Libertärer Autoritarismus? Teil 5: Gekränkte Herrschaft
Die Politik als Prinzessin auf der Erbse
von Stefan Blankertz
Die psychologische Figur, die die Autoren des Buches „Gekränkte Freiheit: Aspekte des libertären Autoritarismus“ gegen das aktuelle Protestmilieu richten, ist die der gekränkten Freiheit. Die Freiheit habe derart zugenommen, behaupten Carolin Amlinger und Oliver Nachwey, dass auf ihre Autonomie pochende Individuen sich tödlich gekränkt fühlen von den geringfügigen Einschränkungen der Freiheit, die in den bestehenden (westlichen?) Demokratien noch oder wieder nötig seien, um die Freiheit eines jeden, die öffentliche Sicherheit und den Wohlstand für alle aufrechtzuerhalten. Die Individuen, die keine Einsicht in die Notwendigkeit der Freiheitseinschränkungen haben, rebellieren. Sie lehnen sich gegen diese Kränkung ihrer Autonomie auf. Nur mit sich selbst identifiziert, werden sie autoritär in dem Sinne, dass sie außer sich selbst nichts und niemanden gelten lassen.
In den vorangegangenen Teilen der Serie habe ich im Einzelnen aufgezeigt, wie die Autoren sich bei ihrer Analyse in Eigenwidersprüche verwickeln und an welchen Punkten sie faktische Fehler machen. Zum Abschluss der Serie möchte ich Gleiches mit Gleichem vergelten und aufzeigen, welchem psychologischen Mechanismus die Autoren erliegen.
Antiherrschaftlichen Widerstand gibt es, seit die ersten Staaten aus Räuberbanden hervorgegangen sind, die an die Stelle sporadischer Überfälle die Regelmäßigkeit von Steuerzahlungen setzten (anfangs meist Tribut genannt). Doch über Jahrtausende war dies ein Impuls, der aus der Natur der Uranarchie heraus entstand. Alle Theorie ging von den Räubern aus, die sich ein intellektuelles Kleid der Legitimation schneidern ließen. Gegen die Empirie behauptete diese Theorie, dass Herrschaft zum einen natürlich und zum anderen notwendig sei, um eine Form des gedeihlichen Zusammenlebens zu garantieren. Geglaubt wurde diese Ideologie selten, und so richtig wichtig war sie auch nicht, denn die Herrschaft gründete sich weitgehend auf schiere Gewalt. Die Kämpfe (Kriege) zwischen den Banden (Staaten) wurden ziemlich unverblümt um territoriale und ökonomische Ansprüche geführt; was die betroffene Bevölkerung davon hielt und wie sie davon in Mitleidenschaft gezogen wurde, war eher zweitrangig. Dies änderte sich mit der europäischen Neuzeit, in der es zu drei großen Kränkungen der Herrschaft gekommen ist.
Erstens: Die erste Kränkung der Herrschaft ist die Aufklärung. Bereits in der Reformation, die das europäische Mittelalter von der Neuzeit scheidet, fängt es an, dass der Glaube der Untertanen eine Bedeutung für die Herrschaft und deren Legitimation erhält. Idealtypisch ist hierfür der jeweilige Fürst, der den Glauben vorgibt, aber von den Beherrschten erwartet, dass sie ihn teilt. Was aber geschieht, wenn die Beherrschten oder Teile der Beherrschten vom Glauben abfällt und einen anderen Glauben annimmt? Erzürnt setzt der Fürst Gewalt ein, um die Irrgläubigen auf Linie zu bringen. Doch sieht er sich schnell damit konfrontiert, dass ab einer gewissen Zahl von Abtrünnigen seine Gewaltmittel nicht mehr ausreichen. Die intellektuelle Legitimation des Glaubens und die machtlogische Sorge, dass sie von den Beherrschten auch angenommen werde, rücken in den Mittelpunkt der Herrschaftsausübung. Aber wenn die Beherrschten ihre Zustimmung geben sollen, so müssen sie frei sein, für sich eine Entscheidung zu treffen; denn wenn sie nur der Gewalt gehorchen, weiß man nicht, ob sie zustimmen oder nur vorübergehend so lange stillhalten, bis sie sich in der Position wiederfinden, in der sie gegen die herrschende Gewalt zu obsiegen vermögen. Der aufklärerische Impuls folgt aus der Reformation, aber ersetzt folgerichtig dann den Glauben durch rationale Argumentation. Der Ausgangspunkt ist nun nicht mehr die unverbrüchlich legitime Herrschaft, sondern die freie Entscheidung souveräner Bürger, die über die Form und die personelle Ausstaffierung der Herrschaft befinden. Die Herrschenden versetzt das in die missliche Position, dass sie sich vor den Beherrschten rechtfertigen müssen. Wer ist nun der Herrschende, wer der Beherrschte? Die Herrschenden räumten freilich nicht sang und klanglos das Feld. Es begann das Zeitalter der Machtkämpfe. Auf der einen Seite stand der revolutionäre Anspruch der Aufklärung, auf der anderen Seite der restaurative Anspruch der Herrschaft. Der politische Ausdruck der Aufklärung war der Liberalismus, der in einigen Ländern Erstaunliches leistete. Allerdings vertauschten im Laufe der revolutionären Kämpfe die miteinander im Streit liegenden Positionen teilweise ihre Funktion. Besonders während und nach der Französischen Revolution schlug die revolutionäre Gewalt schnell in neue und bis dahin unbekannte Formen der Herrschaft um; die restaurativen Kräfte bremsten nun bestimmte Auswüchse herrschaftlicher Gewalt. Das Prinzip der Herrschaft, das die Gesellschaft durch Gewalt strukturiert, gewann wieder Oberhand: Keine der beiden Positionen zog weiterhin Herrschaft an sich in Zweifel.
