06. Februar 2024 22:00

Populäre Irrtümer der Rechten – und Linken „Libertäre Freizügigkeit und innere Sicherheit – das geht nicht zusammen“

„Es gibt keine Wahrheit“

von Andreas Tiedtke (Pausiert)

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Bildquelle: Shutterstock Migration und Sicherheit: Libertäre hätten auch hierfür eine Lösung

Libertarismus steht für Freizügigkeit. Pässe und Ausweise sind Libertären generell zuwider, werden diese doch zumeist aufgezwungen und nicht freiwillig vereinbart, sind also in diesem Falle eine feindliche Handlung. Aber ohne Migrationsbarrieren, so das Argument mancher Rechter, kommen auch Menschen ins Land, die feindselige Haltungen gegenüber ihren Mitmenschen haben; die nicht in erster Linie arbeiten und sich mehr oder weniger „integrieren“ möchten, sondern auf Kosten und zu Lasten der ursprünglichen Bevölkerung „Bürgergeld“ beziehen möchten oder gar gewerbs- und bandenmäßig kriminelle Handlungen vorhaben oder keinen Respekt vor den gleichen Freiheiten der Frauen haben oder dergleichen. Da der Libertarismus Freizügigkeit „fordere“, gefährde er somit die „innere Sicherheit.“

Ludwig von Mises über Freizügigkeit und Migrationsbarrieren

Ludwig von Mises schrieb 1919:

„Die Prinzipien der Freiheit, die schrittweise seit dem 18. Jahrhundert überall Fuß gefasst haben, gaben den Menschen Freizügigkeit… Jetzt jedoch – als das Resultat historischer Entwicklungen – ist die Erde aufgeteilt in Nationenstaaten.“

Mises argumentierte, dass es deswegen zu Konflikten kommen kann, weil Menschen, die in wohlhabenderen Gegenden wohnen, Migrationsbarrieren errichten könnten, bis hin zu einem Zeitpunkt, an dem nur noch Waffen diesen Konflikt lösen könnten. 1935 schrieb er:

„Deshalb kann es sein, dass wir eine Koalition von Staaten von Auswanderungswilligen sehen werden, die in Gegnerschaft zu den Staaten steht, die Migrationsbarrieren errichten, um Einwanderungswillige abzuhalten. Ohne die weltweite Wiederherstellung der Freizügigkeit kann es keinen dauerhaften Frieden geben.“

Mises erörterte hauptsächlich die ökonomischen Aspekte der Freizügigkeit. Einwanderung führt zwar zu einem Druck auf die Löhne und Gehälter, andererseits sind Arbeitnehmer dort, wo es mehr Kapital gibt, produktiver, sodass die Grenzproduktivität der Arbeit höher ist und die Produktion insgesamt – ceteris paribus – zunimmt, der „Kuchen“ also größer wird als ohne die Einwanderung. Hingegen führt die Abwanderung von Arbeitskräften zu einem „positiven Lohndruck“ im Herkunftsland, weil in diesen Regionen das Angebot an Arbeitskräften abnimmt, was den Arbeitern in den Auswanderungsländern zu Gute kommen würde.

Mises sah aber auch das Problem, dass Konflikte nicht nur wegen ökonomischer Gründe entstehen können, sondern dass Einwanderung wegen der Anzahl der Einwanderer oder deren moralischen Vorstellungen oder ihren intellektuellen Einstellungen und Fähigkeiten zu sozialen Konflikten mit der ursprünglichen Bevölkerung führen kann. Er führt hier das Beispiel der indigenen amerikanischen Bevölkerung an, die durch die europäischen Einwanderer unterjocht wurde, und er meint, dass dies eventuell auch in den westlichen Staaten der USA mit der Bevölkerung europäischen Ursprungs hätte geschehen können, wenn etwa die Gesetzgebung nicht die Einwanderung von Chinesen gehemmt hätte.

Kurze Praxeologie der Migration

Wenn ein Mensch seinen Wohnort wechseln möchte, dann ist dies eine friedliche Handlung, wenn kein Zwang eingesetzt wird. Wenn er eingeladen wird als „Gastarbeiter“, ist dies eine freundliche Handlung; ebenso, wenn ihm Land in Aussicht gestellt wird, das er bebauen kann (nicht jedoch, wenn dieses vorher jemand anderem weggenommen wurde, wie etwa im Falle der indigenen Bevölkerung Amerikas); wenn er etwa einen Vermieter findet und einen Arbeitsplatz; wenn er freiwillige Unterstützer findet; oder wenn er von seinem Ersparten leben kann, bis er über ein Einkommen verfügt – und so weiter.

