13. Januar 2023 07:00

Libertärer Autoritarismus? Teil 2 Dialektik der Gegenaufklärung

Umdeutung Adornos zu einem Konformisten

von Stefan Blankertz

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In dem Bestseller „Gekränkte Freiheit: Aspekte des libertären Autoritarismus“ unternehmen es die Autoren Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey, darzustellen, inwiefern die antiautoritäre libertäre Rebellion gegen die staatliche Autorität in Wirklichkeit nur eine weitere Spielart des Autoritarismus sei. Dazu setzen sie sich nicht mit libertären Theorien oder Theoretikern auseinander, sondern beschreiben ein Milieu des Protests gegen Einschränkungen der Freiheit und präsentieren eine Typik dieses Milieus. Ermittelt haben sie ihre Beschreibung aus einer Reihe qualitativer, nicht standardisierter Interviews mit Personen, die sie typisch für das Milieu halten (insofern die Typik das Kriterium der Auswahl ist, muss sie ihnen schon vor Beginn der Feldforschung klar gewesen sein). Für einen Typus steht etwa der „Professor, der AfD-Politiker einlädt und durch den studentischen Protest seine Meinungsfreiheit verletzt sieht“.

Da die Autoren sich bei der Konstruktion des „libertären Autoritarismus“ prominent auf die Kritische Theorie der Frankfurter Schule, insbesondere Theodor W. Adorno (1903–1969), beziehen, erinnere ich an folgende Begebenheit: Nach verschiedenen Störmanövern, die linke Aktivisten seit 1967 gegen Adorno gerichtet hatten und aufgrund derer Adorno sich genötigt sah, seine Vorlesungen einzustellen, besetzten Studenten im Januar 1969 sein Institut. Adorno rief die Polizei und ließ sein Institut räumen. Diese Begebenheit zeigt, dass Adorno keineswegs bereit war, die Störmanöver als Recht der Studenten zu akzeptieren, wenn sie mit bestimmten Lehrinhalten nicht einverstanden sind. Vielmehr sah er Tendenzen, die „mit dem Faschismus unmittelbar konvergieren“. Sie verurteilte er kompromisslos.

Die größte denkerische Leistung Adornos bleibt es, den Mechanismus der „Dialektik der Aufklärung“ erkannt und beschrieben zu haben. Dialektik der Aufklärung heißt: Das aufklärerische Denken steht einerseits für die Gewinnung von gesellschaftlicher Freiheit; zum anderen enthält das aufklärerische Denken „schon den Keim zu jenem Rückschritt, der heute überall sich ereignet“. Die „Dialektik der Aufklärung“ schrieb Adorno (zusammen mit Max Horkheimer) noch während des Zweiten Weltkriegs und der „Rückschritt“, auf den hier verwiesen wird, hieß konkret Faschismus und Bolschewismus; als Oberbegriff verwandte Adorno „Kollektivismus“. Die blinde Identifikation mit dem Kollektiv aufzulösen, so schrieb Adorno später 1966 in seinem wohl bekanntesten Essay „Erziehung nach Auschwitz“, sei der wichtigste Beitrag dazu, die Wiederholung von Auschwitz zu verhindern. Der Pessimist Adorno setzte freilich nicht allzu große Hoffnungen darein, dass dies gelingen könnte. Mit seiner anti-kollektivistischen Theorie der Dialektik der Aufklärung betonte Adorno nicht mehr und nicht weniger, als dass es völlig fehlgeleitet sei, die bestehenden Institutionen der bürgerlichen Demokratie zu stärken, um Faschismus (und Bolschewismus) zu verhindern, da die bestehenden Institutionen der bürgerlichen Demokratie die Barbarei bereits in sich tragen.

Die beiden zentralen Zutaten des aufklärerischen Denkens, die in dessen Gegenteil umschlagen, sind nach Adorno Universalismus und Rationalität. Universalismus steht dafür, dass die Willkür partikularer Herrschaft wie die der Fürsten abgeschafft wird, anstelle derer ein Rechtsverständnis tritt, das an universell gültigen Normen orientiert ist. Doch dieser Universalismus dient dann zur Normierung der Menschen, zur Überwältigung ihrer je subjektiven Werte und Wünsche und zur Ausgrenzung all dessen, was die Normen verletzt. Auch die Rationalität steht gegen die Willkür der Herrschaft und bindet Herrschaft an Argumentation, Begründung und Wissenschaft. Doch damit wird die Rationalität selber zu einem Instrument der Herrschaft, die etwas nur noch dann zulässt, wenn es sich durch behördliche Planung und technische Verfahrensweisen beherrschbar zeigt. Am Ende der Dialektik der Aufklärung stehe, so Adorno, ein System, das in seiner Willkür dem Lebendigen gegenüber erheblich an Reichweite zugenommen habe: eine perfekte Beschreibung der gegenwärtigen politisch-sozialen Verhältnisse.

