„Wir“ liefern Panzer?: Das mystische „Wir“
Nicht „wir“, sondern „sie“
von Andreas Tiedtke (Pausiert)
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Angesichts der angekündigten Lieferung von Leopard-2-Panzern von „Deutschland“ an „die Ukraine“ sind hitzige Diskussionen entbrannt, in denen des Öfteren das Wörtchen „wir“ benutzt wird. Während die eine Seite meint, „wir“ sollten Panzer in die Ukraine liefern, ist die andere Seite überzeugt, „wir“ sollten dies gerade nicht tun. Und es wird die Frage aufgeworfen, ob „wir“ oder „Deutschland“ nun Kriegspartei seien oder nicht.
Da ich selbst noch nie in der Situation war, darüber zu befinden, ob ich Panzer liefern oder nicht liefern werde, und weil dies eine praxeologische Kolumne ist, wollen „wir“ heute genauer wissen, was es mit dem Wörtchen „wir“ auf sich hat, das auch in dem berühmten Ausspruch der Altkanzlerin „Wir schaffen das!“ eine so zentrale Rolle einnimmt.
Dem Autor des Buches „Der Herr der Ringe“, J.R.R. Tolkien, wird folgendes Zitat zugeschrieben: „Ich würde jedermann verhaften lassen, der das Wort Staat benutzt, als handele es sich um etwas anderes als den unbelebten Bereich der Erdoberfläche, der England genannt wird.“ Und weiter: „Wenn die Leute gewohnheitsmäßig von König Georg und seinen Ratgebern sprächen, von Winston und seiner Bande, würde das viel dazu beitragen, das Denken von Verklärung zu befreien.“ Und es würde das schreckliche Abrutschen in den Kollektivismus („Theyocracy“) bremsen.
Handlungslogisch betrachtet sind die einzigen Wesen, die menschliches Handeln ausführen können, einzelne Menschen – auch zusammen oder gegeneinander, aber es sind stets Menschen aus Fleisch und Blut. Der Denkfehler, einem geistigen Gebilde wie „dem Staat“ oder „dem Land“ eine unmittelbare Wirklichkeit zuzuschreiben, wie sie einzelne Menschen haben, wird Hypostasierung genannt. Eine besondere Form hiervon ist der Anthropomorphismus, also die Vermenschlichung von unbelebten Gegenständen oder eben auch geistigen Gebilden, diese also gedanklich so zu behandeln, als wären es handelnde Menschen.
Bei „Ich“ und „Du“ brauchen wir keine zusätzlichen Informationen, um zu wissen, wer gemeint ist. Anders bei „wir“ oder „sie“. Hier geht es um Gruppen von bestimmten oder bestimmbaren Menschen, und wenn wir es genauer wissen wollen, müssen wir uns fragen, wer denn wirklich Mitglied der jeweiligen Gruppe ist, in der Menschen koordiniert handeln. Nicht „Deutschland“ führte „Krieg am Hindukusch“, sondern es waren konkrete Menschen, die sich zum gemeinsamen Handeln verbunden haben. Da waren die politischen Akteure, die den Einsatz befahlen. Da waren Piloten, die Flugzeuge oder Helikopter flogen, Soldaten et cetera. Aber Oma Meier aus Castrop-Rauxel war offensichtlich nicht dabei und hat in keiner Weise mitgewirkt.
Sprache ist ein heikles Werkzeug. Sie erzeugt Narrative, also Erzählungen, die zu bestimmten Vorstellungen führen. Die zoroastrischen Priester Persiens wurden auch Magi genannt, woher unser Wort Magier kommt, denn Sprache kann tatsächlich in dem Sinne „verzaubern“, dass gewisse Vorstellungen als real angesehen werden, obwohl sie es nicht sind. Und diese „magische“ Wirkung der Sprache, von Narrativen, Metaphern, Allegorien, Parabeln und so weiter ist bekannt und sie wird auch bewusst eingesetzt.
Länder sind keine handelnden Wesen. Punkt. Es agiert namens des Staates eine Gruppe von bestimmbaren lebendigen Menschen aus Fleisch und Blut, die sich zum gemeinsamen Handeln unter einem Namen verbunden hat, aber das inkludiert nicht auch diejenigen Menschen, die nicht koordiniert unter diesem Namen handeln. Einigen Bewohnern des Erdstücks, das – in unserem Falle – Deutschland genannt wird, kann es sogar höchst unrecht sein, dass ihr Handeln und ihr Besitz von anderen „verwaltet“ werden. Verwalten kommt von „walten“, und das heißt soviel wie „herrschen, Macht und Verfügung über etwas haben“. Und Herrschen bedeutet handlungslogisch, dass jemand mit einem Übel bedroht wird, um eine Handlung auszuführen oder zu unterlassen, die er ohne diese Drohung nicht ausgeführt oder unterlassen hätte. Der Betroffene wird gezwungen, etwas zu tun oder zu lassen. Hat sich der Betroffene selbst gegenüber den Drohenden friedlich verhalten, also liegt weder Verteidigung noch Wiedergutmachung oder Vergeltung vor, dann ist Drohen handlungslogisch ein Angriff. Und nicht alle Menschen stehen morgens auf und sagen sich selbst: „Heute möchte ich mal so richtig beherrscht werden!“ Gut, „gestockholmte“ Menschen mögen so denken, aber eben nicht alle.