Handlungslogisch wäre es unter diesen Umständen grundsätzlich eine feindliche Handlung, einen friedlichen Migranten, der an freundlicher Kooperation interessiert ist, zwangsweise an der Migration zu hindern. Aber ob dies im Einzelfall tatsächlich der Fall ist, also dass derjenige friedlich ist und vorhat, freundlich mit seinen Mitmenschen zu interagieren, auf diese Frage kann die Handlungslogik keine Antwort geben, sondern das ist Fallfrage, die mit der Methode des „Verstehens“ (persönliche Relevanzurteile) zu beantworten ist.

Handlungslogisch können wir aber sagen, dass das zwangsweise Hindern an der Migration nach dem Grundsatz „in dubio pro reo“ – der in einem weiteren Sinne bedeutet „im Zweifel füge kein Leid zu“ –nur dann eine Verteidigung ist – und damit keine feindliche Handlung –, wenn man dem Migranten „mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit“ nachweisen kann, dass von ihm die konkrete Gefahr einer feindlichen Handlung ausgeht. Wer Zwang nicht lediglich zum Zwecke der Verteidigung, Widergutmachung oder zum Durchsetzen freiwillig eingegangener Verpflichtungen einsetzt, ist aus handlungslogischer Sicht selbst ein Aggressor. 

Eindeutig handelt es sich bei Migration insgesamt betrachtet dann um eine feindliche Handlung, wenn eine Gruppe von Menschen andere zwingt, die Immigranten zu finanzieren, etwa durch Zwangsabgaben oder ein Fiat-Geld-Monopol in Verbindung mit einer Verschuldung der Regierung, was durch die Preisinflation zu einer verdeckten Besteuerung führt. Jede „Wohlfahrtsleistung“ für Dritte, die der vorgebliche Wohltäter einem anderen abzwingt, ist insgesamt betrachtet eine feindliche Handlung, da die Mittelherkunft nicht von der Mittelverwendung getrennt werden kann – es ist ja dasselbe Mittel: Das Geld anderer Leute. Insgesamt liegt eine sogenannte Pareto-Verschlechterung vor, manche gewinnen auf Kosten und zu Lasten anderer. Dabei erfordert Wohltätigkeit keinesfalls denknotwendig, dass die Mittel hierzu anderen unter Androhung von Zwang weggenommen werden. Im Gegenteil, wenn dies der Fall ist, handelt es sich insgesamt a priori nicht um Wohltätigkeit.

Und wenn Menschen wissentlich finanzielle Mittel annehmen, die aus einer feindlichen Handlung stammen, dann sind sie im praxeologischen Sinne beteiligt an dieser insgesamt feindlichen zwischenmenschlichen Interaktion. Dieser Fall ist handlungslogisch also klar. Zwangsfinanzierte Immigration stellt gegenüber den vom Zwang Betroffenen stets eine feindliche Handlung dar.

Heute wird im Zusammenhang mit „Bürgergeld für Migranten“ von einem sogenannten „Pull-Faktor“ gesprochen, und handlungslogisch ist der Anreiz, zu migrieren, natürlich höher als ohne die Zusage eines „Grundeinkommens“. Wie hoch der Anreiz dieses Pull-Faktors ist, das kann die Handlungslogik allerdings nicht sagen, denn es gab und gibt auch Migration, wenn es keine solchen Zuwendungen für die Einwanderer gibt.

Aber was ist mit dem Fall der „feindlichen Übernahme“, den Ludwig von Mises angesprochen hat, wenn also nach der Anzahl, den jeweiligen Moralvorstellungen oder allgemein den feindseligen Haltungen der Menschen davon auszugehen ist, dass das friedliche und freundliche Zusammenleben in der Gesellschaft konkret gefährdet wird?

Das Handeln der Menschen folgt ihrem Denken und Fühlen und das wiederum hat seine Ursache in den – oft unbewussten, aber tiefsitzenden – Einstellungen und Überzeugungen, den Haltungen der Menschen zu sich und der Welt. Wenn Menschen feindselige Haltungen gegenüber einem bestimmten Geschlecht haben, gegenüber einer bestimmten Herkunft oder Religionsgemeinschaft oder überhaupt gegen friedliches Zusammenleben gesinnt sind, dann ist davon auszugehen, dass diese Haltungen zu einem entsprechenden Handeln führen werden, wenn und soweit sie nach ihrer Anzahl und anderen Faktoren, wie etwa finanzieller Ausstattung, politischer Macht oder dergleichen, dazu in der Lage sein werden.

