Zeitgeschichte: Januargedanken
Eine Ideenkollage
von Carlos A. Gebauer (Pausiert)
von Carlos A. Gebauer (Pausiert) drucken
Ein entscheidender Konstruktionsmangel der „westlichen“ Republiken des gegenwärtigen Zuschnitts ist es möglicherweise, dem Gesetzgeber im Rahmen des demokratischen Mehrheitsentscheidens eine prinzipielle Allzuständigkeit zuzuordnen, die nur ausnahmsweise – durch Grundrechte – restringiert wird. Das führt psychologisch zu dem dann allgemeinen Bestätigungsfehler, anstelle des potenziellen eigenen Überstimmtwerdens das mögliche eigene Mitbestimmen in den Vordergrund zu stellen. Dass Mitbestimmung aber immer auch fehlende Selbstbestimmung impliziert, ist den wenigsten bei der Wahl klar. Wahlkämpfe sind daher augenscheinlich immer darauf ausgerichtet, eigene Mehrheiten zur Durchsetzung des eigenen Willens zu erringen, statt vordringlich Mehrheiten zu verhindern, denen im Ergebnis möglich wird, Unterdrückungsregeln zulasten unterlegener Minderheiten zu implementieren. In einer gesunden Republik mit freiheitlich-demokratischer Ausrichtung sind legitime, akzeptierte Einschränkungen von Grundrechten eine (seltene, dann aber auch dezidiert begründete) Ausnahme, deren prinzipielle Ratio selbst den im konkreten Einzelfall Unterlegenen als treffende Erwägung überzeugt. Kippt das System aber dahin, dass die erfolgreiche Verteidigung eines Grundrechtes gegen demokratische Mehrheitsgewalten nur noch die Ausnahme bildet, steht nicht nur die individuelle Freiheit als Lebensideal der Bürger infrage, sondern auch das republikanische Prinzip der Volksherrschaft an sich. Denn es ist denknotwenig ausgeschlossen, ein „Gemeinwohl“ zu schaffen, wenn den akkumulierten Individuen, aus denen die Gemeinschaft konstituiert ist, nicht mehr je einzeln wohl ist. Aus alledem folgt, dass die beste Republik sich nicht durch ihre Taten, sondern durch ihre Unterlassungen auszeichnet. Das Ideal ist also ein Staat, in dem sich individuelle und gesellschaftliche Kräfte maximal zugunsten aller Beteiligten entfalten und verwirklichen können. Staatliches Handeln ist folglich dort nur dann und insoweit legitim, als es störendes Tun der Bürger untereinander verhindert. Überschreitet der Staat die Grenze zum aktiven Gestalten der Wirklichkeit, indem er selbst handelt, statt das intervenierende Stören der Bürger zu unterlassen, verlässt er unausweichlich den Boden der Republik. Seine Vertreter agieren dann nicht mehr für die res publica, sondern jetzt nach ihren eigenen Ideen und zu ihren eigenen Gunsten. Dieser Zusammenhang ist von vielen, die sich für Demokraten halten, schwer zu akzeptieren, hat sich aber durch die Empirie aller eskalierenden Interventionsstaaten wohl als a priori zutreffend erwiesen.