Zweitens: Die sozialistischen Bewegungen des 19. Jahrhunderts, vornehmlich Anarchismus und Marxismus, erneuerten die Kränkung der Herrschaft. Pointierter noch als Aufklärung und Liberalismus argumentierten die Anarchisten (wie Pierre-Joseph Proudhon, Michail Bakunin et cetera) und Karl Marx, dass Herrschaft an sich falsch und unsozial seien. Zu diesem Zeitpunkt hatten die Liberalen sich bis auf eine Handvoll Außenseiter ganz und gar auf die Seite der Herrschaft gestellt. Für einen kurzen Moment der Geschichte, rund ein halbes Jahrhundert lang, vermochte es der Anarchismus darzustellen, dass Gewalt als strukturierendes Prinzip der Gesellschaft überwunden werden könne. Er unterlag der Gewalt der Marxisten in Russland und der Faschisten in Italien und Spanien. Der Umschlag des Marxismus aus Herrschaftskritik in Legitimation der Herrschaft ist eine grausame Dialektik der Aufklärung, vergleichbar etwa mit dem Umschlag des Christentums von einer gewaltfreien Utopie zur Ideologie von Eroberung. Obwohl der Marxismus-Leninismus in seiner Form, wie er sich nach der Russischen Revolution herausgebildet hatte, inzwischen weitgehend der Vergangenheit angehört, lebt der Marxismus als Herrschaftslegitimation fort, wie auch das Buch von Amlinger und Nachtwey beweist. Die beiden Autoren gehen völlig ungeniert davon aus, es sei marxistisch, dem Staat die gewaltsame Durchsetzung sozialen Fortschritts zuzutrauen und anzuvertrauen. Es fällt genauso schwer, dafür Belegstellen bei Marx zu finden wie bei Jesus die Aufforderung, Andersgläubige per Schwert zur Übernahme des Christentums zu zwingen. Die UdSSR ist untergegangen, die VR China hat sich evolutionär gewandelt, aber in der westlichen Welt, die sich einst als der Gegenpol zum (Staats-) Kommunismus sah, etablierte sich eine Form der Staatsgewalt, die sich anmaßt, alle Lebensbereiche zu beherrschen – eine Anmaßung, die teils noch über das hinausgeht, was im (Staats-) Kommunismus vor sich ging.
Drittens: Die Herrschenden fühlten sich fortan sicher, denn sie hatten es (wie sie meinten) verstanden, jede Kritik dadurch zu vereinnahmen, indem sie die Kritiker an der Herrschaft beteiligten und ihnen versprachen, dass ihre Ideen und Ziele mithilfe der Staatsgewalt besser und schnell durchzusetzen seien als mit freiwilliger Kooperation. Doch diese Strategie der Vereinnahmung von Kritik fordert auch einen hohen Preis. Die „Rückkehr des intervenierenden Staats“, wie Amlinger und Nachtwey ganz richtig diagnostizieren, führt nicht nur zu einer Strangulierung der Freiheit des Individuums und der freiwilligen Gemeinschaft, sondern auch – über die Diagnose der Autoren hinausgehend – zu gravierenden sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Problemen, wie sie von allen Systemen zu erwarten sind, die auf zentraler bürokratischer und technokratischer Planung basieren. In dieser Situation entstand die neue, die dritte Kränkung der Herrschaft: die libertäre Revolte gegen den modernen Staat. Über einige Jahrzehnte versuchte die intellektuelle Garde der Herrschenden, die Herausforderung durch die Libertären mehr oder weniger wegzuignorieren. Das Buch von Amlinger und Nachtwey beweist, dass es mit Ignorieren nicht mehr getan ist. Wenn sich der Ansatz der Autoren im Umgang mit libertärem Gedankengut durchsetzt, werden wir damit konfrontiert sein, dass man uns psychologisiert, anstatt mit uns zu diskutieren. Die Diskursverweigerung, die sich in dem Buch ausdrückt, ist gemeint als Demütigung: Ihr seid es nicht wert, dass wir uns mit euren Argumenten auseinandersetzen. Wenn der libertäre Protest in den nächsten Jahren zusammenbrechen sollte, behalten die Autoren recht. Aber es wird anders kommen: Der Protest wird schärfer werden. Und dann haben die Diskursverweigerer schlechte Karten. Sie wissen nämlich nicht, was die Grundlagen des libertären Denkens sind. Sie stehen vor ihm wie der Ochs vorm neuen Tor. Was geschieht, können sie nicht mehr verstehen, geschweige denn aufhalten.
Nicht „das Individuum“, dem Amlinger und Nachtwey unterstellen, autoritär zu sein, ist gekränkt durch minimale Freiheitseinschränkungen. Es verhält sich genau umgekehrt: Die Politik, die das Leben der Menschen mit Gewalt überzieht, ist gekränkt angesichts von Kritik, die erst von einer Minderheit geäußert wird. Der Keim der Kritik drückt wie die sprichwörtliche Erbse. Lassen wir es viele und große Erbsen sprießen, sodass die Herrschenden es sich nicht mehr so gemütlich machen können.
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