Vereinigte Staaten: „Lasst sie zu den Waffen greifen“
Es geht nicht nur um Selbstverteidigung
Was würden Sie tun, wenn ein Fremder ihr Kind vor Ihren Augen entführte? Als gesetzestreuer deutscher Staatsbürger kann die Antwort hier eigentlich nur lauten: die Polizei rufen und beten, dass das Kind unversehrt wieder auftaucht. Im Beten kennen sich auch die Amerikaner gut aus. Allerdings geht das Vertrauen in staatliche Institutionen jenseits des Atlantiks nicht weit genug, sich im Ernstfall auf die Polizei zu verlassen.
Shay Lindberg ist eine Mutter aus Des Moines, der Hauptstadt des Bundesstaates Iowa, der am 5. Januar beinahe mit das Schlimmste widerfahren wäre, was einer Mutter passieren kann. Zwei mehrfach vorbestrafte Kriminelle, eine Frau und ein Mann, packten ihren Sohn vor einem Apartmentkomplex im Herzen Des Moines und versuchten, mit dem Kind zu fliehen. Doch die beiden Täter, Laurie Potter und Michael Ross, hatten sich die falsche Mutter für ihr Verbrechen ausgesucht.
Lindberg zog ihre Waffe. Die beiden Täter ließen das Kind los und suchten das Weite. Später wurden sie festgenommen. Auch die Polizei musste einräumen, dass die Schusswaffe in dieser Situation den Unterschied machte. „Das Zeigen der Waffe hatte in diesem Fall den erwünschten Effekt, und eine Mutter konnte so ihr Kind verteidigen“, sagte der Sprecher der Polizei von Des Moines, Paul Parizek. Der Vorfall sende „eine starke Botschaft an Kriminelle. Das Risiko, bei der Begehung eines Verbrechens schwer verletzt oder gar getötet zu werden, ist sehr real.“
Ein Risiko, das Kindesentführer, Einbrecher und andere Kriminelle in Deutschland nicht verspüren dürften. Wenn man sich nicht gerade einen Jäger oder Sportschützen als Opfer aussucht, ist die Wahrscheinlichkeit, als Einbrecher in den Lauf einer Waffe zu blicken, eher gering. Und selbst Jäger und Sportschützen werden, zumindest wenn sie sich an die staatlichen Aufbewahrungsvorschriften für Schusswaffen halten, einem potenziellen Einbrecher kaum gefährlich. Der Weg zum Safe, in dem die Waffen „sicher“ aufbewahrt sind, kann im Ernstfall ein verdammt langer sein.
Privaten Waffenbesitz zu Selbstverteidigungszwecken zu verbieten, ist ein wesentliches Merkmal eines autoritären Staates. Doch beim Recht auf Waffenbesitz in den USA, dem Zweiten Verfassungszusatz, geht es, wenn überhaupt, nur sehr am Rande um Selbstverteidigung. „Da eine wohlgeordnete Miliz für die Sicherheit eines freien Staates notwendig ist, darf das Recht des Volkes, Waffen zu besitzen und zu tragen, nicht beeinträchtigt werden.“
Was die Gründerväter damit meinten, präzisierte Thomas Jefferson. In einem Brief aus dem Jahr 1787, also während seiner Zeit als Botschafter in Frankreich, schrieb der spätere US-Präsident: „Welches Land kann seine Freiheiten bewahren, wenn seine Führer nicht von Zeit zu Zeit gewarnt werden, dass seine Menschen noch den Geist des Widerstands in sich tragen? Lasst sie zu den Waffen greifen!“ Aus demselben Brief stammt übrigens auch Jeffersons berühmtes Zitat, wonach „der Baum der Freiheit“ immer mal wieder mit dem Blut von Tyrannen gewässert werden müsse, das Jefferson einen „natürlichen Dünger“ nannte.
Doch gerade jene autoritären Gestalten, die am kräftigsten am Baum der Freiheit sägen, scheinen die Bedeutung des Zweiten Verfassungszusatzes manchmal besser zu verstehen als so mancher Republikaner-Abgeordnete, der einem beim Besuch seines Kongressbüros stolz seine NRA-Auszeichnungen zeigt. Wer es in der heutigen Zeit mit einer Regierung aufnehmen wolle, brauche keine AR-15, sondern einen F-15 und am besten auch noch Atomwaffen, las US-Präsident Joe Biden zuletzt brav vom Teleprompter ab.
Und liegt damit nicht ganz falsch. Aber auch nicht ganz richtig. Es geht schließlich nicht nur um pure Feuerkraft. Wie viele Polizisten, Soldaten und Nationalgardisten wären am Ende bereit, auf die eigenen Leute zu schießen? Wie viele Ruby Bridges und Wacos könnte sich eine US-Regierung erlauben, bevor die öffentliche Meinung vollends kippt? Und in einem Guerillakrieg gegen das eigene Volk helfen auch keine Atomwaffen.
