Libertärer Autoritarismus? Teil 3: Unterstellte Theorielosigkeit
Das Milieu der Libertären
von Stefan Blankertz
In dem Buch „Gekränkte Freiheit: Aspekte des libertären Autoritarismus“ von Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey verwenden sie das Adjektiv „libertär“ für das durch sie beschriebene Milieu des Protests gegen Freiheitseinschränkungen. Wenn ich ihnen nicht unterstellen will, sie hätten den Begriff ausgewürfelt, muss ich davon ausgehen, dass sie sich dabei etwas gedacht haben. So haben sie sich offenbar bewusst dagegen entschieden, dieses Milieu mit den gegenwärtig üblichen Worten wie „rechts“, „neue Rechte“ oder „Querdenker“ zu bezeichnen. Ich habe in den vorangegangenen Teilen dargestellt, inwiefern die Autoren die Bezeichnung „rechts“ im Sinne von Orientierung an Führerprinzip und Nationalismus für unzutreffend halten; dies begründen und belegen sie ausführlich. Ihre Entscheidung, das Adjektiv „libertär“ pars pro toto zu verwenden, begründen sie nicht. Pars pro toto, weil ein Teil des von ihnen beschriebenen Milieus sich sicherlich selber „libertär“ nennt, anderen Teilen aber der Begriff unbekannt ist oder sie ihn sogar ablehnen.
Der Libertarismus ist eine Denkrichtung mit vielerlei Ansätzen und Denkern, aber es kommt überhaupt nur einer dieser Denker in dem Buch vor. Dies entspricht der Strategie der Autoren, die Positionen innerhalb des Protestmilieus als diskursunfähig und -unwürdig abzustempeln. Eine inhaltliche Auseinandersetzung findet nicht statt; an die Stelle der inhaltlichen Auseinandersetzung tritt eine psychologisierende Analyse des Milieus.
Der einzige explizit libertäre Denker, der in dem Buch „Gekränkte Freiheit“ (negativ) genannt wird, ist Robert Nozick (1938–2002). Dieser spielt freilich, soweit ich sehen kann, keine große Rolle mehr in diesem Milieu, in Deutschland schon gar nicht, aber auch nicht mehr in den USA oder sonst wo. Dies ist keine Aussage darüber, ob seine Theorie diskussionswürdig und -fähig ist, doch erscheint es mir merkwürdig, dass er herangezogen wird, wenn es darum geht, den Geist dieses Milieus zu beschreiben. Vor allem ist Nozick jemand, der zwar einerseits den libertären Grundsatz des Freiheitsrechts der Menschen auf eine selbstgeschaffene und selbstbestimmte Sozialität hochhält, andererseits richtete sich sein einziges explizit libertäres Buch „Anarchie, Staat und Utopie“ (1974) gegen radikale libertäre Ansätze, die davon ausgehen, dass die menschliche Gesellschaft ganz ohne Staatsgewalt auskomme. Diese radikalen Ansätze wollte Nozick widerlegen und lieferte dazu eine Legitimation staatlicher Herrschaft. Insofern ist er geradezu ein untypisches Beispiel für libertäres Denken, markiert aber vermutlich die äußerste Position, die Amlinger und Nachtwey überhaupt in der Lage sind zu rezipieren. Da also Libertäre in ihrem Buch nicht vorkommen, könnte man als Libertärer das Buch beruhigt zusammenklappten und seufzen: „Wie gut, ich bin nicht gemeint.“ Leider ist es so einfach nicht.
Das Adjektiv „libertär“ ist in Europa seit Mitte des 19. Jahrhunderts in Gebrauch. Es wurde von Anarchisten, Kommunisten und Sozialisten verwendet, die sich mit ihm von autoritären (staats-) kommunistischen und (staats-) sozialistischen Richtungen sowie von Terroristen, die mitunter ebenfalls den Begriff „Anarchismus“ für sich nutzten, abgrenzten. In den USA erhielt der Begriff im sozialrevolutionären Milieu Einzug durch französische Emigranten. Seit dem beginnenden 20. Jahrhundert verwandten den Begriff solche radikalen Liberalen in der Tradition Thomas Jeffersons, für die „Liberalismus“ inzwischen zu sehr mit dem Akzeptieren des Zentralstaats verbunden war.
Die moderne Bewegung des Libertarianism – eingedeutscht Libertarismus – wurde von dem Ökonomen Murray Rothbard (1926–1995) Mitte der 1960er Jahre begründet. Aus der alten amerikanischen Rechten (die anders als die europäische Rechte antiautoritär und antimilitaristisch war) kommend, entschied Rothbard sich bewusst für einen eher links konnotierten Begriff: Sein Projekt bestand darin, die alte amerikanische Rechte – im politischen Establishment mittlerweile durch eine neue staatsverliebte Rechte ersetzt – mit den Teilen der Neuen Linken zu verbinden, die sich dem Trend zu Staatssozialismus und Staatskommunismus verweigerten. Der Inhalt dieses antiautoritären libertären Bündnisses war genau das, was Amlinger und Nachtwey als die Haltung des Protestmilieus beschreiben, nämlich sich der Überwältigung und Bevormundung durch staatliche und staatsnahe Strukturen zu widersetzen.