Entscheidend ist im Gegensatz zu nüchterner Rationalität heute wohl eher, daran zu glauben, dass wir mit windradgetriebenen Elektroautos turnusmäßig zu unseren Impfterminen fahren werden, um globale Pandemien zu besiegen. Entscheidend ist, daran zu glauben, dass wir mit solarstrombetriebenen Wärmepumpen in unseren Häusern sitzen werden und in 15-Minuten-Stadtgehegen glücklich sein können. Entscheidend ist, dass wir glauben, von künstlicher Intelligenz geführt werden zu können und damit diskriminierungsfrei die badly social gescorten MitbürgerAußen zum Allgemeinwohl nudgen zu dürfen. Entscheidend ist, intelligenzneutral ressourcenschonend grüne Nachhaltigkeit zu verwirklichen, indem wir Moleküle durch Maskentragen zum Stillstand bringen. Entscheidend ist, unverpackte Gebrauchtlebensmittel zur Speiseölrückgewinnung in den Nährstoffkreislauf zurückzuführen, um dadurch ökologische Brillanzzertifikate zu erwerben. Entscheidend ist, bargeldlos mit dem Handy den Lieferservice zu bezahlen, der mit dem Lastenfahrrad Medikamente vom Flohmarkt über die Umweltspur anliefert. Entscheidend ist, digitales Fiatgeld für bare Münze zu nehmen, wenn das bedingungslose Grundeinkommen auf das virtuelle Konto gebucht wird. Entscheidend ist, nicht mit zwei Freunden auf dem Elektroroller unter der Surveillancekamera herumzufahren. Entscheidend ist, den digitalen Impfausweis präsentieren zu können, wenn der Rundfunkbeitragsservice Kontrollen durchführt. Entscheidend ist, nicht herumzuschwurbeln, es gäbe ein WEF, eine WHO oder einen grünen Wirtschaftsminister. Daher denkt man heute zu Silvester lieber an die Tiere, böllert nicht und investiert das gesparte Geld lieber in Waffenlieferungen für befreundete Nationen. Nur ein smarter Stromzähler ist offenbar noch ein guter Stromzähler. Auch dann, wenn das, was dann fließt, im Wesentlichen Geld ist.
Dass der Qualm, der aus einem Kraftwerk aufsteigt, eine Ursache des Stroms ist, der aus der Steckdose fließt, erfordert einen Gedankengang, mit dem viele schlicht – wohlstandsverwahrlost – überfordert sind. Sie glauben, ihr Abwassersystem funktioniere seit jeher naturgegeben und stehe in keinem Zusammenhang mit der Bezahlung von Kanalarbeitern, denen bald der Anreiz zum Hinabsteigen in die Dunkelheit durch bedingungslose Einkommen genommen werden wird. Zivilisationen kollabieren, wenn ihren Angehörigen der Sinn für die Voraussetzungen ihres Bestandes abhandenkommt. Sie gleichen insoweit einem Handwerksbetrieb, der seinen zentralen Arbeiter entlässt. Irgendwo in den Tiefen des Netzes sah ich vor einiger Zeit das Bild eines Kampfflugzeuges, das im Kugelhagel durchsiebt worden, aber wohl dennoch gelandet war; der Text dazu erläuterte, man habe sich an solchen Schadenbildern orientiert, um Flugzeuge stabiler zu konstruieren. Ähnlich scheint mir derzeit der Zustand unserer mitteleuropäischen Kultur: Wir testen nicht mehr nur die „Belastbarkeit der Wirtschaft“ wie die Sozialingenieure der 1970er, sondern wir beobachten, wie viele tragende Wände unserer Gemeinwesen abgerissen werden können, bevor die gesamte Statik kollabiert. Die hohe Resilienz der freiheitlichen Marktwirtschaft hat nun über mehrere Jahrzehnte die wildesten Sozialexperiment abgefedert und aufgefangen. Irgendwann aber kommt auch diese Kraft an ihr Ende. Man sagt, Sportwagen seien durch pfiffige Software sicherer geworden, was das Risiko minimierte, aus der Kurve getragen zu werden. Im Effekt aber hat genau das manchen Rennfahrer in den Graben befördert. Physik ist nämlich nicht verhandelbar. Was zu viel ist, ist zu viel. Immerhin bleibt eines wundersam: Welche Millionenscharen sollten langfristig noch zur Schließung der demographischen Lücke in ein Land einreisen wollen, dessen kollabierende Infrastruktur sich nicht vor Blackouts und Versorgungsmängeln schützen kann?