Allerdings wirft Biden mit seinem Statement eine wichtige Frage auf. Warum sollen Privatleute keinen Kampfjet erwerben dürfen? Oder einen Panzer? Geht irgendjemand ernsthaft davon aus, dass Privatpersonen mit derlei Kriegsgerät mehr Unheil anrichten würden als die Verantwortlichen in Washington und ihre Verbündeten? Wenn ja, dann fragen Sie doch mal ein Kind im Jemen. Oder eine Witwe im Irak.
Atomwaffen auf der anderen Seite sind potenziell so zerstörerisch, dass sie eigentlich in gar niemandes Hände gehören. Wer allerdings glaubt, Bob aus Wyoming könnte sich im Internet mal eben so eine Atombombe bestellen, wenn er nicht fürchten müsste, dass daraufhin morgen das FBI vor seiner Haustür steht, sollte sich mal darüber informieren, was eine Atombombe kostet und welche logistischen Anforderungen damit verbunden sind. Es waren Regierungen, die aus niedersten Motiven heraus Nuklearwaffen in diese Welt gebracht und eingesetzt haben. Und dieselben Regierungen wollen uns erzählen, dass nur die Erschaffer dieses Monsters in der Lage seien, verantwortungsvoll damit umzugehen?
Selbst Bundesrichter, die nicht im Verdacht einer autoritären Gesinnung stehen,
haben dabei mitgeholfen, die Bedeutung des Zweiten Verfassungszusatzes zu
entkernen. Wenn Joe Biden davon faselt, das Zweite Amendment verlange nach
staatlicher Regulierung, kann er sich dabei auf keinen Geringeren als den 2016
verstorbenen Richter am Obersten Gerichtshof, Antonin Scalia, berufen. Scalia,
der mit seiner originalen Interpretation der Verfassung so häufig als
Verteidiger individueller Freiheitsrechte auffiel, schrieb in seiner Begründung
in District of Columbia v. Heller, die aus dem Zweiten Verfassungszusatz
abgeleiteten Rechte seien „nicht grenzenlos“ und gelten nicht für „gefährliche
und ungewöhnliche Waffen“. Das Urteil stelle auch nicht die Rechtmäßigkeit infrage,
ehemaligen Straftätern oder psychisch Kranken den Besitz einer Waffe zu
verbieten (wer psychisch krank ist, entscheidet in Scalias Welt natürlich der
Staat).
Zudem dürfe die Regierung das Tragen von Waffen an „sensiblen Orten“ wie Schulen oder Regierungsgebäuden verbieten. Damit erklärte Scalia sogenannte waffenfreie Zonen an Schulen für mit der US-Verfassung vereinbar. Waffenfreie Zonen, die sich in der Praxis als Todeszonen erwiesen haben. Mehr als 98 Prozent aller Amokläufe ereignen sich in diesen „gun free zones“.
Liest man Scalias Begründung, könnte man meinen, die Aufständischen im Unabhängigkeitskrieg hätten sich den britischen Kanonen mit Steinschleudern entgegengestellt. Einen Unterschied zwischen staatlich erlaubten zivilen und militärischen Waffen macht die Verfassung nicht. Zur Zeit der Gründerväter war es durchaus üblich, dass Privatpersonen Waffen besaßen, die nicht unmittelbar der individuellen Selbstverteidigung dienten, wie etwa Kanonen. Deren Kauf und Besitz waren lediglich eine Frage des Geldes und kamen nur für reiche Leute in Betracht.
Sinn macht das Zweite Amendment nur, wenn Privatpersonen dieselben Waffen besitzen dürfen wie Regierungen. Und über eine Urteilsbegründung wie die von Scalia kann man sich zwar empören, sie kann einen aber auch an die wichtigste Erkenntnis überhaupt erinnern: Individuelle Freiheitsrechte werden einem nicht großzügig von Staaten und deren Verfassungen (so verhältnismäßig liberal sie sich auch lesen mögen) gewährt. Es handelt sich vielmehr um „unveräußerliche Rechte“, mit denen die Menschen „von ihrem Schöpfer ausgestattet“ worden sind, wie Jefferson in der Unabhängigkeitserklärung schreibt, also um Rechte, die der Existenz von Staaten vorausgehen. Und es handelt sich um Rechte, die, und hier irrte Jefferson, selbst im besten Fall nicht durch den Staat verteidigt werden, sondern stets gegen den Staat verteidigt werden müssen.
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