22. August 2025 06:00

Sexualität und Freiheit – Teil 2 Make Love, Not War?

Die Illusion der Flower-Power

von Stefan Blankertz drucken

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Bildquelle: Nejron Photo / Shutterstock Lebensgefühl der Hippie-Zeit der 60er: Make love – not war

„Sexuelle Revolution“ und „sexuelle Befreiung“ waren Parolen der 1960er Jahre. Wer auch immer die Nase rümpft über die Irrungen und Wirrungen der hierzulande sogenannten 1968er-Generation (in den USA lag der Höhepunkt der Bewegung deutlich früher), sollte sich fragen: Will er ernsthaft empfehlen, zurückzukehren zur Strafbarkeit von Homosexualität, zur Unmöglichkeit von in „wilder Ehe“ lebenden Paaren, eine Wohnung zu mieten, zum Recht der Ehemänner, jedes beliebige Arbeitsverhältnis ihrer Frauen ohne Rücksprache und ohne Einverständnis zu lösen, zum Verbot der Ehescheidung oder zur Ehescheidung nur nach staatlich geregeltem Schuldprinzip, zur gesetzlichen Fiktion, dass es in der Ehe keine Vergewaltigung geben kann, und dergleichen mehr? Es geht hier nicht um Fragen der persönlichen Lebensführung oder Moral, sondern um gesetzliche Regelungen. Besonders diejenigen, die vor dem Einfluss des Islam und der Scharia warnen, brauchen in unserer eigenen Geschichte nicht sehr weit zurückzugehen, um ganz ähnlich brutale Vermischungen religiösen Wahns mit staatlichen Gesetzen anzutreffen. Die Veränderung der öffentlichen Moral und der Gesetzgebung hin zu einem Gewinn an persönlicher Freiheit hat sich in der sogenannten westlichen Welt auf eine verblüffend rasante Weise vollzogen, teilweise innerhalb von einer Generation. Und wenn Sexualität keine Neben-, sondern eine biologische und gesellschaftliche Hauptsache ist, dann bedeutet das, dass es ohne sexuelle Freiheit gar keine Freiheit geben kann. Dieses Thema wird uns über diese ganze Serie begleiten.

Eine weitere, bis heute bekannte Parole der 1960er Jahre macht deutlich, dass es bei der Frage der sexuellen Befreiung nicht nur um einen Zugewinn an persönlichem Spielraum der Lebensgestaltung geht: „Make Love, Not War.“ Dem flapsigen Slogan liegen zwei ernsthafte Überlegungen zugrunde.

Erste Überlegung: Zur Herausbildung sowohl des fanatischen Kämpfers für eine Sache, für eine religiöse oder sonstige weltanschauliche Idee als auch des gehorsamen und zu jeder Brutalität bereiten Soldaten werden Disziplin und Askese eingesetzt, verstanden als Unterdrückung von vitalen persönlichen und körperlichen Bedürfnissen. Die Rede ist von „Abhärtung“. In der Psychoanalyse nennt man diesen Vorgang „Sublimation“, die Verschiebung von einem tabuisierten primären Bedürfnis hin zu einer sekundären Ersatzhandlung. Die Ausführung der Ersatzhandlung ist die „(repressive) Entsublimierung“. Dagegen fordert „Make Love, Not War“ zu einer nicht-repressiven Entsublimierung auf, nämlich der Rückbesinnung auf das primäre Bedürfnis.

Die Sublimations-These hat eine Menge Empirie hinter sich, ist aber nicht ganz ohne Fehl und Tadel. Wenn wir uns der Antike zuwenden, insbesondere der griechischen Antike, dann haben wir eine Gesellschaft, deren sexuelle Freizügigkeit in mancherlei Hinsicht immer noch weit über das gegenwärtig akzeptable Maß hinausgeht, aber dennoch bereit war, jederzeit in den Krieg zu ziehen. Ähnliches gilt für manche asiatischen („morgenländischen“) Kulturen, in denen sexuelle Freizügigkeit mit Despotie und Kriegführung umstandslos vereinbar waren. Hier stellt sich die Frage, ob ein rein quantitatives Maß an sexueller Freizügigkeit das hinreichende Kriterium dafür ist, um repressive Sublimation auszuschließen. Dieser Frage gehe ich dann im Rahmen der zweiten Überlegung nach.

