30. Januar 2024 22:00

Populäre Irrtümer der Linken und Rechten Im Libertarismus „herrschen“ nicht die Großkonzerne – im Gegenteil

„Libertäre Freizügigkeit und innere Sicherheit – das geht nicht zusammen“

von Andreas Tiedtke (Pausiert)

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Bildquelle: Shutterstock Trugschluss vieler Leute: Im Kapitalismus hätten irgendwelche Firmenbosse die Macht

Ein beliebtes Argument gegen den Libertarismus und den freiwilligen wirtschaftlichen Austausch, also den Kapitalismus, ist, dass ohne „Interventionismus“, also ohne das zwangs- und fallweise Eingreifen des Staates in den Markt und in das Privatleben der Menschen, Großkonzerne in das „Machtvakuum“ eintreten würden, welches der Staat dann hinterließe. Und diese Großkonzerne würden sodann die Herrschaft an sich reißen. Aber wenn sie das täten, wären sie keine Unternehmen mehr, sondern politische Entitäten. Und es handelte sich dann nicht um Libertarismus oder Kapitalismus, denn im Libertarismus „herrscht“ niemand. Der Glaube ist also, dass es keine Gesellschaft ohne Herrschaft geben könnte, doch das ist ein Irrglaube.

Ludwig von Mises über Gesellschaft

Ludwig von Mises (1881–1973) schrieb:

„Bestünde der Gegensatz von Allgemeininteresse des Ganzen und Sonderinteresse des Einzelnen, wie die kollektivistische Lehre es behauptet, dann wäre überhaupt gesellschaftliches Zusammenwirken der Menschen unmöglich. Der natürliche Zustand des Verkehrs zwischen den Menschen wäre der des Krieges (…) Die Wissenschaft von der Gesellschaft beginnt damit, dass sie diesen Dualismus überwindet. Da sie innerhalb der Gesellschaft Verträglichkeit der Interessen der einzelnen Individuen untereinander sieht und keinen Gegensatz zwischen der Gesamtheit und dem Einzelnen findet.“

Mises wies damit nach, dass es keinen Herrscher braucht, der ein gewähntes „höherstehendes Allgemeininteresse“ gegenüber den Einzelnen erzwingt, wie die Kollektivisten, ob links, ob rechts, dies behaupten. Dieses kollektivistische Denken geht im Prinzip von einer Art Dauerkrieg zwischen den Menschen aus, wenn es keinen Herrscher gäbe. Aber Mises erkennt: Menschen müssen sich keinesfalls gegenseitig unterdrücken, sondern sie können freiwillig kooperieren und dabei gewinnt jeder Beteiligte – denknotwendig.

Es ist also keineswegs so, dass Herrschaft und Gesellschaft einander bedingen, sondern es ist vielmehr so, dass eine friedliche und freundliche Gesellschaft einerseits und eine beherrschte oder unterdrückte Gesellschaft andererseits etwas Unterschiedliches sind. Die Herrschaft wurde von den Menschen nicht gewählt, sie haben keinen „Gesellschaftsvertrag“ freiwillig unterzeichnet, sondern die Herrschaft wurde ihnen aufgezwungen.

Franz Oppenheimer über Herrschaft

Franz Oppenheimer (1864–1943), ein deutscher Soziologe, Ökonom und Arzt, der nicht zufällig der Doktorvater des deutschen Wirtschaftsministers und Bundeskanzlers Ludwig Erhard (1897–1977) war, schrieb in seinem Buch „Der Staat“:

„Der Staat ist seiner Entstehung nach (…) eine gesellschaftliche Einrichtung, die von einer siegreichen Menschengruppe einer besiegten Menschengruppe aufgezwungen wurde mit dem einzigen Zwecke, die Herrschaft der ersten über die letzte zu regeln und gegen innere Aufstände und äußere Angriffe zu sichern. Und die Herrschaft hatte keinerlei andere Endabsicht, als die ökonomische Ausbeutung der Besiegten durch die Sieger.“

Freiwilligkeit und Freiheit auf der einen Seite und Herrschaft andererseits sind also unvereinbar. Zu behaupten, im Libertarismus würden Großkonzerne die Macht an sich reißen, ist also falsch. Was Unternehmen tun, ist „schadlos ablehnbare Angebote“ zu unterbreiten. Was Staaten, wie wir sie heute kennen, tun, ist „nicht schadlos ablehnbare Forderungen“ zu stellen. Denn die Regierenden und ihre Unterstützer drohen mit empfindlichen Übeln für den Fall, dass die Betroffenen ihren Geboten nicht nachkommen oder ihre Verbote missachten: Sie drohen mit Zwang, beginnend mit milderen Mitteln wie etwa Zwangsgeld oder Zwangspfändung bis hin zu Zwangshaft und „unmittelbarem Zwang“ – also letztlich Gewalt.

Ludwig von Mises bezeichnete den Staat als „Zwangs- und Unterdrückungsapparat“ („Im Namen des Staates“, Seite 68) und in „Letztbegründung der Ökonomik“ schrieb er:

„Der Staat unterwirft, kerkert ein und tötet. Die Menschen sind geneigt, das zu vergessen, weil der gesetzestreue Bürger sich der Ordnung der Obrigkeit klaglos unterordnet, um Bestrafung zu vermeiden. Aber die Juristen sind rea­listischer und nennen ein Gesetz, das nicht mittels Zwangs durchsetzbar ist, ein unvollkommenes Gesetz. Die Autorität der menschengemachten Gesetze beruht vollständig auf den Waffen der Polizisten, die für deren Vorschriften Gehorsam erzwingen.“

Macht im politischen Sinne bedeutet, dass man einen Zwangs- und Unterdrückungsapparat zur Verfügung hat, der es einem ermöglicht, seine Befehle durchzusetzen. Ludwig von Mises wusste, dass diese Macht ihren Ursprung nicht vor allem in physischer Gewalt hat, sondern auf Propaganda und Indoktrination beruht, aber im Verhältnis zum Einzelnen ist es diese Macht, einen Befehl zu erzwingen, die ihn gehorchen lässt.