Man könnte annehmen, dass diese Theorie optimal zugeschnitten sei auf das Milieu der Proteste gegen staatliche Maßnahmen, ob es sich nun um diejenigen zur (angeblichen) Eindämmung einer Pandemie handelt oder um andere; also auf das Milieu, das in „Gekränkte Freiheit“ als libertärer Autoritarismus gekennzeichnet wird. Wenn die Autoren sich dennoch ungeniert auf Adorno beziehen können (sie zitieren sogar die oben wiedergegebene Aussage Adornos zur Dialektik der Aufklärung!), ohne dass ihnen dessen entgegengesetzte Orientierung um die Ohren fliegt, liegt dies daran, dass in dem gegenwärtigen Protestmilieu Adorno leider als Vertreter des herrschenden links-grünen Mainstreams gilt, falls er nicht ganz unbekannt ist.

Wenn wir Adornos Messlatte an die Autoren der „Gekränkten Freiheit“ anlegen, erhalten wir das Bild einer Dialektik der Gegenaufklärung. Die von den Autoren präsentierte Gegenaufklärung steht am Ende der Dialektik der Aufklärung; sie legitimiert Herrschaft durch Universalismus und Rationalismus, um die befreienden Aspekte der Aufklärung vergessen zu machen und die Herrschaft ohne unbequemen Widerspruch herrschen lassen zu können. Die Institutionen der bürgerlichen Demokratie bringen die Autoren als Bollwerk gegen die gefährliche Herausforderung, die vom Libertarismus für die Legitimation der Herrschaft ausgeht, in Stellung. Adornos Kritik wird verdrängt. Stattdessen geben die Autoren die Parole aus, dass „Wir“ zusammenhalten müssten, um gegen die libertäre Gefahr anzukommen; die Identifikation mit dem demokratischen Kollektiv des „Wir“ der rationalen Bürger bleibt in der neuen Gegenaufklärung ohne eine Begrenzung durch den Geist aufklärerischer Liberalität.

Im Zusammenhang mit der fehlenden kritischen Distanz zur Demokratie bei den Autoren ist es auch bemerkenswert, wie sie mit Alexis de Tocqueville (1805–1859) verfahren. Dass sie ihn weder zeitlich oder ideengeschichtlich einordnen, passt zu ihrem Verfahren, jeden Autor zu zitieren, als sei er Zeitgenosse; aber das nur am Rande. Auch versäumen sie es zu bemerken, dass er eher ein konservativ-liberaler Kulturkritiker ist (und insofern weniger gut zu Adorno passt, der Kulturkritiker nicht ausstehen konnte: sie schieben ihm zufolge auf die Kultur solche Übel, die dem System anzulasten seien). Vor allem aber amputieren sie Tocquevilles Demokratiekritik. Was sie merkwürdigerweise herausstellen, ist seine Beobachtung, dass die Sensibilität gegen Ungleichheit umso stärker werde, je mehr die Gleichheitsnorm in einer Gesellschaft etabliert sei. Die Autoren schließen daran die Hypothese an, dass der Fakt, dass „vermeintliche Nebensächlichkeiten wie gendersensible Sprachkonventionen eingefordert werden“, „sicher auch mit einer gesteigerten gesellschaftlichen Wahrnehmung von Ungleichheiten zu tun“ habe. Dies hätte ein libertärer Rebell gegen Genderismus nicht präziser formulieren können. Inwiefern die Autoren dies anders gemeint haben könnten, erläutern sie nicht.

Vor allem aber steht Tocquevilles Kritik an der Gleichheitsnorm im Rahmen einer kritischen Auseinandersetzung mit der jungen nordamerikanischen Republik. Zunächst ist es allerdings wichtig zu bemerken, dass er voller Bewunderung für die Institutionen dieser Republik ist, in denen die Bürger ihre Selbstregierung erproben und ihr Selbstbewusstsein ausdrücken können. Entscheidende Voraussetzung für solche Institutionen ist nach Tocqueville die Dezentralisierung der Macht. Er setzt die Amerikanische damit in einen Gegensatz zur Französischen Revolution, die in eine Zentralisierung der Macht mündete. Damit formulierte Tocqueville eine Art Vorläufertheorie zur Dialektik der Aufklärung. Allerdings sah Tocqueville ganz realistisch auch eine Gefahr der Demokratie (ebenfalls im Sinne einer Dialektik der Aufklärung), nämlich deren Umschlagen in eine „Allmacht“ oder „Tyrannei der Mehrheit“. Nur selbstbewusste Bürger mit stark individualistischem Drang zur Unabhängigkeit und bewehrt mit Meinungs- und Pressefreiheit sind nach Tocqueville Bollwerke gegen die Herausbildung einer solchen tyrannischen Allmacht der Mehrheit: Damit ruft er genau zu dem Verhalten auf, das das libertäre Milieu kennzeichnet, das Amlinger und Nachtwey stigmatisieren wollen. Sowohl mit Adorno als auch mit Tocqueville berufen die Autoren sich auf externe Autoritäten, die sie nicht verstanden haben, weil deren Theorie unzweifelhaft für das Protestmilieu und ihr Aufbegehren gegen staatliche Bevormundung und Einschränkung spricht.


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