Ein extremes historisches Beispiel aggressiver Migration ist das der Wikinger, die zu Anfang ganze Landstriche in Europa überfielen, zunächst plünderten und sie dann teilweise auch besetzt und unter ihr Joch gebracht haben. Auch der spätere europäische Kolonialismus war ein eindeutiger Fall. Selbst wenn manche womöglich das „Glück“ gehabt haben, dass die „neuen Herren“ verglichen mit den vorherigen lokalen Despoten weniger tyrannisch waren: Sie wurden zwangsweise unter das Joch gebracht und die neuen Herrschaften begingen gegenüber der indigenen Bevölkerung institutionellen und systematischen Zwang.

Wie ist aber der Fall zu beurteilen, wenn es eine unkoordinierte Massenmigration aus Ländern, Kulturen oder Religionsgemeinschaften gibt, in denen feindselige Haltungen relativ verbreiteter sind als im Einwanderungsland, insbesondere feindselige Haltungen gegen gewisse Bevölkerungsgruppen oder Religionsgemeinschaften? Nun, die Frage ist dann, ob von den feindlichen Handlungen Einzelner oder von bestimmten Gruppen – auch wenn dies überproportional viele feindliche Handlungen sind verglichen mit denjenigen der Bevölkerung im Einwanderungsland – auf die Haltungen aller oder der meisten geschlossen werden könne. Es liegt dann durch die Massenimmigration zwar eine Erhöhung der abstrakten Gefahr vor, Opfer einer feindlichen Handlung zu werden. Aber der Rückschluss, alle oder die meisten Migranten dieser Herkunft – ob nun kulturell oder religiös – müssten deshalb feindseliger eingestellt sein, ist falsch.

Lassen Sie uns den überspitzten Fall betrachten, dass 100 Prozent aller feindlichen Handlungen in einem bestimmten Gebiet von Menschen einer bestimmten Herkunft oder Religionszugehörigkeit begangen würden, aber 99 Prozent der Menschen dieser Herkunftsgruppe keine feindlichen Handlungen begehen. Diesen 99 Prozent die Feindseligkeit derjenigen Menschen anzulasten, die aus denselben Herkunftsländern kommen oder etwa derselben Religionsgemeinschaft angehören, und sie deshalb zwangsweise an der Migration zu hindern, wäre selbst eine feindliche Handlung. Es gäbe dann vielmehr individuelle und „kulturelle“ Gründe für die Feindseligkeit der konkreten Aggressoren und die Herkunft oder die Religion können nicht allein ausschlaggebend sein, denn ansonsten müssten ja 100 Prozent feindliche Handlungen begehen anstatt nur ein Prozent.

Was aber, wenn konkret identifizierbare Gruppen und Einzelne durch ihr Handeln oder durch Anstiftung klar ihre feindseligen Haltungen dokumentieren? Unabhängig von einer Korrelation mit Herkunftsländern oder Religionsgemeinschaften läge dann im Falle der zwangsweisen Verhinderung der Einwanderung Verteidigung vor, also keine feindliche Handlung, sondern die Abwehr einer solchen. Sieht man sich die Situation heute an, geschieht diese Abwehr in vielen Staaten, wie wir sie heute kennen, nicht – oder nicht konsequent.

Schlussbetrachtung und Ausblick

Im Libertarismus ist die Freizügigkeit Teil des Zielbildes einer friedlichen und freiheitlichen Gesellschaft. Denn Migration kann auf friedliche und freundliche Art und Weise erfolgen und deshalb wäre eine generelle zwangsweise Unterbindung eine feindliche Handlung. Klares Zielbild ist aber auch, dass im Zusammenhang mit Migration keine feindlichen Handlungen gegen Dritte stattfinden, also keine zwangsfinanzierte Immigration und keine feindlichen Handlungen von Gruppen oder Einzelnen gegenüber der indigenen Bevölkerung.