Die Verwaltung Deutschlands ist insgesamt in argem Zustand und die „Corona-Politik“ hat jedenfalls der Bundesrepublik die schwerwiegendsten rechtlichen Tabubrüche ihrer Geschichte gebracht. Die freiheitlich-demokratische Grundordnung ist an mehreren Stellen nachhaltig geschädigt worden. Dogmen wie das verfassungsrechtliche Verbot einer gemeinsamen dritten Entscheidungsebene aus Bund und Ländern wurden gestürzt, das Prinzip der aufgeklärten Einwilligung (das über Jahrzehnte nicht nur innerstaatlich, sondern insbesondere auch in internationalen Verträgen als unantastbar ausgestaltet worden war) wurde gegenstandslos. Statt individueller medizinischer Behandlung auf der Basis von Wissen wurden One-size-fits-all-Maßnahmen auf der Grundlage von Vermutungen ergriffen. Sollten sich die erstaunlichen Ereignisse dieses Zeitabschnitts wiederholen, muss man demnach für möglich erachten, dass auch künftig nicht approbierte Menschen bedingt zugelassene Stoffe, deren Hersteller von aller Haftungsverantwortung für ihr Produkt freigestellt sind, an Patienten verabreichen, die nicht individuell nach Anamnese und Diagnose risikoadjustiert aufgeklärt wurden und die ihren Beruf, ihren Betrieb und ihre gesamte wirtschaftliche Existenz verlieren, wenn sie sich nicht behandeln lassen. Die körperliche Integrität jedes Einzelnen ist durch diese Politik zum Mittel gemacht worden, um den Versuch zu unternehmen, andere zu schützen und die Funktionsweise von Institutionen aufrechtzuerhalten. Nach der bisher einhelligen Rechtsauffassung dieses Landes war eine solche Mittel-Zweck-Relation die unantastbare und unüberschreitbare Verbotsgrenze für staatliches Handeln. Im Ergebnis hat Angst unsere gelebte Verfassungsrealität geändert, ohne dass der Verfassungstext geändert wurde. Wer diese Umwälzung verkennt, darf sich nicht wundern, wenn auch seine diesmal noch verschonten Menschen- und Bürgerrechte in künftigen Angstwellen versinken.
Statt Probleme zu lösen, stürzt sich die Führungsklasse der Republik in entbehrliche Debatten. Sarkastisch gebe ich zu Protokoll: Es spricht alles – wirklich alles – dafür, den Namen „Stiftung Preußischer Kulturbesitz“ aufzugeben. Ich selbst fühle mich schon von dem Wort „Stift“ beleidigt. Und bedroht. Dass dahinter die Assoziation einer rücksichtslosen Männermachtphantasie steht, ist für jeden, der sich nicht selbst etwas vormacht, offensichtlich. Aber es bleibt nicht einmal bei dem sexualisiert aufgeladenen „Stift“; er wird auch noch zur „Stiftung“ überdehnt, was jenseits allen Zweifels zusätzliche institutionelle Beständigkeit suggerieren soll. Kurz: Die „Stiftung“ muss weg! Dasselbe gilt für „Preußen“. Preußen gibt es nicht mehr. Der preußische Militarismus ist tot. Kein Mensch kommt heute noch auf die Idee, politische Entscheidungen Deutschlands in Berlin zentralisieren zu wollen. Der architektonische Gigantismus der Preußen ist ein für alle Mal überwunden. In Berlin werden keine großmannssüchtigen Paläste mehr gebaut. Die wilhelminischen Träume von deutscher Militärmacht sind Geschichte. Preußen ist überwunden, also kann auch nichts mehr „preußisch“ sein. Erst recht kein „Kulturbesitz“. Allein die Idee, irgendwer könne Kultur besitzen, indiziert letztlich nur eine reaktionäre Eigentumsgier. Niemand sollte noch irgendetwas besitzen. Je weniger man hat, desto reicher ist man letztlich. So wie es Deutschland derzeit der ganzen Welt energiepolitisch vorführt, muss es auch im Kulturellen werden: Versorgungssicherheit setzt voraus, dass Versorgung unmöglich wird. Kultur gedeiht nur dort, wo sie nicht mehr ist. Im nirwanagleichen Erlöschen beweist sich der menschheitsgeschichtliche Fortschritt am besten. Analog zu den überwundenen preußischen Prinzen schlage ich vor, den Laden umzubenennen in: „The Institution formerly known as Stiftung Preußischer Kulturbesitz“. Dialektik kann mit ihren Aufhebungsmechanismen so einfach sein. Hegel wäre begeistert. Beweltgeistert.
Kommentare
Die Kommentarfunktion (lesen und schreiben) steht exklusiv nur registrierten Benutzern zur Verfügung.
Wenn Sie bereits ein Benutzerkonto haben, melden Sie sich bitte an. Wenn Sie noch kein Benutzerkonto haben, können Sie sich mit dem Registrierungsformular ein kostenloses Konto erstellen.