Insbesondere in Kriegszeiten ist das „Wir“ ein gefährliches Wort, wenn wir an den Militärzwang denken, der euphemistisch als „Wehrpflicht“ bezeichnet wird. Beim Militärzwang werden handlungslogisch betrachtet Menschen bedroht, für eine andere Gruppe Menschen zu kämpfen. Die angedrohten Übel reichen von Zwangshaft bis zu unmittelbarem Zwang, also Gewalt. Eine Gruppe, die Militärzwang einsetzt, gleich, ob sie sich verteidigt oder jemand anderen angreift, begeht handlungslogisch feindliche Handlungen, nämlich Zwang, und zwar gegen die „eigene Bevölkerung“ – um in der Metapher vom Land als „Wesen“ zu bleiben. In Kriegszeiten sind die zwangsweise Eingezogenen sogar oftmals die Mehrheit der Kämpfenden. Von sich aus wollten diese Menschen also gar nicht kämpfen. Es kämpft keine „Koalition der Willigen“, sondern eine erzwungene „Koalition“. Eine (besser organisierte) Gruppe zwingt eine Vielzahl von Einzelmenschen, die sich nicht in einer Gruppe organisiert haben und die deshalb – trotz ihrer größeren Zahl – nicht die Möglichkeit haben, sich den angedrohten Übeln zu entziehen. Die Gruppe, die den Militärdienst erzwingt, ist im praxeologischen Sinne Aggressor in Bezug auf all diejenigen, die den Militärdienst ohne den Zwang nicht geleistet hätten.
Es führt zu einer Klarheit im Denken und Sprechen, wenn die Dinge beim Namen genannt werden. Nicht „wir“ liefern Panzer, sondern „sie“. Und selbst wenn eine Mehrheit der Bewohner eines bestimmten Gebietes dafür oder dagegen ist, handlungslogisch gilt: Aus Zahl kann Recht nicht folgen. Größenzahlen, sogenannte Kardinalzahlen, beschreiben Größen der metrischen (mess- und zählbaren) „Außenwelt“. „Recht“ ist eine Mehrheitsentscheidung im handlungslogischen Sinne nur, wenn ein normativer Akt vorliegt, also eine Zustimmung aller Betroffenen, eine Mehrheitsentscheidung für und gegen sich gelten zu lassen. Der Bereich des Normativen ist das Handeln, und Größen dienen dem Handelnden nur als Mittel zum Zweck. Aus Größenzahlen alleine kann nicht auf einen Willen eines imaginierten Kollektivs geschlossen werden. Der Wille ist immer der Wille des Einzelnen und der Gruppenwille ist nur dann wirklich ein Gruppenwille, wenn er mit dem Willen aller Betroffenen übereinstimmt. Wenn vier einen Fünften misshandeln, dann ist es ein Fehlschluss, zu behaupten, dass aus diesem Größenverhältnis folgen würde, dass nach dem „kollektiven Gruppenwillen“ diese Misshandlung zu 80 Prozent gewollt wird.
Nun mögen manche fragen: „Und jetzt?!“ Denn es ändert ja nichts daran, dass Panzer geliefert oder nicht geliefert werden, je nachdem, was man in diesem Falle befürwortet. Nun, sie wissen jetzt, dass es nicht Sie sind im Sinne eines mystischen „Wir“, der hier handelt – außer Sie, verehrter Leser, sind tatsächlich an der Ausführung beteiligt, etwa als politischer Akteur, Rüstungsunternehmer oder Staatsbediensteter. Es mag Ihnen recht oder unrecht sein, was geschieht, aber Sie sind nicht der Verantwortliche. Es geschehen viele Dinge, die außerhalb unserer Kontrolle liegen, viele von uns werden anders behandelt, als sie behandelt werden möchten; auch dass in „unserem Namen“ gesprochen wird, wenn „wir“ weder Auftrag noch Vollmacht erteilt haben. Aber es ist eben etwas anderes, darüber nachzudenken und zu sprechen, was andere tun, als darüber, was angeblich „wir“ selbst tun.
Quellen:
Kiely, W. (2012). The Letters of J.R.R. Tolkien – From a letter to Christopher Tolkien (from his father J.R.R. Tolkien), 29. November 1943, zitiert in: „Der Kompass zum lebendigen Leben“ (Andreas Tiedtke), S. 41.
Verwalten (Digitales Wörterbuch der Deutschen Sprache, DWDS)
Nichts ist so eindeutig, dass es sich nicht umdeuten ließe (Andreas Tiedtke)
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