Problematik. Diese wird deutlich, sobald man fragt, welche Aussage aus der zitierten Stigmatisierung hervorgeht, wenn man sie umkehrt. Eine solche umgekehrte Stigmatisierung würde auf Menschen zutreffen, die sich mit einer externen Instanz identifizieren (und nicht mit dem eigenen Ich) sowie der externen Autorität nicht trotzen (sich externen Autoritäten willig unterwerfen). Klarerweise kennzeichnet dies den autoritären Charakter, also jenen, der sich stets dazu bereit zeigt, der Herrschaft zu willfahren, ja sie zu idealisieren. Wenn die Autoren also die libertären Autoritären zu den Feinden der Zivilgesellschaft erklären, müssen sie wohl einen solchen Charakter bevorzugen, der dem Ideal des klassischen Autoritarismus entspricht. Sie können sich auch nicht auf eine dialektische Logik hinausreden, denn die würde diesen Sachverhalt anders strukturieren: Die dialektische Logik würde von der Formulierung der These des Autoritarismus über die Entgegenstellung der Antithese des Libertarismus bis zur Präsentation einer Synthese fortschreiten, einer Synthese, in der beide Positionen aufgehoben (integriert und in eine neue Qualität verwandelt) werden. Eine solche Synthese präsentieren die Autoren nicht nur nicht, sondern es hapert schon bei der Formulierung der Antithese, denn sie erklären sie für identisch mit der Ausgangsthese. Dann bleibt für die Synthese nichts mehr übrig, was sie aufheben (integrieren und verwandeln) könnte.
Als sekundäre Kennzeichen des libertär-autoritären Charakters nennen die Autoren die Leugnung von gegenseitigen sozialen Abhängigkeiten; die libertär-autoritären Personen würden demgegenüber behaupten, der Mensch sein bar jeder Verwiesenheit auf andere völlig autonom und schrankenlos frei, frei auch von Verpflichtungen wie Anstand oder sonstigen Rücksichtnahmen auf Mensch oder Natur. Entsprechend würden libertär-autoritäre Personen Fürsorge für Schwächere und Solidarität nicht als Werte akzeptieren. Abgesehen davon, dass dies eine einerseits absurde, andererseits ehrenrührige Unterstellung ist, zeigt sich hier ein fundamentales intellektuelles Unvermögen der Autoren; sie wissen nämlich schlicht nicht zu unterscheiden zwischen einer freiwilligen Geselligkeit, zu der Anstand, Fürsorge, Rücksichtnahme und Solidarität gehören, und staatlichen Zwangsmaßnahmen, die stets in Unanständigkeit, Instrumentalisierung statt Fürsorge, rücksichtlose Anwendung der Machtmittel und Entsolidarisierung münden.
Den zweiten Sockel, um die von den Libertären formulierte Delegitimierung von Herrschaft zu entkräften, bildet die Aussage der Autoren, der aufgeblähte Staat, gegen den sich der libertäre Impuls richtet, sei inexistent: Er sei vielmehr nur ein verschwörungstheoretisches Gehirngespinst. Die Autoren sprechen von „einer neoliberalen Ausweitung des Privaten zulasten einer öffentliche Güter wie wirtschaftliche und soziale Sicherheit bereitstellenden Demokratie“, ja (per Zitat) von „der Einschränkung der Reichweite der Demokratie im Namen der Freiheit“; damit wollen sie keineswegs die Forderung der Libertären kennzeichnen (womit sie durchaus richtiglägen), sondern die Realität dessen beschreiben, was politische, soziale und wirtschaftliche Realität der (westlichen?) Welt sei. Empirisch ist das offensichtlich falsch. Parameter wie Staatsausgaben, Staatsquote oder Verrechtlichung von Lebensbereichen deuten in Richtung Ausweitung der Staatsgewalt. In den Ländern, in denen eine formale bürgerliche Demokratie herrscht, wird damit die Reichweite der Demokratie, also die Reichweite der parlamentarischen Herrschaft über soziale Vorgänge, nicht eingeschränkt, sondern nahezu entgrenzt. Privatheit gibt es praktisch nicht mehr. Übrigens gestehen die Autoren dies indirekt auch zu, denn mehrfach argumentieren sie, die materielle Grundlage für den Protest der autoritären Libertären sei die Tatsache, dass Kontrollen die Freiheit des Individuums zunehmend gefährdeten (wobei die Autoren wiederum zwischen staatlichen und gesellschaftlichen Kontrollen nicht zu unterscheiden vermögen). Die libertär-autoritären Neigungen bilden sich aus, so die Autoren, „entlang jener Grundorientierungen, die auf Selbstbestimmung, Selbstverwirklichung oder Hedonismus basieren“. Hinter der Orientierung „Hedonismus“ kann man sicherlich ein Fragezeichen setzen, denn viele, die zu dem von den Autoren definierten Milieu zählen, kritisieren den herrschenden Hedonismus scharf.
Die autoritären Libertären würden sich, beklagen die Autoren mehrfach, aggressiv gegen jene wenden, die ein anderes Freiheitsverständnis als sie selbst haben und von denen sie meinen, in ihrer Freiheit eingeschränkt zu sein; sie würden versuchen, die Andersdenkenden auszuschließen. Da sollten die Autoren sich doch mal an die eigene Nase fassen und darlegen, inwiefern ihr eigenes Buch nicht genau dieser Struktur folgt, nämlich Andersdenkenden zuerst die Diskursfähigkeit abzusprechen und sie dann für diskursunwürdig zu erklären. An keiner Stelle präsentieren sie ein Beispiel, in dem „autoritäre“ Libertäre Andersdenkende in ihrer Freiheit einschränken oder die Staatsgewalt auffordern, dies zu tun; sie fordern lediglich, dass man sie in Ruhe lasse. Somit sind sie wahre Libertäre, von autoritärem Charakter keine Spur. Wenn sie sich bisweilen verbal sehr deutlich die Verfügung über ihr Leben verbeten, die sich Politiker oder ihre Fürsprecher anmaßen, ist das nur zu verständlich und zeugt nicht von autoritärem Charakter.
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