Libertärer Autoritarismus? Teil 4: Im Fadenkreuz: Konsensleugner
Wissenschaft hat immer recht
von Stefan Blankertz
Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey beschreiben in ihrem Bestseller „Gekränkte Freiheit: Aspekte des libertären Autoritarismus“ das Aufbegehren gegen autoritäre Experten als eines der Hauptanliegen des libertären Protests. In diesem Zusammenhang nutzen sie den Begriff des „Konsensleugners“, den sie freilich nicht selber geprägt haben, sondern zitieren. Nun ist die Wortkoppelung mit „-leugner“ in den letzten Jahren ein beliebtes rhetorisches Instrument geworden, um Menschen mit anderen als den herrschenden Meinungen (Meinungen der Herrschenden) als stumpfe Dummköpfe auszugrenzen. Dabei wird geflissentlich übersehen, dass der Typus des Leugners auf solche Menschen zurückgeht, die im Angesicht der peinlichen Befragung durch die Inquisition dennoch daran festhielten, die Wahrheit der einzig richtigen und auf Vernunft gebauten Kirche zu leugnen. Trotz Folter! Man stelle sich das einmal vor! Man präsentiert ihnen die reine Wahrheit, fügt ihnen, um ihrem Denken ein wenig nachzuhelfen, noch etwas körperlichen Schmerz zu, und dennoch halten sie fest an der Unwahrheit. Das kann doch nur mit dem Teufel zugehen. Aber was um Gottes willen ist ein Konsensleugner? Sicherlich glaubt nach Ansicht der Inquisitoren alle Welt (fast) ohne Ausnahme an die Wahrheit der unfehlbaren Kirche; der Leugner stört den Konsens. Wie aber kann man den Konsens leugnen?
Im Begriff des Konsensleugners geht es darum, dass der Leugner den Konsens innerhalb einer externen Gruppe von Autoritäten leugnet, das heißt den Konsens unter Experten und Wissenschaftlern. Es gibt ein Gremium dieser Autoritäten, in dem ein absoluter Konsens bezüglich bestimmter Aussagen herrscht, aber der Leugner leugnet dies. Vor allem tut er das, indem er Experten oder Wissenschaftler benennt, die der herrschenden Aussage nicht zustimmen; aber diese von ihm benannten Experten oder Wissenschaftler sind nicht Mitglied des Gremiums, dem der Anspruch auf unfehlbare Wahrheit zugesprochen wird. Von wem zugesprochen wird? Bei genauerem Hinsehen lautet die Antwort: vom Staat, dem Sachwalter der Wahrheit in der Erbfolge der Kirche. An anderer Stelle nutzen Amlinger und Nachtwey statt Konsensleugner den Begriff „Wissenschaftsleugner:innen“. (Ich möchte darauf hinweisen, dass die Autoren die Konsensleugner anders als andere Personenbezeichnungen nicht gendern. Handelt es sich ihnen zufolge nur um Männer?) Sie ziehen „unbestreitbare Erkenntnisse“ in Zweifel. Aber wer definiert, was bestreitbar wäre und was nicht bestritten werden kann? Offensichtlich kann es doch bestritten werden; aber durch Personen, die vom Staat nicht als Vertreter der Wissenschaft klassifiziert werden. Die Wissenschaft hat, so besagt es der Begriff des Konsensleugners, immer recht. Jedenfalls wenn sie mit der Meinung der jeweils Herrschenden übereinstimmt. In Wirklichkeit geht es aber gar nicht um Wissenschaft. Es geht um Herrschaft und deren Unantastbarkeit. Der Konsens ist sowohl erzwungen als auch eine Fata Morgana.
Freilich ist der Begriff des Konsensleugners ein doppelschneidiges Schwert in den Händen der Konstrukteure des sozialen Konsenses, der das libertäre Protestmilieu ausschließt. In einer ganzen Reihe von Fragen stellt sich die Meinung der gegenwärtig Herrschenden ausdrücklich gegen den „Konsens“ in der wissenschaftlichen Community, sei es in der Frage der Wahrheit der Mathematik (der die herrschende Meinung Kolonialismus, Rassismus und Sexismus vorwirft), der Zweigeschlechtlichkeit (der gegenüber die herrschende Meinung die Beliebigkeit des Geschlechtszuordnung behauptet) oder der Klimaneutralität der Atomkraft (der gegenüber die herrschende Meinung an deren Schädlichkeit festhält). Aber wenn logische Konsistenz selber ins Visier der Konstrukteure des sozialen Konsenses gerät, sind solche Widersprüche natürlich ihrerseits wiederum nur Ausdruck von Konsensleugnertum.
