11. Juli 2025 06:00

Krieg und Frieden – Teil 21 Kolonialisten und andere Massenmörder als Weltretter

Zweiter Weltkrieg als Werk des Pazifismus?

von Stefan Blankertz drucken

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Bildquelle: Everett Collection / Shutterstock Offizieller Beginn des Zweiten Weltkriegs: Überfall der deutschen Wehrmacht auf Polen am 1. September 1939

Der Zweite Weltkrieg gilt als das Paradebeispiel des gerechten Kriegs, der Notwendigkeit, zum Krieg bereit zu sein. Gut gegen Böse. Basta. Keine Diskussion möglich.

Oder doch? Eine Diskussion sollte möglich sein. Dass die sogenannten Achsenmächte – Deutschland in den Händen der Nationalsozialisten, Italien in denen der Faschisten und das imperialistische Kaiserreich Japan – das Böse darstellen, steht fest. Aber sind ihre Gegner, die Alliierten, die Guten? Oder allgemeiner gefragt: Sind die Gegner der Bösen automatisch die Guten? Man spricht über die Alliierten als die Bewahrer von Frieden, Freiheit und Demokratie. England, USA und Sowjetunion. Schon bei der Sowjetunion bleibt einem da das Lachen im Halse stecken. Zweifellos ist die seit dem 23. August 1939 mit Nazi-Deutschland verbündete Sowjetunion am 22. Juni 1941 von Nazi-Deutschland überfallen worden und insofern Opfer. Aber die Verbrechen, die die Sowjetunion gegen die eigenen und fremde Völker begangen hat, sind gigantisch. Auch ohne sie gegen die Nazi-Verbrechen aufwiegen zu wollen – wie soll man Verbrechen in diesem Ausmaß gegeneinander aufwiegen können? –, verbieten sie die Kennzeichnung als die gute Seite. Von Freiheit und Demokratie ganz zu schweigen.

Aber auch England war nicht die beschauliche Insel mit verschrobenen Eigenbrötlern, die Demokratie und Freihandel erfunden haben und gegen die Nazis verteidigen wollten. Es handelte sich um das British Empire mit Kolonien in Afrika und Asien, in denen das Empire Verbrechen ebenfalls gigantischen Ausmaßes beging. In den Kolonien herrschten weder Freiheit noch Demokratie, weder Freihandel noch Frieden.

Und schließlich die USA. Die Bevölkerung und viele wichtige Politiker waren nach dem Ersten Weltkrieg nicht bereit, in einem neuen europäischen Krieg die entscheidende Rolle einzunehmen (siehe Teil 20 dieser Serie). Erst der Überfall Japans am 7. Dezember 1941 auf die in Pearl Harbor vor Anker liegende Pazifikflotte der USA brachte den Umschwung, zumal Deutschland aus Solidarität mit Japan den USA nun den Krieg erklärte. Ganz unabhängig von der Frage, ob, wie viel und wann die Regierung der USA über den Angriff informiert war und diese Information eventuell zurückgehalten hat, um die Kriegsbereitschaft der Bevölkerung hervorzurufen, hat Japan ihn als Überraschungsschlag intendiert. Es war insofern ein klarer aggressiver Akt, ein Kriegsverbrechen. Einerseits. Andererseits fragten amerikanische Gegner des Kriegs: Was hatten wir in Pearl Harbor verloren? Die USA schickten sich seit Beginn des 20. Jahrhunderts an, eine neue Art Imperialismus nach dem Kolonialismus zu betreiben: Die USA sollten der Weltpolizist im eigenen Interesse werden. Die Politik rund um den Globus wurde als amerikanische Innenpolitik definiert. Die USA sollten das Recht haben, überall einzugreifen und für eine ihnen genehme Ordnung zu sorgen. Das Bild vom Krieg Gut gegen Böse beginnt, ins Wanken zu geraten. Die böse Seite stand einer Seite gegenüber, die aus einer Koalition von ebenbürtigen Bösen, fast so Bösen und Bösen in den Startlöchern bestand.

Am 15. Juni 1983 sagte Heiner Geißler, damals CDU-Generalsekretär und Bundesfamilienminister, im Bundestag während einer Debatte mit den Grünen, damals noch eine pazifistische Partei, der Pazifismus der 1930er Jahre habe Auschwitz erst möglich gemacht. Im Parlament brach Tumult aus und es hagelte Kritik. Geißler wies die Kritik zurück. Mit seiner Bemerkung habe er nicht den Pazifismus des KZ-Häftlings Carl von Ossietzky (1889–1938) gemeint, sondern die pazifistischen Strömungen in Frankreich und England, die eine Appeasement-Politik gegenüber den Nazis begünstigt hätten. Diese Beschwichtigungspolitik habe Hitler dazu ermutigt, andere Länder zu überfallen und seine rassistische Politik bis zum Massenmord auszutoben. Der Friedensaktivist Stefan Philipp erklärte eine solche Argumentation für infam und betonte, Auschwitz habe komplett und nur in der Verantwortung der Deutschen gelegen.

