Kosovo: Am Balkan zählt nur das eigene Leid
Die Lage bleibt angespannt
Am Balkan kann manchmal schon ein kleiner Funke einen Flächenbrand auslösen. Im März 2004 etwa reichte ein Gerücht aus, um im Nordkosovo schwere Unruhen mit 27 Toten auf beiden Seiten zu provozieren. In dem Wissen, dass in der Region schon kleine Konflikte durch das irrationale Handeln Einzelner schnell eskalieren können, ist es umso beruhigender, dass die wochenlangen Proteste von Kosovo-Serben, die mit der Errichtung von Straßensperren im Nordkosovo einhergingen, erst einmal friedlich beigelegt wurden. Doch für wie lange?
Die überwältigende Mehrheit der Serben im Kosovo will mit der albanisch dominierten Republik Kosovo nichts zu tun haben und strebt eine wie auch immer geartete Form der Selbstverwaltung an. Doch die Regierung in Prishtina kann es nicht lassen, der serbischen Minderheit von Zeit zu Zeit immer wieder unter die Nase zu reiben, wer die neuen Herren am Amselfeld sind.
Auslöser der aktuellen Spannungen war die Ankündigung Prishtinas, jene Kosovo-Serben in Zukunft zu bestrafen, die weiterhin serbische statt der offiziellen kosovarischen Nummernschilder benutzen. Ein nationalistischer Schwanzlängenvergleich, bei dem die Serben natürlich auch mitmischen wollten. Zahlreiche serbische Lokalpolitiker, Richter und Polizisten traten aus Protest von ihren Ämtern zurück. Richtig eskalierte die Situation dann, als die kosovarische Polizei am 10. Dezember den serbischen Ex-Polizisten Dejan Pantic verhaftete und ihm Terrorismus vorwarf.
Doch dabei blieb es nicht. Über die Weihnachtsfeiertage verweigerte Prishtina dem serbischen Patriarchen Porfirije die Einreise, nachdem es dieser zuvor abgelehnt hatte, wie von der kosovarischen Regierung gefordert, die von der serbischen Minderheit errichteten Straßensperren zu verurteilen. Zumindest dafür gab es von den Schutzherren in Washington aber mal einen gehörigen Einlauf. Zur Abweisung des Patriarchen an der Grenze sagte der US-Botschafter in Belgrad, Christopher Hill: „Ich glaube nicht, dass ihm irgendjemand in der Internationalen Gemeinschaft sein Recht abspricht, in den Kosovo einzureisen und dort Gläubige zu treffen. Das ist unsere Position und ich hoffe, es passiert nicht noch einmal.“
Man sollte meinen, dass gerade die Kosovo-Albaner nach Jahren der serbischen Unterdrückung in den 90ern sensibilisierter für die Rechte von Minderheiten seien. Doch wenn kosovarische Politiker wie Staatspräsidentin Vjosa Osmani oder Ministerpräsident Albin Kurti feierlich erklären, dass man den Kosovo-Serben niemals Autonomie zugestehen und die „territoriale Integrität“ der Republik Kosovo mit allen Mitteln verteidigen werde, klingen sie fast ein wenig wie eine albanische Version von Slobodan Milošević. Dieser hatte den ethnischen Konflikt Ende der 80er/Anfang der 90er Jahre auf die Spitze getrieben, als er der Provinz die seit 1974 bestehenden weitreichenden Autonomierechte entzog.
In der Bekämpfung der Rechte der serbischen Minderheit geht die Regierung von Ministerpräsident Kurti sogar so weit, Abkommen zu brechen, die die kosovarische Regierung zuvor selbst unterzeichnet hatte. Die „Vereinigung serbischer Gemeinden“, die im Brüsseler Abkommen von 2013 als eine teilweise Selbstverwaltung serbisch dominierter Kommunen innerhalb der Institutionen des Kosovo beschlossen wurde, ist von der kosovarischen Regierung nie umgesetzt worden. Dabei wäre eine weitreichende lokale Selbstverwaltung (viel weitreichender als im Brüsseler Abkommen vereinbart) angesichts des offensichtlichen Scheiterns nationalstaatlicher Lösungsansätze in der Region vermutlich ein Kompromissmodell, von dem auch die albanische Mehrheit profitieren würde.
Zumindest, solange man auf beiden Seiten visionslos genug ist, sich ein Leben ganz ohne staatliche Verwaltung vorstellen zu können. Eine Abspaltung des nördlichen Kosovo mit Anschluss an Serbien ist nicht nur für die Albaner ein rotes Tuch. Die serbisch-orthodoxe Kirche ist vehement gegen eine solche Lösung. Auch darf nicht vergessen werden, dass fast die Hälfte der Serben im Kosovo südlich des Ibar-Flusses lebt, somit also ein signifikanter Teil der Kosovo-Serben weiterhin im albanisch dominierten Staat verbleiben würde. Dazu kommt, dass selbst in den vier großen serbisch dominierten Kommunen des Nord-Kosovo Minderheiten leben (und zwar keineswegs nur Albaner), die man nicht einfach gegen ihren Willen wieder in den serbischen Staat eingemeinden kann.
