27. Juni 2025 06:00

Krieg und Frieden – Teil 19 Der Stern der Ungeborenen

Franz Werfel

von Stefan Blankertz drucken

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Bildquelle: Picryl Österreichischer Schriftsteller jüdisch-deutschböhmischer Herkunft: Franz Werfel

Wie sähe ein Leben ohne Krieg aus? Kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs, zwei Tage vor seinem Tod, beendete der österreichische Schriftsteller Franz Werfel (1890–1945) im amerikanischen Exil seinen „Reisebericht“ vom „Stern der Ungeborenen“. Der Soldat F. W. wird aus dem Ersten Weltkrieg von seinem verstorbenen Freund in eine ferne Zukunft gerufen, wo er drei Tage verbringt. Das ist der äußere Rahmen dieses monumentalen Romans.

Die Menschen in dieser Zukunft leben völlig ohne aggressive Lebensäußerungen. Sie vermeiden nicht nur jedes laute Wort, auch die Nahrung wird nicht mehr mit den Zähnen zerkleinert, sondern sie nehmen konzentrierte Nährflüssigkeit auf. Sogar das Sitzen gilt, der gebrochenen Körperlinie wegen, als aggressiv. Man steht oder liegt. Kriege sind eine altertümliche Erinnerung. Die Menschen haben keine Krankheit und sie sterben nicht. Nach einem langen Leben durchlaufen sie, lebenssatt oder lebensmüde, nach eigener Entscheidung einen Prozess des sanften Ablebens.

Der Protagonist F. W. kommt langsam dahinter, dass er die Attraktion einer Hochzeit ist. Der Bräutigam nämlich hat ein eigenartiges Hobby: Er ist fasziniert von Rittern und Soldaten, er stellt sich gerne vor, wie es wäre, jemandem mit der Waffe eine blutige Wunde zuzufügen oder zugefügt zu bekommen. Er fragt den Erzähler mit „wollüstig poetischem Ton“: „Und wie ist das, Seigneur, wenn der eigene blanke Stahl in den Leib des Gegners dringt und wenn der Blutquell hervorspritzt in rotem Bogen?“ (O Freud, lass nach!) Es stellt sich heraus, dass er zwar einerseits ein Waffennarr ist, andererseits die historischen Zeiten gründlich durcheinanderwirft. Einen zeitlichen Abstand oder auch nur kulturellen Unterschied zwischen einem Ritterheer und einer Armee im Ersten Weltkrieg kann er kaum nachvollziehen.

Derweil der Bräutigam sich in den Erinnerungen an die vermeintlichen guten alten Zeiten der glorreichen Kriege verliert, ist seine Braut fasziniert von den Barbaren außerhalb der befriedeten Zivilisation. So erfährt F. W., dass es neben der Zivilisation die Barbaren gibt, die so leben, lieben und sterben wie früher. Sie essen, raufen, haben Krankheiten und Kinder. Es geht dort recht ungemütlich zu im Vergleich zum beschaulichen Leben der Zivilisierten, doch die Barbaren verweigern sich hartnäckig der Zivilisation: Sie wählen dieses Leben und könnten jederzeit in die Zivilisation zurückkehren. Zum Entsetzen des Bräutigams verliebt sich die Braut in einen der Barbaren und sucht bei ihnen Zuflucht.

Zivilisierte und Barbaren hassen einander, aber in den vergangenen Jahrtausenden haben sie so etwas wie einen Modus Vivendi gefunden und praktiziert, der nun aber auf eine Eskalation hinausläuft. Die Waffennarren um den Bräutigam wollen den Krieg. Dieser löst durch ein Attentat tatsächlich den Krieg aus, nachdem er von der Flucht seiner Braut erfahren hat. Der General des Dschungels, militärisch eigentlich in völlig aussichtloser Lage, hat sich allerdings gut vorbereitet. Man schießt – und hier wird der Roman surrealistisch – „mit Depression und Melancholien“. Es ist aber nicht der Wahnsinn, der verwundet, sondern der „Wahrsinn“: „Wirst du von einer solchen sechsundzwanzigkalibrigen Selbstanalyse getroffen, dann hilft dir kein Opiat mehr. Sie schießen mit entsetzlichen Ernüchterungen.“ Die Zivilisation hält dem Angriff nicht stand, sie löst sich auf. Die Medien preisen nun den Dschungel der Barbaren. Allerdings ist der Sieg des Dschungels nicht die große Befreiung. „Jubel herrschte, nicht etwa, weil das Leben besser zu werden versprach, sondern weil die Herrschaft der Hochnäsigen gebrochen zu sein schien.“