Die Erklärung von Stefan Philipp ist ihrerseits kaum stichhaltig. Das Böse kann sich nach landläufiger Meinung nur entfalten, insofern ihm kein Widerstand entgegengesetzt wird. Selbstredend lag Auschwitz im alleinigen Verantwortungsbereich des deutschen Staats. Dennoch lautet eine berechtigte Frage, ob und in welcher Weise der Holocaust hätte verhindert werden können. Und tatsächlich gab es in England und in Frankreich ebenso wie in den USA starke politische Kräfte, die auf jeden Fall einem neuen paneuropäischen Krieg ausweichen wollten. Die nachgiebige Haltung Nazi-Deutschland gegenüber wurde begünstigt durch das schlechte Gewissen der Sieger im Ersten Weltkrieg, dass der Versailler Vertrag für Deutschland eine Demütigung dargestellt hat und es eine gewisse Berechtigung gab, ihn korrigieren zu wollen.

Halten wir fest: Man kann Nachgiebigkeit dem Bösen gegenüber als Mitgrund dafür anführen, dass das Böse sich ausbreitet, obwohl Jesus dazu aufforderte, dem Bösen gerade keinen Widerstand entgegenzusetzen (Bergpredigt, Matthäus 5:39). Ein Politiker, der für eine Partei spricht, die sich christlich nennt, sollte daran zumindest einen Gedanken verschwenden und uns erklären, wie beides zusammenpasst.

Aber ist die Kennzeichnung des Pazifismus als „Nachgiebigkeit“ oder als Haltung, die dem Bösen keinen Widerstand entgegensetze, richtig? Das wäre eine Verkürzung des Pazifismus. Der Pazifismus kann durchaus kämpferisch sein. Die Mittel seiner Wahl zu diesem Kampf sind freilich nicht Schusswaffen und Bomben.

Gehen wir nun zum Gegenangriff über. Denn was das Geißler-Statement offenlässt, ist die Frage, zu welchem Zeitpunkt und mit welchen Mitteln England und Frankreich vor dem Herbst 1939 gegen Nazi-Deutschland hätten vorgehen sollen und können, wenn nicht Pazifisten die beiden Staaten daran gehindert hätten (dabei lasse ich offen, ob es tatsächlich Pazifisten in diesen Ländern gewesen waren, die deren Politik bestimmten). Übrigens ein Zeitpunkt, zu dem zwar Juden und andere ethnische, religiöse und politische Missliebige verfolgt und getötet wurden, der Horror des Holocausts aber noch nicht eingetreten war. Dagegen hatte in der Sowjetunion der Holodomor bereits stattgefunden, ebenso wie Massenerschießungen, Deportationen in Lager und Zwangsumsiedlungen an der Tagesordnung waren, ohne dass jemand daran dachte, dort einzugreifen.

Nach meiner Übersicht hat niemand versucht, die Frage zu beantworten, zu welchem Zeitpunkt und mit welchen Mitteln England und Frankreich bei entsprechender Stimmung in der Bevölkerung Nazi-Deutschland hätten stoppen sollen und können. Diese Zurückhaltung hängt überhaupt nicht am Pazifismus, sondern am Völkerrecht und an der von Immanuel Kant formulierten unbestreitbaren Bedingung des Friedens, die eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines anderen Staats verbietet (siehe Folge 1 dieser Serie).

Vermutlich hätte ein Angriff auf Deutschland 1933 für England und Frankreich, wenn sie entsprechend gerüstet gewesen wären, zu einem schnellen Sieg geführt, denn Deutschland war zu diesem Zeitpunkt eben noch nicht für einen Krieg ausgestattet. Aber nach welchem Prinzip hätte ein solcher Angriff durchgeführt werden können? Das Prinzip müsste lauten: Sobald im Nachbarland etwas geschieht, was mir nicht passt, darf ich intervenieren. Es ist ganz klar, dass dieses Prinzip zu einem sofortigen allseitigen Krieg führen würde.

Mit dem gleichen Prinzip, nämlich immer dann kriegerisch intervenieren zu dürfen, wenn einem in einem Nachbarland etwas nicht passt, könnte man argumentieren, eine Intervention von westlich-demokratischen Staaten oder eben Kolonialreichen in Russland nach der Oktoberrevolution 1917 hätte die Verbrechen des Stalinismus verhindern können. Sicherlich waren diese Staaten gegen Ende des Ersten Weltkriegs ziemlich ausgepowert, aber das war Russland auch. Vor allem mit der Unterstützung der USA hätten sie in Russland vielleicht obsiegen können.

Oder nicht? Diese Frage erinnert noch einmal daran, dass es nicht nur darum geht, ob der Plan einer Intervention moralisch gerechtfertigt, sondern auch, ob er militärisch zu gewinnen sei. Moral allein bewirkt gar nichts. Man wird, so man bei Sinnen ist, keine Macht der Welt angreifen, gegen die man zu schwach ist, und sei diese Macht so böse, wie sie will. Wer für moralisch gerechtfertigte Waffengänge gerüstet sein will, der muss sich so lange hochrüsten, bis er der stärksten irdischen Macht gewachsen ist. Auf dem Weg dorthin wird er jede Menge Unrecht tun müssen. Dann dort angelangt, wird er sich an die ursprünglichen moralischen Prinzipien noch erinnern? Tritt er in den Krieg für das Gute ein, wird er dann, wenn das Böse laut dem Argument von Carl von Clausewitz (Teil 3 dieser Serie) bereit ist, für den Sieg jede Gräueltat zu begehen, sich zurückhalten, seinerseits die gleiche Gewalt unter Missachtung der Moral einzusetzen? Und wenn er die Moral achtet und deswegen schließlich unterliegt, wofür dann all die Opfer auf dem Weg?

Wer im Paradigma des Kriegs verbleibt, kann die Moral vergessen.


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