„Marktmacht“ ist etwas komplett anderes als politische Macht

„Marktmacht“ ist etwas komplett anderes als politische Macht und bedeutet etwa, dass man in einem bestimmten Marktsegment Anbieter eines großen Teils der Waren und Dienstleistungen ist oder dass man über ein relativ großes Kapital verfügt.

In meinem Buch „Der Kompass zum lebendigen Leben“ schreibe ich:

„Kapital dient dazu, anderen Menschen Nutzen zu stiften, indem Güter produziert wer­den, die zu einem Geldpreis angeboten werden. (…) jedermann kann das Angebot eines mittels Kapitals produzierten Gutes ablehnen, ohne Schaden zu nehmen. Kapital ist also insofern nicht mit Macht vergleichbar, als Kapital den Inhaber des Geschäftsbetrie­bes gerade nicht in die Lage versetzt, seine Kunden zu bedrohen. Es handelt sich um eine andere Kategorie (Klasse) als Macht.

Wenn Sie von der ‚Macht des Kapitals‘ lesen oder vom ‚Raubtierkapitalismus‘ oder vom ‚Kampf um die Märkte‘, dann sind das Metaphern, die Propagandazwecken dienen oder Missverständnissen entstammen. Jemandem einen Nutzen anzubieten und jemanden zu bedrohen sind zwei verschiedene Dinge.“

Schlussbetrachtung und Ausblick

Im Libertarismus „herrschen“ also nicht die Großkonzerne – im Gegenteil: Libertarismus ist die Abwesenheit von Herrschaft. Was Unternehmen ausmacht – soweit sie nicht mit dem Staat „verbandelt“ sind –, ist im Grundsatz, schadlos ablehnbare Angebote zu unterbreiten, die dem Kunden einen höheren Nutzen stiften sollen, als das Geld, das er dafür bezahlt, denn ansonsten käme der Kauf nicht zustande. Was Herrschaft ausmacht, ist der Einsatz von Zwang gegen friedliche Menschen.

Natürlich, in einer libertären Gesellschaft müssten die Menschen es schaffen, Aggressoren, also Möchtegern-Herrscher, erfolgreich in ihre Schranken zu weisen. Dass es aber von vornherein aussichtslos sein soll, eine friedliche und auf Freiwilligkeit basierende Gesellschaft zu haben, ist falsch. Eine Gesellschaft, in der Zwang nur eingesetzt wird zur Verteidigung, zur Wiedergutmachung oder zur Durchsetzung freiwillig eingegangener Verpflichtungen, ist nicht nur denkbar, sondern dies erscheint reifen Menschen auch als wünschenswertes Zielbild. Reif, weil sie – trotz gegenläufiger Propaganda und Indoktrination, die sie mit eigenem Denken überwunden haben – keine Feindseligkeit gegenüber friedlichen Mitmenschen hegen. Es wäre die aufgeklärte Gesellschaft, von der Immanuel Kant (1724–1804) sprach, in der jeder Mensch Selbstzweck ist, oder wie lange vor ihm bereits Dante Alighieri (1265–1321) schrieb:

„Denn dann allein werden Staaten falsch verwaltet, ich meine die Demokratien, Oligarchien und Tyranneien, weil sie die Menschen zu Sklaven machen (…) richtige Staatsverfassungen beabsichtigen die Freiheit, das heißt, dass die Menschen ihrer selbst wegen da sind.“ (De Monarchia)

Dass es für eine friedliche, auf Freiwilligkeit aufbauende Gesellschaft erst viele aufgeklärte, selbstdenkende Menschen bräuchte und dass dies momentan – wie Kant dies auch für seine Zeit erkannte – nicht der Fall ist, ist eine Sache. Aber es ist eine andere Sache, dass Linke wie Rechte das gesellschaftliche Zielbild friedlichen Zusammenlebens und freundlicher Kooperation von vornherein als undurchführbar ablehnen, obwohl dem nicht so ist. Diese Ablehnung zeugt von eben jenen infantilen Haltungen zu sich und der Welt, die Kant als die Ursachen der Unmündigkeit beschrieb und die der Grund dafür sind, dass wir heute in Zwangsgemeinschaften gepfercht zusammenleben.

In meiner nächsten Kolumne möchte ich auf den populären Irrtum vor allem der Neuen Rechten eingehen, dass libertäre Freizügigkeit und innere Sicherheit notwendigerweise nicht zu vereinbaren wären.

Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag!

Quellen:

Die Gemeinwirtschaft (Ludwig von Mises, Seite 42 folgende)

Der Staat (Franz Oppenheimer, Seite 8 folgende)

Letztbegründung der Ökonomik (Ludwig von Mises, Seite 133 fortfolgende)

Der Kompass zum lebendigen Leben (Andreas Tiedtke, Seite 283)

Die Psychologie der Politik. Wieso wollen die Menschen nicht in einer friedlichen Gesellschaft leben? (Andreas Tiedtke)

Leben wir in einem aufgeklärten Zeitalter? – zu Immanuel Kants 218. Todestag (Andreas Tiedtke)


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