Derjenige, der den Begriff Konsensleugner geprägt hat (soweit ich es überblicke) und auf den sich Amlinger und Nachtwey berufen, ist Alexander Bogner. Sie zitieren ihn mit der Aussage, die Konsensleugner führten einen „ideologischen Feldzug gegen die Kolonialisierung der Gesellschaft durch die Wissenschaft“. Der Satz enthält untergründig allerdings eine Irritation. Die Wendung „ideologischer Feldzug“ klingt negativ, aber die Wendung „gegen die Kolonialisierung der Gesellschaft durch die Wissenschaft“ passt nicht dazu: Denn wer wollte für Kolonialisierung eintreten? Wollen die Autoren via Bogner etwa sagen, dass „Kolonialisierung“ von irgendetwas durch irgendwen ein erstrebenswerter Vorgang sei? In der Tat ist Bogner selber nicht so eindeutig wie Amlinger und Nachtwey. Bogner hält die Konsensleugner und das Umfeld ihrer Protestbewegungen zwar für gefährlich, aber er gesteht auch zu, dass ihre Herausforderung des Konsenses für die Gesellschaft heilsam und für die Demokratie notwendig sei. Er ruft entgegen dem herrschenden Trend eher dazu auf, die Wissenschaft wieder zu entpolitisieren, da seiner Analyse nach deren Verquickung mit Herrschaft nicht gut gehen kann. Nach Bogner sind die Konsensleugner nicht die Ursache des Problems, sondern sie sind der Ausdruck der gesellschaftlichen Fehlentwicklung in Richtung der Politisierung von Herrschaft oder genauer gesagt: der Instrumentalisierung der Wissenschaft für herrschaftliche Entscheidungen. Insofern steckt für Bogner in dem Impuls des konsensleugnerischen „Feldzugs“ (ein martialischer Begriff für meist doch ziemlich harmlose Proteste) gegen die Kolonialisierung der Gesellschaft durch die Wissenschaft auch etwas Gutes; wobei die Formulierung nicht ganz zutreffend ist, denn nicht die Wissenschaft kolonialisiert die Gesellschaft, sondern die Instanzen der Staatsgewalt benutzen Wissenschaft für ihr kolonialisierendes Streben. Diesen Aspekt in Bogners Argumentation unterschlagen Amlinger und Nachtwey.
Als für die Konsens- oder Wissenschaftsleugner grundlegenden Denker führen Amlinger und Nachtwey Paul K. Feyerabend (1924–1994) an. Feyerabend war, obwohl dezidiert kein Marxist (vielmehr stammte er aus der von Marxisten als positivistisch verschrienen Schule Sir Karl Poppers), in den 1970er Jahren ein Star der weltweiten linken Szene. Zur Zeit seiner größten Wirksamkeit hatte er Lehrstühle in mehreren Universitäten der USA, der Schweiz und in der Bundesrepublik Deutschland inne. Vorübergehend nannte er seine Erkenntnistheorie „anarchistisch“, bevorzugte später jedoch das Adjektiv „dadaistisch“. Er zeigte detailreich auf, dass es eine sinnvolle Erkenntnistheorie nicht geben könne, dass Wissenschaftler stets gegen die von ihnen selbst bemühten Erkenntnistheorien verstießen und schließlich dass der Wissenschaftsbetrieb und sein Wahrheitsanspruch nichts als ein Machtspiel seien. Dies gelte nicht nur für die Sozial-, sondern auch und allen voran für die Naturwissenschaft (Feyerabend selber war ursprünglich Physiker). Ich stimme mit Feyerabend (mit dem ich als junger Erwachsener eine briefliche Kontroverse austrug) nicht in allen Punkten überein; aber als indiskutabel kann man ihn nicht abtun, dazu sind seine Argumente zu gut untermauert.
Freilich mutet es seltsam an, dass Amlinger und Nachtwey Feyerabend so sehr hervorheben, denn nach meiner Übersicht spielt er in dem Milieu des Protests, das sie beschreiben, leider gar keine Rolle. Wie ich vermute, liegt dies daran, dass das Protestmilieu von einer hohen Wissenschaftsgläubigkeit geprägt ist. Es herrscht dort gerade kein Wissenschaftsleugnen vor, ganz im Gegenteil: Den Entscheidungen der Herrschenden wird vorgeworfen, dass sie auf willkürliche, nicht wissenschaftlich belegte Hypothesen zurückgreifen, denen gegenüber das Protestmilieu darauf pocht, die Entscheidungen mögen an wissenschaftlich erwiesene Fakten gebunden werden. Um noch einmal auf die Analogie zu den Glaubenskämpfen zurückzukommen: Mithilfe von Feyerabends Wissenschaftstheorie wäre es möglich, sowohl die Verfechter der herrschenden Meinung als auch die Verfechter der zur Herrschaft strebenden Meinung als Glaubenskrieger zu kennzeichnen, denn schließlich verfolgte nicht nur die katholische Kirche Abweichler von der Wahrheit, sondern die protestantischen Abtrünnigen beeilten sich vielfach, ihr nachzueifern. Feyerabends Wissenschaftstheorie könnte viel dazu beitragen, das Protestmilieu libertär aufzuklären, nämlich den Herrschaftsanspruch der Wissenschaft und deren Politisierung (Instrumentalisierung im politischen Tagesgeschäft) generell infrage zu stellen.
Im Sinne des Festhaltens am Herrschaftsanspruch der Wissenschaft, also der wissenschaftlichen Begründbarkeit herrschaftlicher Entscheidungen, kann man im aktuellen Protestmilieu von autoritären Tendenzen sprechen. Dies ist freilich nicht der Sinn, den Amlinger und Nachtwey meinen, denn diese autoritären Tendenzen entspringen nicht dem libertären Denken, sondern dem Denken im aktuellen Protestmilieu, das vom libertären Impuls der Freiheit (noch?) nicht durchdrungen ist. Nicht zu libertär ist das Denken dieses Protestmilieus, sondern zu wenig libertär. Zu wünschen wäre eine Entwicklung weg vom herkömmlichen Autoritarismus (für den Amlinger und Nachtwey stehen) und hin zu einer konsequent libertären Orientierung.
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