Kultur der späten 1960er und 70er: Münchner Schickeria
Ausschweifender Tanz auf dem Vulkan – die Zeit vor dem Kater
von André F. Lichtschlag (Pausiert)
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Letzte Woche hatte ich an dieser Stelle ein kleines Geheimnis über eine Familientradition verraten. Diese Kolumne ist insofern der zweite Teil, als dass ich mit unserer großen Tochter nach Woodstock „zwischen den Jahren“ noch filmisch und musikalisch in eine etwas andere, nicht allzu entfernt liegende Welt eingetaucht bin.
Hierbei half uns erneut der Streaming-Gigant Amazon, der vor einigen Monaten die selbst produzierte vierteilige Doku-Serie „Schickeria“ veröffentlichte – über die Münchner Partyszene zwischen 1965 und 1985, einer Zeit, so der Untertitel, „als München noch sexy war“.
Ehemalige Szenegrößen wie Iris Berben, Uschi Glas, Thomas Gottschalk und Gloria von Thurn und Taxis, zudem berüchtigte Gestalten wie Rotlicht-Mogul Walter Staudinger erzählen Anekdoten und zeigen viele bunte Originalaufnahmen. Unter anderem mit Freddy Mercury, der damals wie mancher andere internationale Star oder Superstar in München lebte. Jugendmode und Diskomusik etwa „made in Munich“ gehörte zum begehrtesten, nach dem die Jugend weltweit verlangte. Und stets mitten im Gewimmel der Stars und Sternchen, der „Nackerten“ und Berauschten, der Verrückten und Verruchten: Landesvater Franz-Josef Strauß. Zum Wohle! Oder besser: Oans, zwoa, gsuffa.
Das Erfolgsgeheimnis „Mingas“? Wird ausgemacht in der einzigartigen Kombination aus Weltstadt und Dorf. Oder war man schlicht zur richtigen Zeit am richtigen Ort?
Was meine Tochter und ich uns dann gefragt haben: Wo liegen eigentlich heute diese hippen, aufstrebenden Orte der überschießenden Lebensfreude und der kulturellen Eruptionen? Wo wäre das München der 2020er zu finden? Sicher nicht in Deutschland.
Einen Anhaltspunkt, wo man suchen könnte, bietet ein Randaspekt der München-Doku. Die wie auf einem Vulkan tanzende bayrische Landeshauptstadt war inmitten jener Jahre nicht zufällig 1972 und 1974 auch Gastgeber weltsportlicher Mega-Events, nämlich der Olympischen Spiele und des Finales der Fußball-Weltmeisterschaft.
Und heute? Was die Fußball-WM betrifft, hieß München zuletzt Moskau und Katar, demnächst dann USA (Texas?). Die Olympischen Sommerspiele gastierten zuletzt in Peking, London, Rio und Tokio, demnächst finden sie in Paris, Los Angeles und Brisbane (Australien) statt. Vergessen wir dabei mal Paris, das ist ähnlich „hip“ wie Berlin oder Brüssel in diesen Tagen, also ein eher nostalgiegetriebener europäischer Ehrentreffer.
Die anderen Länder und Städte aber liegen alles andere als zufällig weit außerhalb Europas. Texas? Wer denkt da nicht an Austin, wo Elon Musk und Joe Rogan zusammen mit Musikern, High Performern und Studenten ein neues Silicon Valley aus dem Boden rocken? Katar, steht das kulturell nicht auch für die Nächte von Doha, Abu Dhabi und Dubai, für aus der Wüste schießende Glitzerstädte, an denen die Kapitalisten-Ikone Ayn Rand ihre Freude gehabt hätte? Und Tokio und Peking, vielleicht gar Moskau und Brisbane, markieren diese Koordinaten nicht so was wie die erweiterten Eckpunkte von Ostasien, wo die Zukunft liegen könnte?
Noch deutlicher wird die Entwicklung mit Blick auf die Glitzerwelt der Formel 1: Zur Zeit der Münchner Schickeria gab es zwei Rennstrecken in Deutschland, den Nürburg- und den Hockenheimring. Der Rennzirkus ist längst weggezogen nach Bahrein, Abu Dhabi, Dschidda, Baku, Budapest, Singapur und Austin, Texas.
Sicher, rückblickend sind die wilden Jahre in München beileibe nicht nur positiv zu sehen, durch eine eher kulturkonservative Brille schon gar nicht. Was wir bei den Hippies von Woodstock noch nicht so recht erkennen konnten, nämlich die konsequente Wegbereitung zur heutigen Gender- und Trans-Dekadenz etwa, das wird in der Münchner Schickeria der 70er an einigen Stellen schon sehr viel deutlicher. Der von Igor Schafarewitsch meisterhaft analysierte linke Todestrieb ist beim Tanz auf dem Vulkan, nicht zuletzt beim Abfeiern der „Abtreibung“, quasi hautnah zu beobachten.
Und doch bleibt ein beklemmendes Gefühl eher mit Blick auf die Talfahrt danach. Denn abseits aller Kulturkämpfe ist im weltweiten und zeitgeschichtlichen Vergleich doch recht gut erkennbar, ob Gesellschaften sich noch im – am Ende rauschhaften – Aufstieg beziehungsweise beim Genuss am Zenit befinden. Oder im freien Fall.
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