Die zweite ernsthafte Überlegung, die dem Slogan „Make Love, Not War“ zugrunde liegt: Glückliche Menschen nehmen ihr Leben und die Erhaltung der guten Bedingungen ihres Lebens wichtiger als die stoische Bereitschaft, sich und ihre Angehörigen für angeblich „höhere Werte“ oder „Ideale“ wie die Ehre und den Ruhm des Vaterlandes aufzuopfern. Auch diese Überlegung ist gut nachvollziehbar. Aber wenn wir für „Love“ in dem Slogan erstens einzig körperliche Liebe und zweitens reine Quantität annehmen, spricht gegen die These die reichlich belegte Tatsache, dass in der herrschenden Clique oft selbst dann dekadente Orgien stattfinden, wenn sie sich hinter einer asketischen Fassade versteckt.

Um die Überlegung zu retten, bedarf es einer gegenüber reinen Quantität verfeinerten Definition dessen, was mit „Make Love“ gemeint sein könnte. Hier hilft der zum Teil verfemte, zum Teil leider vergessene Psychoanalytiker Wilhelm Reich weiter, der sagte, es gehe eben nicht (nur) um die Quantität der Sexualität, vielmehr komme es auch (und vor allem) auf deren Qualität an. Man braucht da nicht einmal die wissenschaftliche und ärztliche Empirie zu bemühen, sondern kann es meist aus eigener Erfahrung bestätigen: Schlechter Sex ist schlecht, frustriert und macht aggressiv. Die dekadente Sexualität der Herrschenden trägt genauso wie die den Untertanen aufgenötigte Askese zur Herausbildung des männlich-brutalen Charakters bei.

Das ist freilich leider noch nicht die ganze Antwort. Der amerikanische Anarchist und Fortentwickler der Ansätze Wilhelm Reichs hin zur Gestalttherapie, Paul Goodman, merkte bereits in den 1950er Jahren an, dass das Versprechen der Psychoanalyse, mit der sexuellen Befreiung würde die soziale Befreiung einhergehen, nicht eingetreten sei. Anstelle dessen sei das sexuelle Erleben verflacht, während die Gesellschaft sich weiter in der Abhängigkeit von staatlichen Bürokratien befinde, ja diese Abhängigkeit immer noch zunehme. Und dies sagte Goodman bereits vor der generellen Verfügbarkeit von Pornographie im Internet und dem Überhandnehmen von Dating-Plattformen sowie dem sich ankündigenden Siegeszug von Cybersex.

Von Goodman und seiner Gestalttherapie her wäre der gängigen Erklärung, für die Verflachung der Sexualität sei die Pornographie im Allgemeinen und deren allgegenwärtige mediale Verfügbarkeit ursächlich, zu widersprechen: Es ist genau umgekehrt. Weil der Befreiung der Sexualität keine allgemeine gesellschaftliche Befreiung entspricht, wird das unbefriedigende, nicht selbstbestimmte Leben in unbefriedigender Sexualität sublimiert. Damit kehrt er allerdings auch die Ausgangshypothese von Wilhelm Reich um: Nicht die unterdrückte Sexualität muss als Ursache für die gesellschaftliche Unterdrückung namhaft gemacht werden, vielmehr führt die fehlende gesellschaftliche Selbstbestimmung zu einer unterdrückten oder sonst wie pervertierten Form der Sexualität. In seinen späten Jahren hat Wilhelm Reich dies begonnen zu realisieren, leider waren diese Jahre überschattet von staatlicher Verfolgung durch Stalinisten in der Food und Drug Administration (FDA) und in Reaktion darauf dem Ausbruch von Paranoia und Schizophrenie bei Reich. Wie so oft bei dem nahen Beieinanderliegen von Genie und Wahnsinn bleibt es auch bei Reich schwer, beides auseinanderzuhalten. Statt einer kritischen Auseinandersetzung mit den wertvollen Anteilen in seiner Theorie wird er heute fast vollständig ignoriert.

Von unserem schlichten und schönen Slogan „Make Love, Not War“ bleibt also nicht mehr viel übrig. Um „Liebe zu machen“, nicht im Sinne von rein quantitativem und womöglich gar dekadentem Sex, sondern im Sinne einer wirklich liebevollen Vereinigung, bedarf es einer Voraussetzung, nämlich der Freiheit: Man kann die Gesellschaft nicht durch „Liebemachen“ hin zum Besseren verändern, jedenfalls nicht nur durch diese Tätigkeit. Es bedarf eines umfassenderen Konzepts einer selbstbestimmten und freien Gesellschaft. Die sexuelle Frage erledigt sich dann sozusagen nebenbei von selber, denn einen Begriff eines selbstbestimmten Lebens, ohne dass die Sexualität Teil der Selbstbestimmung ist, kann es nicht geben.


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