Bei den Libertären ist es gesellschaftliches Zielbild, dass Zwang nur zur Abwehr von Aggression oder der Durchsetzung freiwillig eingegangener Verpflichtungen eingesetzt wird. Der gegenwärtige Status quo ist aber, dass in allen Staaten, wie wir sie heute kennen, institutionalisiert und systematisch Zwang auch gegen friedliche Menschen ausgeübt wird. Es zeugt im Falle der Neuen Rechten von Chuzpe, wenn man Libertären vorwirft, sie würden durch ihr Zielbild der Freizügigkeit die „innere Sicherheit“ gefährden, wenn die eigenen politischen Vorstellungen geplante und organisierte feindliche Handlungen gegen friedliche Mitmenschen beinhalten, also die „innere Sicherheit“ friedlicher Menschen vor Aggression überhaupt kein Zielbild ist. Ein Rechter, der die Menschen etwa generell vor der Einwanderung aus gewissen Herkunftsländern warnt, selbst aber gegen die eigene Bevölkerung beispielsweise einen Militär- oder Arbeitszwang („Wehrpflicht“, „Dienstjahr“) durchsetzen will, hat überhaupt kein friedliches und freundliches Zielbild gesellschaftlichen Zusammenlebens anzubieten.

Libertarismus und innere Sicherheit gehen sehr wohl zusammen. Wer den Libertären vorwirft, Freizügigkeit sei mit innerer Sicherheit nicht vereinbar, der übersieht, dass heute Migration auf feindliche Art und Weise finanziert wird – Zwang gegen die eigene Bevölkerung wird angewendet, um Immigration zu finanzieren. Wenn dieser Pull-Faktor wegfiele, sähe die Lage anders aus, auch wenn dann immer noch Menschen aus ärmeren in wohlhabendere Länder wandern würden.

Wenn Einzelne oder Gruppen von Migranten mit Äußerungen zu feindlichen Handlungen anstiften oder feindliche Handlungen begehen, dann würde gegen diese natürlich auch in einer libertären Gesellschaft Zwang zur Verteidigung oder Wiedergutmachung eingesetzt. Damit es erst gar nicht so weit kommt, ist anzunehmen, dass in einer Gesellschaft mit dem Zielbild „friedliches Zusammenleben und Freizügigkeit“ die Menschen sich derart organisieren, dass sie erstens über die notwendigen Informationen verfügen, welche bestimmbaren Gruppen oder Einzelnen feindliche Handlungen konkret vorhaben, und zweitens, dass sie im Stande und in der Lage sind, diese abzuwehren. Gibt es Korrelationen zwischen Herkunft, Religion oder anderen Einstellungen und überproportional vielen feindlichen Handlungen, dann würde der Libertäre zwar nicht pauschal „vorverurteilen“, denn sein Leitbild ist gerade nicht der Kollektivismus. Aber bei bestimmten Eigenschaften würde man dann – auch bereits im Vorfeld oder etwa „nachrichtendienstlich“ – genauer hinsehen. Denn, und das wissen Libertäre nur zu gut: Freiheit ist nicht einfach da, sie ist kein Naturzustand. Freiheit muss vielmehr errungen und – wo sie angegriffen wird – verteidigt werden.

Während Rechte argumentieren, Libertäre könnten keine „innere Sicherheit“, werfen die Linken den Libertären Herzlosigkeit und sogar Unmenschlichkeit vor, wenn Asylsuchende oder Flüchtlinge „im Stich gelassen“ würden. Aber das ist ebenso falsch, denn es bedeutet keinesfalls, dass man Flüchtlinge im Stich lassen will, nur weil man Zwang gegenüber Dritten als Mittel der Hilfe ablehnt. Zudem stünden in einer libertären und damit kapitalistischen Gesellschaft mehr Mittel zur freiwilligen Hilfe für Flüchtlinge zur Verfügung.

In meiner nächsten und abschließenden Kolumne der zwölfteiligen Serie „Populäre Irrtümer der Linken und Rechten“ werde ich auf die populäre Aussage „es gibt keine Wahrheit“ eingehen. Dieser performative Widerspruch mag zwar vielleicht zunächst harmlos daherkommen, ist aber das geistige Fundament des empiristisch-szientistischen Weltbildes, auf das sich Linke, Neoliberale und Rechte gemeinsam stützen, um ihre jeweils gewünschten Zwangsmaßnahmen zu begründen – ganz gleich ob diese das Klima betreffen, Krankheitswellen, Steuern, Migration oder Markt- und Geldpolitik.

Quellen:

Eingeordnet: Digital ID und CBDC (Andreas Tiedtke, Sandwirt)

Nation, State and Economy (Ludwig von Mises, 1919)

The Freedom To Move as an International Problem (Ludwig von Mises, 1935)

Mises on Protectionism and Immigration (Matthew McCaffrey, 2016)

Zum „Verstehen“ als wissenschaftliche Methode: Der Kompass zum lebendigen Leben (Andreas Tiedtke, Seite 93 fortfolgende)


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