Aus Belgrad kamen zuletzt wenig versöhnliche Töne. Wenn der serbische Präsident Aleksandar Vučić den Premierminister des Kosovo, Albin Kurti, auf den Spuren von Diktator Enver Hoxha wandeln sieht, ist das nicht mehr als ein Hitler-Vergleich mit Lokalkolorit, der auch in der albanischen Innenpolitik immer wieder eingesetzt wird und dem man keine größere Bedeutung beimessen muss. Anders verhält es sich mit der Behauptung Vučićs, die „Liga von Prizren“ bilde die Handlungsgrundlage der kosovarischen Regierung. Der nicht ganz unberechtigte Vorwurf: Das Ziel Prishtinas sei in Wirklichkeit die Vereinigung mit der Republik Albanien und die Schaffung eines Großalbaniens. Eine Idee, die bisweilen selbst vom offiziellen Prishtina lanciert wird, etwa von Osmanis Vorgänger Hashim Thaçi. Und im April 2021 gab der kosovarische Ministerpräsident Kurti als Doppelstaatler seine Stimme bei den albanischen Parlamentswahlen ab.
Doch Wünsche nach Vereinigung der beiden Staaten stoßen in Albanien nicht nur auf Gegenliebe. Premierminister Edi Rama kann gut mit Vučić. Beide sind maßgeblich für die Open Balkan Initiative verantwortlich, eine Art Mini-Schengen, dem auch Nordmazedonien angehört. Die Regierung des Kosovo hat sich wiederholt geweigert, an einer solch „schädlichen regionalen Initiative ohne Vision“ teilzunehmen. Von der albanischen Opposition muss sich Rama wegen seiner guten Beziehungen zum serbischen Präsidenten übrigens den Vorwurf anhören, er sei der Lakai Vučićs, verrate albanische Interessen und sei überhaupt der schlimmste Regierungschef seit Enver Hoxha.
Es wäre aber zu einfach, allein Staaten und Regierungen für das Problem nationalistischer Konflikte auf dem Balkan verantwortlich zu machen. Klar: Vučić und Kurti (nicht so sehr Rama) spielen gerne die Nationalismuskarte, um innenpolitisch zu punkten. Doch nicht nur Regierungen perpetuieren in der Region ein Klima ethnischen Hasses. Auch die Menschen am Balkan tragen ihren Teil zur Situation bei: Menschen, mit denen man völlig rational über jedes Thema diskutieren kann, die aber, sobald es um Volk und Vaterland geht, den Verstand zu verlieren scheinen, plötzlich in die primitivsten völkischen Denkmuster zurückfallen und darüber offenbar blind für die Schandtaten der eigenen Leute und das Leid anderer Volksgruppen werden.
Das lässt sich nicht nur im südwestlichen Balkan beobachten. In Kroatien etwa wissen bereits Teenager, die damals noch gar nicht geboren waren, von der „serbischen Aggression“ 1991 zu berichten. Spricht man Kroaten hingegen auf Operation Oluja (die ethnische Säuberung der Krajina vier Jahre später) an, kann man sich manchmal ob der Antworten nur die Augen reiben. Die Serben in der Krajina seien selbst schuld gewesen, hätten sie sich mal nur nicht von kroatischem Territorium abgespalten, eine Parallelverwaltung und eine eigene Währung eingeführt, ist man da schnell dabei, die eigene militärische Gewalt gegen Zivilisten zu rechtfertigen, deren Führung sich wiederum natürlich zuvor selbst schwerer Verbrechen gegen die Menschlichkeit schuldig gemacht hatte.
Meist sind sich diese Leute dann noch nicht einmal des Widerspruchs bewusst, militärische Gewalt gegen eine Volksgruppe zu rechtfertigen, die dasselbe Recht auf Selbstbestimmung, das die Kroaten nur wenige Jahre zuvor selbst für sich reklamiert hatten, für sich in Anspruch genommen hat. Und auch berechtigte Vorwürfe, viele Serben würden immer noch Generäle und Politiker verehren, die für Völkermord und Angriffskriege verantwortlich seien, klingen hohl, wenn sie aus einem Land kommen, in dem bis heute Kriegsverbrecher wie Ante Gotovina, Mladen Markač oder auch der frühere Staatspräsident Franjo Tuđman Heldenverehrung genießen.
Auch im Kosovo scheinen die Fronten auf absehbare Zeit verhärtet. Zumindest so lange, bis die Menschen auf beiden Seiten einmal selbstkritisch die letzten 40 Jahre Revue passieren lassen, falsche Helden entmystifizieren und einen offeneren Blick auf das Leid anderer Volksgruppen und das im eigenen Namen begangene Unrecht versuchen. Erst, wenn die Nationalismuskarte nicht mehr sticht, werden Politiker auf beiden Seiten aufhören, sie auszuspielen.
Kommentare
Die Kommentarfunktion (lesen und schreiben) steht exklusiv nur registrierten Benutzern zur Verfügung.
Wenn Sie bereits ein Benutzerkonto haben, melden Sie sich bitte an. Wenn Sie noch kein Benutzerkonto haben, können Sie sich mit dem Registrierungsformular ein kostenloses Konto erstellen.