Amlinger und Nachtwey fassen ihre Ablehnung des libertären Gedankens wie folgt zusammen: „Bei Nozick begegnet uns ein atomares, gleichzeitig unbeschränktes Individuum, das auf (fast) nichts und niemand Rücksicht nimmt außer auf sich selbst“. Dabei zitieren sie als beispielhafte Aussage Nozicks: „Friedliche Menschen, die sich nur um ihre Angelegenheiten kümmern, verletzen keine Rechte anderer“ (Seite 89).
Die beiden Autoren lehnen es konsequent ab, zwischen erzwungener und freiwilliger Gesellschaft zu unterscheiden, oder anders: Sie können sich eine Gesellschaft nicht anders vorstellen, als dass sie durch (Staats-) Gewalt erzwungen wird. Nozick zählt auch bekannte Sozialisten und Kommunisten unter den Menschen auf, für die er sich wünscht, dass sie frei sein mögen, ihre eigenen Gemeinschaften nach den von ihnen gewählten Regeln zu organisieren. Die einzige Voraussetzung für die Umsetzung jeglicher Idee sei es, dass die Umsetzung nur Personen betreffe, die der Idee freiwillig zustimmten. Sollte es denn so sein, dass Sozialisten, Kommunisten, Kapitalisten, Faschisten, religiöse Bekenntnisse und so weiter berechtigt sind, ihre Ideen anderen Menschen mit (Staats-) Gewalt aufzunötigen? Anders gefragt: Sind die „friedlichen Menschen“, die Nozick sich wünscht, unfähig, eine Gemeinschaft zu bilden, bleiben sie „atomar“? Ich überlege zudem, inwiefern „friedliche Menschen“ dazu tendieren könnten, „rücksichtslos“ zu sein. Denn Rücksichtslosigkeit ist genau der Vorwurf, den die Autoren dem „unbeschränkten Individuum“ im Sinne Nozicks machen. Zumindest müssten die Autoren zugestehen, dass dieses „unbeschränkte Individuum“, sofern es friedlich ist, Rücksicht nimmt auf Mitmenschen, die andere Ansichten, andere Ideen, andere Lebensgewohnheiten, andere Meinungen, andere Religionen haben, indem es sie in Ruhe ihrer Wege ziehen lässt. Der „friedliche Mensch“ ist das Gegenteil des „unbeschränkten Individuums“; er ist absolut beschränkt auf das, was er mit freiwilliger Kooperation zu erreichen in der Lage ist.
Die Koppelung dieses friedlichen (libertären) Menschen mit einem autoritären Charakter, die die Autoren als ihr zentrales Anliegen vornehmen, stellt in der Tat einen rhetorischen Trick dar. Der friedliche Mensch sei, so sollen die Leser schließen, autoritär, rücksichtslos, gesellschaftsschädlich, stifte Unfrieden und Unfreiheit. Aber was wäre dann der von den Autoren empfohlene Charakter? Könnte von einem unfriedlichen Menschen erwartet werden, dass er voller Rücksicht gegenüber den Mitmenschen ist, dass er den besten Kumpel aller Zeiten gibt und eine wundervoll harmonische oder meinetwegen auch demokratische Gemeinschaft begründet?
Natürlich bekennt sich niemand offen zu Unfrieden als dem gesellschaftlich erstrebten Zustand oder zu Gewalttätigkeit als einem erwünschten Charakter. Anstelle dessen wird das Ansinnen verklausuliert. Der „moderne Staat“, gegen den die libertären Autoritären den Autoren zufolge ihren Zorn richten, sei „kein Klassenstaat bismarckscher Prägung mehr“, sondern „ein Instrument zur Durchsetzung sozialer Fortschritte“ (Seite 342). Ein Klassenstaat wäre demnach schlecht. Inwiefern ein Staat überhaupt ein Nichtklassenstaat sein könne, das lasse ich einmal dahingestellt; jedenfalls können die Autoren eine solche Möglichkeit nicht aus den Theorien von Karl Marx oder Theodor W. Adorno ableiten, auf die sich vor allem stützen. Aber sei’s drum – sie behaupten einfach, der „moderne Staat“ (also muss die Moderne nach Bismarck begonnen haben, was auch eine bemerkenswerte historische Verortung ist) sei kein Klassenstaat (mehr). Statt die Interessen einer Klasse setze er, wenn wir den Autoren weiter folgen, nun soziale Fortschritte durch.
Soziale Fortschritte, das hört sich gut an. Wer kann gegen sozialen Fortschritt sein? Doch konfrontieren wir diese Aussage mit der von den Autoren ausgedrückten Missbilligung des Nozick’schen friedlichen Menschen. Der soziale Fortschritt, der mit Staatsgewalt durchgesetzt wird, kann sich nur gegen die friedlichen Menschen richten, die andere Ideen vertreten als jene, die gerade von der Staatsgewalt als sozialer Fortschritt definiert werden. Es handelt sich demnach um gesellschaftliche Entwicklungen, die mit Freiwilligkeit inkompatibel sind, sondern stattdessen Gewalt benötigen, um gegen Widerstand durchgesetzt zu werden. Schöne neue Welt. Volle Kraft voraus und zurück zu 1984.
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