Mit dem „Stern der Ungeborenen“ haben wir die literarische Aufarbeitung von Freuds „Das Unbehagen in der Kultur“, das ich vorherige Woche in der Folge 18 referiert habe: Das Aggressionsverbot der Gesellschaft, das zugleich eine Unterdrückung der Sexualität ist, führt zu einem Unbehagen, weil individuelle Bedürfnisse sich nicht mehr befriedigen lassen. Der unbewusste Todestrieb wird ausgelöst, um aus der Zwangsjacke der Zivilisation herauszukommen. Der Bräutigam und die Braut stellen zwei Reaktionsformen auf das Unbehagen in der Kultur dar: Der Bräutigam will mittelbar die Barbarei zurück in die Zivilisation holen, indem er den Krieg gegen die bösen und abartigen Feinde predigt, während die Braut der Zivilisation entsagt und sich unmittelbar den Barbaren anschließt.

Die Kontrolle der aggressiven Impulse der Individuen durch die Gesellschaft erfordert eine kollektive Aggression, die apathisch, depressiv und krank macht, vereinzelt jedoch zu scheinbar unbegreiflichen Gewaltausbrüchen führt. Das macht das Unbehagen in der Kultur aus. Und da draußen lauert der Dschungel, wo die Gewalt alltäglich und handgemacht ist. Die zivilisierte Welt reagiert einerseits mit Schreckstarre, mit Appeasement, mit Verständnis, andererseits mit kalter, aggressionsfreier Bürokratie, mit Drohnen oder sonstigen Maßnahmen, die, je entfernter, kontakt- und gesichtsloser sie sind, als umso moralisch akzeptabler gelten. Andererseits zieht es Tausende von Wohlstandskindern dahin, sich den Barbaren hinzuzugesellen und selbst Hand anzulegen, auf welcher Seite auch immer. Ein ungläubiges Kind zu erschießen, ist barbarisch. Die Bombardierung eines Kindergartens als Kollateralschaden einer „Friedensmission“ ist zivilisiert, ist der Preis für die Durchsetzung des Friedens und des Rechts. Im Kampf gegen den Terror sind dann aber mehr Opfer zu beklagen, als der Terror in der Lage ist, selber zu erzeugen (siehe Teil 13 dieser Serie).

Dies sind schlechte Aussichten für den Frieden. Er enthält in dialektischer Manier den Krieg in sich. Den formalen politischen Bedingungen des Friedens, wie man sie entweder nach Immanuel Kant (Teil 1 dieser Serie) oder nach Ludwig von Mises (Teil 2 dieser Serie) statuieren kann, ist noch eine psychologische Bedingung hinzuzufügen. Nach Kant sind die Bedingungen des Friedens die Anerkennung der faktischen Staatsgrenzen und die Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten eines anderes Staats; nach Mises ist es die Gewährung des Sezessionsrechts. Aber was ist, wenn die Menschen den Krieg als Ventil für unterdrückte Bedürfnisse, als Ausbruch aus der Zwangsjacke der Zivilisation wollen, wenn sie ihn mehr unbewusst als bewusst ersehnen? Dann nützen die genannten Bedingungen gar nichts, die Menschen werden Anlässe finden, um in den Krieg zu ziehen, sie werden sich Führern anschließen, die ihnen den Krieg als ultimativen kollektiven Orgasmus versprechen, verbunden mit der Propaganda, nun überhaupt nicht egoistisch an individueller Befriedigung interessiert zu sein, sondern ausschließlich im altruistischen Interesse des Volks, der Nation, der Natur, der Welt zu handeln. Dafür muss sich jedes Opfer lohnen.

In der nächsten Woche präsentiere ich eine Fortführung und Modifikation der Lehre Freuds durch den amerikanischen Anarchisten Paul Goodman (1911–1972), die sich ausdrücklich als eine aufgeklärt-pazifistische Perspektive präsentiert.


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